Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Elftes Kapitel

Das Gastmahl des Physikus. Ein Kapitel, das klügere Leser überschlagen werden, denn es bringt zwei Philosophen in ernsthafte Gespräche und ist auch sonst überflüssig.

»Um eine Minute Aufschub muß ich Sie bitten«, sagte Hartmut zu dem Physikus, als ob die beiden sich eben selbander auf den Weg machen wollten, »ich habe drüben in jener Weinschenke noch eine kleine Zahlung zu erledigen, die ich ungern länger anstehen lassen möchte; denn ich wünsche das Haus später nicht mehr zu betreten.«

»Verfahren Sie ganz nach Ihrem Belieben«, erwiderte der Arzt, »obgleich ich diesen letzten Wunsch nicht recht begreife – es müßte sich denn um den eigentümlichen Zusammenhang des Hauses mit den Gartenwohungen am Strome handeln. Doch ich will lieber eine Stunde warten, ehe ich mir das Vergnügen Ihres Besuches entgehen ließe.«

Hartmut verbeugte sich dankend und betrat die einsame Halle. Er sah sich vergebens nach einer Dienerschaft um; so schritt er auf seine Nische zu, um das Geld dort niederzulegen.

Er entdeckte das schlummernde Mädchen. Das zarte Köpfchen ruhte zurückgelehnt auf dem Arm, der sich gegen die Wand stützte; die feinen Linien des Halses traten reizender hervor; die Wangen aber umhauchte im Schlaf ein tiefes, etwas unruhiges Rot.

Da überlief es ihn heiß mit einem Gefühl der Wonne zugleich und eines seltsamen Zornes. ›Wenn ich diesen Menschen, der ihr Bräutigam heißt, zum Zweikampf herausforderte?‹ dachte er, ›das wäre eine Tat; eine Tat, mir Achtung zu erringen vor mir selber und vor anderen; eine Tat, meine Schwester zu rächen und dich, du Liebliche, zu befreien –

267 Ein Schreck zerriß seine dreisten Gedanken. ›Was gibt mir das Recht‹, fuhr er in sich fort, ›auch nur ahnen zu wollen, ihr könnte solche Befreiung willkommen sein? Hat sie mir nicht selbst gesagt, daß sie ihm herzlich ergeben sei? Wie könnte ich Wahnsinniger daran zu zweifeln wagen? Und selbst wenn es anders wäre, wenn der wilden Ahnung, die mich in diesem Augenblick mit so fremdartiger Süße durchschauert, ein Hauch von Wahrheit innewohnte, o dann nur um so schlimmer! Wie dürfte ich frevelhaft den Frieden der reinen Seele zu zerreißen, zu beunruhigen trachten! Nein, jetzt erst ist es ganz meine Pflicht geworden, ihren Anblick für immer zu fliehen, einzig durch ferne Taten ihr zu zeigen, daß ein neuer Geist über mich gekommen ist, daß ich der Armselige nicht bleiben will, über den hier ihre milden Augen hinsahen. Ja, meiden will ich dich fortan aus allen Kräften, jeder Versuchung auszuweichen, hier sogleich will ich wortlos meinen allerletzten Abschied von dir nehmen –

Tränen drangen in seine Augen, und als gerade jetzt, wie ihm schien, ein zärtliches Traumlächeln leise um ihre Lippen spielte, da packte ihn eine trotzige Sehnsucht so jäh wie erst ein Zorn, und kaum vermochte er einen vernehmbaren Ausruf seines zitternden Verlangens zurückzudrängen. Aber doch hauchten seine Lippen halb hörbar den neuen Entschluß: »Ja, das darf ich! Versüßen darf ich mir die Grausamkeit der ewigen Trennung! Wenn ich einen genossenen Augenblick namenloser Seligkeit mir hinüberrette in die unendliche Leere eines entsagenden Lebens, wem geschieht ein Unrecht? Ich darf es! Ja! Und ich will es! Und auch das ist eine Tat! So sei es! Meine erste Tat zugleich und mein erstes volles Glück! O ewige Geliebte –«

Und er beugte sich über sie mit ungeheurem Willenszwange, die träumenden Lippen leise zu küssen. Schon spürte er bebend ihren Atem, die zarte Wärme ihrer Wangen, da ging ein Zittern über seinen Leib, Schweiß trat auf seine Stirn, seine frechen Lippen schauderten zurück, und er empfand, daß er einer so gewaltsamen Tathandlung noch nicht gewachsen sei. Er faßte den Entschluß, sich mit einem Kusse auf die Hand oder 268 auf die Spitzen der Fingernägel zu begnügen; doch als er den neuen Angriff unternahm, glitt sein Mund auch an diesem Ziele zagend vorüber und blieb nun endlich mit inbrünstigem Drucke auf der Tischplatte haften.

Nachdem er solcherart seine Tat zum wenigsten sinnbildlich und gleichsam nach ihrem geistigen Kerne vollführt hatte, hob er sich etwas erleichtert auf und zog sich auf den Zehen unter vielen und langen Abschiedsblicken nach der Tür zurück, nicht ohne die geplante Bezahlung seiner Zeche durchaus zu vergessen.

Als er ins Freie hinaustrat, strahlte sein stilles Auge von einem heimlichen Feuer wie das eines Menschen, dem etwas Großes und Gutes gelungen ist. Der Physikus bemerkte es und sagte trocken:

»Das Bezahlen von Rechnungen scheint Ihnen eine seltsame Freude zu bereiten; es gibt nicht viele Menschen, die dasselbe mit Aufrichtigkeit von sich auszusagen vermögen.«

Hartmut erschrak und errötete; doch beschloß er, die wirkliche Erledigung seiner Schuld vorerst wieder zu verschieben; denn er hätte sich eher zum zweiten Male in die Höhle einer schlafenden Bärin gewagt als unter jene Wölbung, die so Köstliches barg. So folgte er schweigend seinem gastfreundlichen Führer.

Das Haus des Physikus lag in geringer Entfernung gleichfalls noch an dem langen Marktplatz des Städtchens.

Der Eingang schien nichts Besonderes zu bieten; ein finsterer Hausflur und eine finstere Treppe; doch sobald der Hausherr geöffnet und den Gast in ein hinteres Zimmer geführt hatte, fand dieser Gelegenheit, zu erstaunen. Die Ausstattung des Gemaches war völlig verschieden von allem, was er hierorts oder anderswo je gesehen hatte. Zuvörderst fiel ihm ins Auge, daß die Wände hier weder geweißt noch austapeziert, sondern von oben bis unten mit großen, fremdartigen Teppichen überdeckt waren, deren glühende Farbenmassen sich im ganzen zu einer seltsam wohltuenden Einheit ordneten. Nicht minder war der ganze Fußboden mit einer einzigen feinen Decke belegt, deren einfarbig blauer Grund nur an den 269 Rändern von buntverzierten Streifen umfaßt war, so daß man über die Mitte wie über ein stilles Wasser und auch fast so weich und lautlos zu schreiten schien. Selbst der Tisch, von wunderlich geschweifter Gestalt, war ganz bis zur Erde verhüllt nicht mit einem weißen, sondern einem leuchtend farbigen Tuche. Die Speisegeräte, die auf ihm verteilt waren, zeigten sehr mannigfaltige, heitere und oft abenteuerliche Formen. An einige der Wandteppiche aber waren angeklebt oder angeheftet ohne anderen Rahmen, so daß sie wie eingewebt erschienen, anmutige Ölgemälde im Geschmacke eines Watteau oder Lancret, ja, nach der Feinheit der Ausführung vielleicht diesen Meistern selber zuzuschreiben; darstellend zumeist Freudenspiele oder scherzhafte Aufzüge einer schäferlich hergestutzten Schloßgesellschaft in lichtgetränkten Landschaften, alles blühend von Heiterkeit und hinquellendem Leichtsinn.

Mitten aus all der üppigen gemalten und gewebten Herrlichkeit stach in ganz verwunderlicher Art ein Bildchen hervor, sowohl durch die grausame Dürftigkeit der Kunst als auch besonders durch den Gegenstand, der nichts anderes war als die Einzelgestalt eines ebenso rätselhaften als scheußlichen Tiergeschöpfes, das von jeglichem Ungeheuer zwischen dem Gnu und der Meerkatze etwas an sich zu haben schien, nach den Grundzügen seines Gebildes aber doch immer wieder am meisten gerade an die Edelgestalt des Rosses erinnerte. Und in der Tat entdeckte der verwirrte Beschauer zuletzt eine Unterschrift, die schlicht genug lautete: »Das fehlerhafte Pferd«.

Er fand jedoch keine Zeit, nach einer weiteren Erklärung zu fragen; denn der Physikus hatte inzwischen an einem reichgestickten Klingelzuge geläutet, und eben trat ein Mädchen mit der Suppenschüssel herein. Dasselbe war, wie Hartmut mit einem flüchtigen Blicke bemerkte, bildhübsch, und zwar von einer fremden, schwarzäugigen Schönheit, deren besonderer Reiz durch die Buntheit einer flotten Kleidung von polnischem Schnitte noch gehoben wurde. Sie grüßte etwas keck, doch nicht unschicklich, und verschwand, ohne etwas zu sprechen.

»Kommen wir also zur Sache!« rief lächelnd der Wirt, 270 indem er Hartmut einen weichgepolsterten Sessel anbot und selbst behaglich in ebensolchen versank. »Ich hoffe, unsere Taubenbrühe wird der schönen Marianka Ehre machen und vielleicht die Wirkung haben, unseren Tischgesprächen die wünschenswerte Sanftmut zu verleihen. Damit es Ihnen jedoch auch an Feuer nicht mangle, empfehle ich diesen recht gut ausgefallenen Madeira zur Einleitung. – Sie wundern sich, mein Herr«, fügte er lächelnd hinzu, »zu den Zeiten der Kontinentalsperre dies edle überseeische Getränk in meinem bürgerlichen Hause zu finden? Ist's auch keine englische Ware, so pflegt sie doch auf englischen Schiffen ins Land zu kommen. Nun ja, wie es Menschen gibt, deren ausschließlicher Lebenszweck es ist, sich für höher Begabte totschlagen zu lassen – ich denke an Napoleons Soldaten – so gibt es auch Gesetze, deren schönster Zweck es ist, übertreten zu werden. Soll man umsonst so nahe der Küste wohnen? Oder glauben Sie, der liebe Herrgott habe die herrliche Wüste unserer Nehrung ganz zwecklos erschaffen? Wollen Sie gefälligst beachten, ein wie völlig neues Vertrauen ich Ihnen, einem ganz fremden Manne, schenke, einzig aus physiognomischen Gründen und in der Hoffnung, mir dadurch auch Ihrerseits ein gewisses Vertrauen zu erwerben, das Sie zweifelsohne meiner Physiognomie als solcher nicht schenken würden. Wie ich schon der Demoiselle Schwester andeutete, sehen Sie in mir einen der erfolgreichsten Großschmuggler dieser Gegend.«

»In der Tat . . .?« stotterte Hartmut mit erstaunter und verlegener Miene.

»Nur auf lebensgefährliche Geschäfte lasse ich mich grundsätzlich niemals ein«, fuhr der Physikus gleichmütig fort. »Ich kenne einen Narren hierorts, der hinwiederum lediglich solche, nämlich geheime Waffeneinfuhr betreibt, und zwar ohne jeglichen Gewinn, vielmehr mit eigenen schweren Unkosten; aber der ist eben ein Narr und patriotischer Blechtrompeter. Ich hingegen denke: das Hemd ist mir näher als der Rock, und sorge als gewissenhafter Hausvater für mich und die Meinigen.«

271 »Sie haben Angehörige?« fragte Hartmut, mehr um abzulenken von so bedenklichen Geständnissen.

»Nicht im eigentlichen Sinne«, erklärte der Physikus, »allein Sie sahen schon die hübsche Marianka und werden noch zwei andere junge Polinnen sehen. Alle drei, deren Schönheit ich zufällig in ihrer Heimat entdeckt habe, wohnen in meinem Hause; ihr Zweck ist einzig, sich betrachten zu lassen und meinem Schönheitssinne zu genügen. – Wirklich, Herr Doktor, es ist ihr einziger Zweck«, setzte er grinsend hinzu, »denn im übrigen kann ich mich in meinen Jahren mit Sophokles freuen, dem Eros als einem grausamen Tyrannen entronnen zu sein.«

Hartmut errötete und murmelte einige unverständliche Worte.

»Aber natürlich«, fuhr der Hausherr fort, »für einen so beschwerlichen und verantwortungsvollen Dienst verlangen die guten Kinder zuweilen ein wenig Schmuck und Kleider und dergleichen; meine gesetzlichen Einkünfte aber verbrauche ich bis auf den letzten Groschen für meine eigene Person, denn warum soll ich leben wie ein Hund oder ein philosophischer Rittmeister? Außerdem war bei der unangenehmen Nähe meines Ablebens für einige Erbschaften zu sorgen – wenn Sie Lust haben, zu heiraten, mein Herr, empfehle ich Ihnen die Auswahl; auf mein Wort, Sie machen keine schlechte Partie und erhalten die ganze Mitgift bar und ohne Vorbehalt; daß Sie freilich mit der Hochzeit bis nach meinem Tode warten müssen, hat nichts zu bedeuten, denn das wird kaum länger dauern, als bis alle Papiere beschafft sind. Ich kann also nur raten: greifen Sie zu. Die einzige Schwierigkeit dürfte die Wahl zwischen den drei Perlen sein.«

Hartmuts Verlegenheit wuchs. Der gleichmütige Plauderer erschien ihm mehr und mehr schon unheimlich.

»In der Tat«, bemerkte er ausweichend, »ist die Kontinentalsperre eine immerhin ungerechte Schädigung dieser Länder, ohne daß sie doch nach Napoleons Plan die Engländer vernichtend träfe.«

»Er wird sie vernichtend treffen«, sagte der Physikus ruhig, 272 »wenn er über Moskau hinaus nach Indien gedrungen sein wird.«

»Wie? Sie glauben wirklich«, rief Hartmut lebhaft, »daß Napoleon sich mit so unerhörten Plänen trägt?«

»Ich sehe wenigstens keinen Grund«, versetzte der Physikus, »warum er sich einen so glänzenden Spaß versagen sollte.«

»Ein gewaltiger Gedanke und eines Halbgottes würdig wäre es freilich«, sprach Hartmut mit stiller Begeisterung, »nach dem Siege, in machtvoll segensreichem Friedenswirken Orient und Okzident zu nie geahnter Harmonie zu vermählen, ein Kulturzweck von hinreißend schöner Erhabenheit –«

»Für einen Philosophen gewiß«, lächelte der Physikus, »aber nicht für einen Napoleon. Der Mann ist zu groß für solche Träume. Er ist zu groß, sein Spielzeug ernst zu nehmen.«

»Er ist nicht klein genug, mit ernsten Dingen zu spielen«, warf Hartmut kräftig ein.

»Ernste Dinge?« fragte der Arzt gelassen dagegen, »gibt es auch ernste Dinge für einen Menschen, der über den Dingen steht? Freilich, die Leutchen, die hilflos mitten im Wirbel der Dinge umhertreiben, die nehmen sich selbst und die Welt gar blutig ernst, wie die Tauben es blutig ernst nehmen, und mit einigem Recht von ihrem Standpunkt, wenn sie hin und her gejagt und gelegentlich zerrissen werden; aber dieselbe Jagd ist dem Edelfalken, der über ihnen schwebt, ein heiter rauschendes Spiel, durch den scharfen Reiz der Fraßbegierde nur ein wenig prickelnder gewürzt. Napoleon will sich unterhalten – das ist sein Kulturzweck. Sein Riesengeist sucht nach Beschäftigung, wie wir alle auch, die wir den Geist schon genugsam aus der Tierheit befreit haben, um Langeweile empfinden zu können. Nun, wer sich langweilt, der tötet die Zeit durch Spielen: dieser spielt Würfel, jener Schach, der eine Ball, der andere Kegel, einige Kunst, andere Wissenschaft, kluge Priester Religion und kluge Staatsmänner Vaterland: Napoleon aber ist für all die einzelnen Spiele zu groß, er muß sie alle auf einmal haben. Die Weltkugel ist sein Ball, die Kriegsheere der Menschheit seine Schachfiguren, Könige 273 die Kegel, die er umschmeißt und wieder aufstellt und wieder umschmeißt je nach dem Zufall und der Sicherheit seiner Hand; er ist der Edelfalke, der heiter in Lüften mit der kläglichen Taubenschar der Fürsten und Völker Hetzjagd spielt, zwecklos und selbstvergnügt; denn Götter, Künstler und wahre Herrscher kennen keinen Zweck. Das muß wahrlich ein Spiel sein voll Reiz und Frische! Allein es ist wahr, jedes Spiel ersättigt allmählich, auch das reichste und feinst erdachte, und den feurigen Spieler drängt es vorwärts zu neuen Vergnügungen, immer wilderen, immer kühner erdachten, mit innerer Notwendigkeit. Sehen Sie, und darum mußte Napoleon die große Wolfsjagd auf der russischen Steppe veranstalten und die Völker Europas zu Gaste laden, und darum muß er auch, wenn dies Wild ihm matt und klein geworden ist, weiter hinaus auf die Tigerjagd und Elefantentreiben nach Indien ziehen; er muß, ob er will oder nicht, denn es ist unmöglich, daß ein Geist wie der seine die Langeweile ertrage.«

Hartmut sah den Redner und seine heitere Miene halb erschrocken und halb doch bewundernd an.

»Das ist eine seltsame und furchtbare Ansicht von dem Charakter des gewaltigen Mannes«, sagte er bedenklich, »doch ich bekenne, daß auch mir nicht selten Zweifel aufgestiegen sind, ob wirklich tiefbewußte heilige Zwecke sein Handeln leiten, ob nicht vielleicht jener grenzenlose Egoismus die wahre, die tiefste, wenn nicht die einzige Quelle seiner Taten sei. Zumal seit ich auf preußischem Boden weile, habe ich manches gelernt, was mein früheres Vertrauen ins Wanken zu bringen geeignet war: ich sah hier den einigen, stummen, tiefgesammelten Haß eines ganzen Volkes, etwas, das mir nie bisher vor Augen getreten war, und ich sah diesen einigen Haß sich richten gegen den einen Mann: ein so gehaßter Mensch aber, sagte ich mir, kann kein Gott sein, wie ich gewähnt hatte. Denn diese selben Leute, die so hassen können, wissen auch zu lieben, still und mächtig, und sie hegen ihre eigenen festen Gedanken, still, groß und stolz, auch hart und starr, aber darum nicht minder wertvoll, Gedanken von eiserner Pflicht und von einem alles fordernden Vaterlande: und 274 wo solche Menschen einig sind in Haß, da fühle ich einen Grund, dem Verhaßten zu mißtrauen.

Das sind die Zweifel an der reinen Größe des Kaisers, die mir gekommen sind und allererst hier gekommen sind. Immer jedoch bleibt mir diese Beruhigung: wenn er auch selbst nichts wissen sollte von Zwecken und heiligem Wollen, so sind die Zwecke doch da, geboren aus dem Schoße des dunkel schaffenden Weltgeistes, und werden einst als lebendige und angeschaute Wirklichkeit der Menschheit vors Auge treten – vielleicht noch ihm selber zu eigenem Staunen, der sie zur Vollendung bringen mußte als trotziges, hilfloses Werkzeug einer höheren Gewalt.«

Der Physikus grinste sonderbar und spielte mit seinen feinen Fingerspitzen, wohl der einzigen Schönheit, die er aufzuweisen hatte. Inzwischen war die zweite Schüssel, ein stattlicher Fisch, hereingetragen, und zwar von einem anderen Mädchen, dem ersten nur an Tracht und Haarfarbe ähnlich, jedoch nicht minder hübsch. Ja, eine dritte schöne Polin erschien fast gleichzeitig mit ihr, einen Korb mit üppigen, dunkelroten Rosen bringend, die sie mit einem schelmischen, nicht unfeinen, doch auch nicht eben verschämten Lachen breit und reich über den Tisch ausschüttete, daß ein überstarker Duft mit plötzlicher Süße das Zimmer füllte. Das Mädchen entfernte sich, und der Wirt entkorkte eine andere Flasche.

»Rheinwein!« sagte er, »sein Duft paßt am besten zu dieser schönen sündhaften Blume, wie er denn selbst in sich geheime sündenzeugende Kräfte birgt; sein Geschmack aber fügt sich der Zartheit des Fisches am besten. Was diese Maräne betrifft, so kann ich ohne Erröten von ihr rühmen, daß sie mit großen Männern den Vorzug der Seltenheit gemein hat; sie wird nur in wenigen Seen unseres Nordostens, sonst nirgends in Deutschland gefangen. Als ihren Lebenszweck hätte sie zu ihren Lebzeiten wahrscheinlich den angegeben, in den kühlen Wellen zu plätschern und etwa noch in ihren Mußestunden begeistert zu laichen; ich aber sage: sie erfüllt zugleich unwissend und hilflos den höhern Zweck, zu meinem als des feiner begabten Geschöpfes Vergnügen zu wirken. Ganz wie der große 275 Napoleon, dessen höherer und Hauptzweck in meinen Augen unzweifelhaft der ist, zu meiner Unterhaltung zu dienen. Und ich muß sagen, er erfüllt diese Aufgabe musterhaft. Wieviel müßige Stunden hat er mir seit zwanzig Jahren ausgefüllt – und das ist ein Geschenk, das man nicht leicht zu hoch schätzen kann; unser größter Wohltäter ist, wer uns die Langeweile nimmt. Und er vertreibt die Stunden nicht bloß wie ein lockeres Märchen, hinterm Ofen erzählt, oder wie ein Abenteuer des Ariost, den ich doch liebe, sondern er füllt sie mit Inhalt, mit glühendem Leben; seine Taten regen mich auf, entzücken, begeistern mich wie kein Gedicht der Welt, denn es gibt kein Gedicht, das gleiche Taten meldet. Was ist dagegen das planlose und gebundene Geprügel homerischer Häuptlinge, was die kindliche Schlauheit des wirr umherschaukelnden, ewig schiffbrüchigen Odysseus? Oder gar das dumpfe Schlachten und Sichschlachtenlassen der schwer hinwandelnden Nibelungenrecken? Oder wollen Sie den Abgott dieses preußischen Volkes selbst vergleichen? Aber wie arm, wie glanzlos, wie hausbacken sind Friedrichs Großtaten, wie schleppen sie sich, wie oft gelähmt, und in wie engem Kreise drehen sie sich herum! Kein Korsika, kein Ägypten, kein Rußland, kein Spanien, kein Aufstieg vom Leutnant zum Weltherrscher, kein Auf- und Abwirbeln von Fürstenhäusern, immer nur Preußen und Preußen, immer nur Potsdam und Sanssouci von Anfang bis zu Ende! Und was ich ihm am allermeisten verüble, ist, daß auch er sich diesem stierköpfigen preußischen Pflichtgefühl untertan machte und auch die Jahre, die er genießen konnte, willenlos, danklos verarbeitete – für wen zuletzt? pour le roi de Prusse, könnte man sagen, wenn das Wort nicht in diesem einen Falle so sehr schlecht angebracht wäre. Sein Bild steht neben Napoleons Glanzgestalt wie ein grober Holzschnitt neben einem farbenglühenden Ölgemälde. Seine Geschichte klingt wie ein Lehrgedicht neben den rauschenden Strophen des Napoleonischen Heldengesanges. Wie er nicht recht für sich gelebt hat, so auch nicht recht für mich, für meine hungrige Phantasie, die über Napoleons Riesenwerken schwebt wie der Adler über seiner Beute und immer von neuem 276 gesättigt wird. Friedrich aber hat den besten Teil seines Berufes verfehlt, er hat meine betrachtende Seele selten mit Feuer gefüllt. Was zuletzt ihm fehlte, das war der klare Mut des reinen Egoismus, der mit sich selber einig ist und der allein den ganzen Menschen macht. – Es scheint, verehrter Herr, daß Ihnen meine Philosophie einigen Anlaß zum Verwundern gibt – wie immer das Einfachste und Natürlichste die Menschen am meisten verwirrt. Tut nichts; wenn Ihnen nur meine Maräne geschmeckt und meiner Theorie vom Lebenszweck der Kreaturen Ehre gemacht hat.«

»Ich weiß nun in der Tat nicht«, erwidert Hartmut schüchtern und mit einem verlegenen Lächeln, »wo ich die feste Grenze finden soll zwischen der scherzhaften Schale und dem ernsteren Kern, den der Übermut Ihrer Rede mir dennoch zu enthalten scheint. Wenn ich zunächst den sprudelnden Spaß von dem zweiten Lebenszweck der Heroen ausscheide, von den Maränen freilich denselben um so williger zugebe –«

»Da muß ich sogleich entschieden Einspruch erheben«, fiel der Physikus ein, »eins ist mir so ernst wie das andere. Der Heros ist ein irdisches Geschöpf so gut wie die Maräne und also dem innersten Wesen nach den gleichen Gesetzen und Zwecken unterworfen. Der zweite Zweck eines jeden Geschöpfes ist ewig und unabänderlich der, einem anderen höher organisierten zur Nahrung zu dienen. Von diesem Gesetz ist auch der Heros nicht ausgenommen – weil ich ein höher organisiertes Wesen bin. Denn er ist ein handelnder Mensch, also ein Knecht seines Begehrens, ein ruhelos geplagter Arbeiter, kurz, ein Sklave von Stand, ich aber bin ein betrachtender, genießender Mensch, für dessen Vergnügen er sich mühen muß wie ein genialer Schauspieler für seinen Herrn, das Publikum. Warum sollen wir unter uns nicht aufrichtig sein, verehrter Freund, warum sollen wir auch uns selbst das furchtsam verhehlen, was wir der Menge freilich nicht sagen dürfen, denn sie könnte auf den scheußlichen Gedanken kommen, uns totzuschlagen? Wir aber wissen es, daß wir die höchsten Herren der Erde und der Menschheit sind, wir, die ruhenden Denker, die schauenden Genießer, und nicht die Könige 277 oder gar die anderen armen Kerlchen von Ministern, Marschällen und Räten, die sich für ein paar tausend Taler oder um den niemals löschbaren Durst des Ehrgeizes abschinden und abrackern und zuletzt in aller ihrer Herrlichkeit ewig nur dem allkauenden Rachen der Menge dienen und gar nicht, wie sie wähnen, dem eigenen selbstgenießenden Glücke. Als der Herr aber gilt allerorten der, für den die anderen sich mühen und den sie nähren, entweder seinen Körper oder seinen Geist, oder richtiger beides, denn eines geht nicht wohl an ohne das andere. Freuen wir uns also von Herzen, daß wir die Götter dieser Erde sind, für deren richtende Kenneraugen Könige und Völker ein immer prächtiges Schauspiel geben, für deren heiter gefräßigen Geist sie den ungeheuren Geburtstagskuchen ihrer Weltgeschichte backen! Nur schade, daß ein Gewürzbäcker und Pfefferküchler wie Meister Napoleon nur höchstens alle tausend Jahre einmal seinen Laden für uns auftut. – Inzwischen wäre wenigstens zu wünschen, daß die Küche sich einmal wieder für uns auftäte und uns die gemästete Pute herausgäbe, deren zarten Leib ich ihr anvertraut habe; die Zartheit versuche ich durch Fütterung mit Nußkern zu erzielen, meist nicht ohne einigen Erfolg. Jedenfalls aber gibt uns der Braten den Vorwand, zum Rotwein überzugehen, den ich alles in allem denn doch für die Krone der Weine halte.«

Er schellte, und das erste der Mädchen brachte den braunen, duftenden Putenbraten, zerteilte ihn mit flink arbeitenden Fingern und entfernte sich nach einem kurzen zuwartenden Zögern. Indessen beide Tischgenossen zugriffen, plauderte der Hausherr, den dunkelroten Wein einschenkend, weiter:

»Gerade der Bordeaux ist der wahre Wein der Beschaulichkeit, der überschwebenden Betrachtung. Er hat nichts Prickelndes, nichts Hitziges, nichts Aufregendes, nichts Verführendes, nichts Gewaltsames, er ist klar, ruhig, mild, gemäßigt, rein und reif – man könnte sich wundern, daß er gerade auf dem Boden und unter den Händen der geborenen Sprudelköpfe, der Franzosen, gedeiht: allein der Wein hat eben das mit den wahrhaft großen Geistern gemein, daß er kein Vaterland kennt. Warum ist Napoleon groß? Weil er ein Korse 278 ist und kein Franzose, weil er kein Vaterland hat, weil ihm die Ruhe des reinen Egoismus nicht gestört wird, auch nicht durch die letzte Schanze des Selbstbetruges, den patriotischen Aberglauben. Warum ist Goethe groß? Weil er kein Vaterland hat. Freuen wir uns also, Herr Doktor, daß auch wir beide, Sie und ich, kein Vaterland haben, dessen Nimbus die reine Weite unserer Gedanken trüben könnte.«

»Nein«, sagte Hartmut langsam und nachdenklich, »ich habe kein Vaterland. Denn Frankfurt ist kein Vaterland, und ein Deutschland gibt es nicht, hat es vielleicht auch nie gegeben; was man einst so nannte, war doch zuletzt nicht mehr als heute der Rheinbund ist, ein Ring von Fürsten, den in guten Tagen die Furcht vor einem Oberhaupte zusammenhielt; und der Rheinbund, wahrlich, ist kein Vaterland. Und es gab eine nahe Zeit, da ich es wie Sie für eine Begünstigung hielt, nicht durch den rohen Zufall der Geburt in meinem politischen, historischen Denken gebunden zu sein, da ich darin eine Befreiung erblickte von einem der stärksten Vorurteile der Menschheit, eine Aufschließung des Auges für größere Ideen. Und ich sah statt der Enge des Vaterlandes eine große Gemeinschaft aller Menschen, ein großes allgemeines Reich ewigen Friedens, ruhiger Freiheit über die ganze Erde, ein Reich freundlichen Gesetzes und langsam gelöster Strenge, ein Reich, in dem die Starrheit des grimmig unbeugsamen Pflichtgebots einen heiligen Bund schließen sollte mit der innerlich schönen Natur des befreiten, gereinigten, nur noch edel empfindenden Menschen. Und ich träumte mir in Napoleon den Mann, der berufen sein könnte, ein solches Reich, wenn nicht zu begründen, so doch vorzubereiten, ihn, den Helden ohne Fesseln, den Kaiser ohne Vaterland.

So dachte ich vor wenigen Tagen noch. Und nun kam ich hierher zu einem kleinen Volke, das ich sonst nur gering geachtet, einem Volke, dem die karge Natur fast alles versagte, was sich zu lieben lohnt, dem nichts zuteil ward von den Gaben des Glückes, der Schönheit, des Reichtums, der fröhlichen Künste, des Weins, der Blumen und der Lieder; nicht einmal der Freiheit, nicht einmal einer prunkenden Macht – nein, 279 ein zerschlagenes, verstümmeltes, beschämtes und vor sich selbst gedemütigtes Volk: und in eben diesem Volke fand ich die geheimnisvolle Liebe, den schwärmerischen Glauben an die unsichtbare Herrlichkeit des eigenen Vaterlandes zehnmal stärker als in irgendeinem unserer gottgesegneten westlichen Gauen. Wie eine Mutter ihr verkrüppeltes Kind am meisten liebt, so mußte ich da denken.«

»Und da ist Ihnen endlich die ganze Torheit klargeworden«, sagte der Physikus, »ein Ding zu lieben, das des Liebens nicht wert ist, weil es nicht schön ist, ein Ding, das kein Ding ist, sondern ein gestaltloses Nichts, ein graues Gedankengespinst, ein seelenloser Auszug aus dem bunten Gewimmel lebendiger Seelen und Leiber, die ein kluges Auge lieben kann – und Sie lachen über die, die ihr freies Ich und sein königliches Recht einem schattenhaften Traumwesen unterwarfen, das zuletzt keinen edleren Grund hat als das trübe Herdengefühl der Büffel und der Schafe, das nur ein wenig verfeinert ward durch die verständnisvolle Stallfütterung erwachter und doch noch tief gebundener Geister.«

»Nein«, entgegnete Hartmut still, »aber vielleicht erkannte ich, daß auf der feinsten Waage gewogen alle Liebe wie aller Glaube den gleichen Wert hat, mag nun ihr Gegenstand ein lebendiger Gott oder ein Mensch oder ein selbstgestaltetes Traumgebilde oder ein von Lebensranken abgelöstes Denkgewebe sein; Liebe und Glaube tragen ihre Wahrheit, ihre Schönheit in sich selbst. Denn so lernte ich auch hier eine Treue kennen, nicht minder stark und nicht minder zäh, die einem noch graueren, noch scheinloseren Worte, einem anmutlos unfreundlichen Begriffe galt –«

Hier ließ der Physikus plötzlich ein spöttisches Kichern vernehmen, und seine häßlichen Züge vollführten die wunderbarsten Muskelspiele.

»Ich sehe den Geist des blechernen Rittmeisters aus der Versenkung steigen«, rief er lachend, »seine dicke Faust schwenkt ein riesiges Banner, darauf in Flammenzügen das eherne Wort: Pflicht, zu deutsch: kategorischer Imperativ, geschrieben steht. Doch gedulden Sie sich ein ganz klein wenig, 280 mein werter Herr Philosoph, und fassen Sie diesen geharnischten Recken genauer und ohne bunte Brille ins Auge: Sie werden bald merken, es ist keine Ritterrüstung und keine Generalsuniform, was er trägt, sondern die schlichte Livree eines geistigen Subalternbeamten. Jawohl, das ist's, er gehört zu den traurigen Kerlen, denen der liebe Gott in einer schwachen Stunde eine Notanstellung als Untergärtner gegeben hat und die nun Tag für Tag in seinem grünen Garten mit ihrem moralischen Wirtschaftsbuche herumlaufen und die Bäume nach ihrem Obstertrage abtaxieren und registrieren. Für so einen Burschen gilt dann natürlich ein kriechender Zwergobstbaum zehnmal höher als eine Eiche, weil er ihm eßbare Früchte trägt, und ein Napoleon ist ihm kein besserer Baum als irgendein kreuzbraver Korporal, der seine Pflicht tut um Gottes willen, oder als eine sittsame Predigersfrau, die nie um Haaresbreite vom Pfade der Tugend abwich – im Gegenteil, hundertmal schlimmer. Den Teufel auch! Ja, seine Früchte sind nicht schmackhaft für die armen Schelme, das ist wahr, vielmehr fallen sie ihnen auf die Köpfe und schlagen sie tot zu Tausenden und aber Tausenden, und seine Wurzeln ersticken unzählbaren anderen Pflanzenwuchs rundum: das ist alles wahr: aber dadurch eben zeigt er ja, daß er, der eine, etwas Besseres ist als alle die krabbelnden Hunderttausende zusammengenommen. Warum bringen denn sonst all diese Millionen, die ihn hassen wie den Tod, es doch nicht fertig, sich seiner zu entledigen? Schlagt ihn doch tot, wenn ihr könnt, ihr Schreihälse! Aber der Mann ist euch zu groß. – Sie aber glotzen und taxieren und rechnen weiter. Dahingegen meine ich: ein Wesen, das ich Gott nennen könnte, müßte vielmehr einem gewaltigen Großherrn gleichen, der in seinem unerschöpflichen Reichtum nicht nach der Summe der Erträgnisse in seinem Garten fragt, sondern sich gleichmütig an seinen Bäumen und Früchten ergötzt, bloß weil sie sind und weil sie schön und ihres zwecklosen Daseins in sich selber froh sind. So ein Gott kann seine Menschenkinder nicht ansehen nach ihrem moralischen Werte, das heißt nach ihrem Nutzen oder Schaden für andere, sondern einzig danach, ob sie gerade 281 und kräftig gewachsen sind, gesunde Blätter und vollduftige Blüten tragen, nämlich allein für sich selbst und aus ihrem inneren Wesen heraus, wie die Eiche sich auswächst, ohne zu fragen: was nütze ich der übrigen Welt! Dieser Gott aber, denn ich kenne ihn, hat sein helles Vergnügen auch an Napoleons schlankem Wachstum und denkt mit Schmunzeln: So ein Prachtexemplar habe ich mir lange gewünscht; wenn sein Laubwerk einigen Kartoffeln und Kohlrüben die Sonne nimmt, was schadet das? Die armen Gemüse da unten selber nennen das freilich Sünde und Frevel und Verbrechen und Selbstzucht, aber was geht das mich an? Wiegt mir doch ein einziger Eichbaum Millionen von solchen Kräutern und Stauden auf. – So denkt mein Gott, und warum sollten wir, die genießenden Götter der Erde, kleinlicher denken als er? Warum sollten nicht auch wir mit betrachtender Lust die Menschen nehmen, wie sie gewachsen sind – vor allen anderen aber auch uns selber. Jawohl, ich selbst bin eine Pflanze im Weltgarten so gut wie alle anderen und habe das Recht, mich so breitzumachen, als ich irgend kann. Das Können freilich ist meine Grenze. Darum heißt mein Pflichtgebot: Mache aus dir selber, soviel du vermagst, und schone die anderen, wo es dein Vorteil erheischt. Vor allem: habe den Mut, diesen reinen Egoismus vor dir selbst zu bekennen, ganz zu bekennen, und du bist ein großer Mann. So ist Bonaparte groß geworden; und wenn die Kleinen ihn hassen, weil er mit seiner erhabenen Selbstsucht ihre eigenen selbstsüchtigen Zwecke stört und zertritt, so mögen sie recht haben so gut als er: aber der Stärkere hat das größere Recht.«

Der Plauderer schwieg, schlürfte in Seelenruhe ein Glas Rotwein und spielte mit seinen Fingerspitzen.

Hartmut fühlte sich ebensosehr gefesselt und aufgeregt als zum Widerspruch gereizt, für den er doch nicht gleich die rechten Handhaben fand.

»Das ist wohl ein großes und verführerisches Gedankengespinst, Herr Physikus, das Sie mir da entgegenbreiten«, sagte er endlich zögernd, »und doch bekenne ich, mein ganzes Wesen sträubt sich dagegen, mich Ihrem Netz gefangen zu 282 geben, das Gute im Menschen zu leugnen, das Sittliche in nacktem Egoismus zu ertränken. Ist das schon Weisheit, so ist es eine schauerliche Weisheit.«

»So sträubt sich die Fliege mit Zappeln, die in ein Spinnennetz geraten ist«, bemerkte der Physikus gemütlich, »allein es hilft ihr meist nicht viel. Doch schauerlich, sagen Sie? Warum schauerlich? Schauerlich ist nichts, bei vollem Lichte besehen. Schauerlich ist nur das Halbdunkel. Ich aber wohne mit meinen Gedanken im hellen Tage. Ihnen ist es freilich schwerer gemacht, mein Herr, als mir, sich in so greller Helligkeit zurechtzufinden, denn Sie sind, wie ich sehe, im Vollbesitz dessen, was man ein angenehmes Äußere nennt – und ganz unmöglich dürfte es Ihrer Schwester sein, jemals zum reinen Wissen vorzudringen.«

»Und warum das?« fragte Hartmut verwundert, »den Grund der Vermutung jedenfalls verstehe ich nicht.«

»Ganz einfach: weil sie zu schön ist. Der Schönheit ist der Weg zur Erkenntnis gar zu schwer gemacht. Denn tausend täuschende Erfahrungen führen sie in die Irre. Wer schön ist, muß ja fast mit Notwendigkeit auf den Irrtum kommen, die Menschen von Hause aus für gut und selbstlos zu halten, denn er empfindet in eigener Erfahrung beständig den Anhauch wirklicher reiner Liebe, der einzigen guten Kraft im Menschen neben hundert tierischen Trieben. Den Häßlichen täuscht solche Erfahrung nie, die er nicht kennt.«

»Wie?« rief Hartmut schnell, »solche Liebe sollte nicht jeder erfahren, auch der Garstigste, von der Stunde seiner Geburt an? Wenn eine Liebe in der Welt rein ist, so ist es doch sicherlich die Mutterliebe. Und die fragt wahrlich nicht nach schön und häßlich«

»Das tut sie in der Tat nicht«, bemerkte der Physikus trocken, »denn meine Mutter hat es, glaube ich, fertiggebracht, sogar mich zu lieben. Allein eben daraus schon ist zu ersehen, daß es keine rein menschliche Kraft ist, sondern ein Trieb, der allen niedrigsten Tieren mit uns gemein ist, wie denn in Wirklichkeit jede Äffin, jede Tigerin, jedes Schaf und jede Gans an Zärtlichkeit und aufopfernder Fürsorge der besten 283 menschlichen Mutter gleichkommt. Die Mutter liebt ihr eigenes Kind nicht anders, als sie ihre eigene Hand und ihre eigene Nase liebt: sie liebt im Kinde nur sich selbst, denn es ist nur ein Teil von ihr, der sich nur räumlich von ihr gesondert und sich selbständige Bewegung erkämpft hat. Das ist die vielgepriesene Mutterliebe: gesunder Egoismus. Und nun erst die anderen Sorten Liebe! Warum lieben wir unseren Vater vor allen anderen Vätern, die ebenso gut sind? Wir haben Gutes von ihm empfangen und hoffen instinktiv noch immer auf mehr. Und so weiter. Alles Egoismus, gesunder Egoismus. Es gibt nur eine wahrhaft reine Liebe ohne eigenes Interesse, nur eine dem Menschen vorbehaltene Liebe: das ist die Liebe zum Schönen.«

»Aber nur zum Schönen?« fragte Hartmut. »Nicht auch zum Guten? Nicht auch zum Wahren?«

»Durchaus nicht«, versetzte jener, »die Wahrheit lieben wir nur so, daß wir sie zu besitzen trachten. Das ist selbstische Liebe. Und das Gute – wen nennen wir gut? Wer sein Leben nach der Rücksicht auf andere regelt, nicht auf sich selbst. Wir lieben also das Gute im Mitmenschen, weil es mit allen anderen auch uns zugute zu kommen verspricht. Gesunder Egoismus. In uns selbst aber lieben wir das Gute überhaupt nicht, sondern fühlen es als eine lästige Fessel, und wenn wir uns mit ihm gut zu stellen trachten, so tun wir das einzig in der Hoffnung auf Gotteslohn und aus Furcht vor Prügeln, mag sich beides noch so vornehm mit dem Namen Gewissen, Frömmigkeit, Ehrgefühl oder gar als kategorischer Imperativ drapieren. Dagegen das Schöne! Was geht mich die Mediceische Venus, was der Torso des Herkules an? Haben sie mir je etwas Gutes getan? Sind sie irgendwie moralisch gut, so daß mein Instinkt auch für mich einen Nutzen von ihnen erwarten könnte? Kann ich sie je in irgendeinem Sinne besitzen? Nichts von alledem. Und dennoch liebe ich sie. Bloß weil sie für mich selbst, ohne Rücksicht auf mich, etwas Rechtes und Tüchtiges sind. In dem Augenblick, da ich etwas Schönes genieße, verwandle ich mich aus dem taxierenden Subalterngärtner in den göttlichen Großherrn, der von oben 284 her jedes Gewächs um seiner selbst willen mit Freuden betrachtet, ohne den Nutzen zu denken. Darum nenne ich die Liebe zum Schönen die einzig göttliche Kraft im Menschen. Und nun denken Sie an Mademoiselle, Ihre Schwester. Hat sie mir je etwas Gutes getan? Im Gegenteil, sie hat mich recht unsanft in den Schmutz geworfen, um einigen dreisten Schreihälsen die gesunden Knochen zu bewahren. Trauen Sie mir zu, daß ich mir etwelche Hoffnung mache, die junge Dame heiraten oder sonst in irgendeinem Sinne besitzen zu können? Ganz wahrhaftig nicht. Und doch habe ich sie vom ersten Augenblick an in mein Herz geschlossen und wäre imstande, allen meinen Prinzipien zuwider ihr sogar unentgeltlich etwas Gutes zu tun. Und sehen Sie, das ist's: ich biete jede Wette, sie ist an solche Erfahrungen so hundertfach gewöhnt, daß sie gar nichts Besonderes mehr darin findet. Wie die Frühlingssonne aus dem schwarzen Nutzboden die leuchtenden Blumen hervorlockt, so hat die Schönheit überall die stille Kraft, den einzigen göttlichen Trieb im Menschen ans Licht zu ziehen und eine Weile wirken zu lassen. Wer schön ist, lernt die Menschen immer nur kennen von ihrer besten, von ihrer einzigen guten Seite. Wie soll er da vordringen zur sicheren Erkenntnis ihrer egoistischen Grundnatur? Des Menschen Seele gleicht einem dunklen Nachthimmel mit einem einzigen kleinen Sterne, der in der Nähe einer wärmenden Flamme ist: wer diesen Sonnenstern der reinen Liebe aus zu häufiger Nähe kennt und sich an ihm wärmt, der hält gar leicht den winzigen Punkt für das Ganze oder einen beträchtlichen Teil des Ganzen und sieht in behaglicher Blendung nichts mehr von dem ungeheuren Reiche der Dunkelheit um ihn her. Wen aber die gütige Natur mit einer recht gründlich abstoßenden Häßlichkeit begabte, der sieht das Sternchen allezeit nur aus eiskalter Ferne, nie angeweht von seiner trügerischen Wärme, der mag unverblendet wandeln im Reiche der Erkenntnis, der kennt von der Menschenseele nur das wahrhaft Wesentliche, den schwarzen Nachthimmel der Selbstsucht. Denn er weiß auch, daß selbst jene reine, unbegehrliche Liebe zum Schönen nicht etwa ein Verdienst ist, nicht eine Tugend, die uns ein Gott oder ein 285 blecherner Rittmeister gebieten könnte, sondern ein freies Glück, danach man sich sehnen, doch das man nicht erstreben kann weder mit Wollen noch mit Sollen. In diesem Sinne kann ich sagen: Die Physiognomie eines jeden Menschen ist die wahre Quelle seiner Erkenntnis und seiner Überzeugungen. – Und nun bitte ich Sie, sich einmal jenes liebenswürdige Bildchen zu betrachten, das Ihnen ohne Zweifel längst aufgefallen ist, bezeichnet: ›Das fehlerhafte Pferd‹. Genau wie der griechische Künstler für seine Marmorgöttin aus hundert lebenden Vorbildern ein letztes reines Urbild aller Vollkommenheiten herauszuziehen und zusammenzufügen wußte, so hat der geistvolle Meister jenes Kunstwerkes in seinem Rosse ein reines, ganzes, von keiner zufälligen Einzelheit getrübtes Idealbild aller lebenswirklichen Unvollkommenheiten hingestellt. Ich liebe das Bild schon um dieses gewaltigen, rücksichtslosen Idealismus willen, noch mehr freilich darum, weil ich in diesem makellos fehlerhaften Geschöpfe gewissermaßen meinen künstlerischen Zwillingsbruder erkenne: auch als die Natur mich formte, sammelte sie gleicherweise all ihre zerstreute Kraft auf einen Punkt und brach nach vollbrachter Arbeit in die selbstzufriedenen Worte aus: Siehe da, der fehlerhafte Mensch! Das will sagen, der Mensch, dem vor zahllosen Sterblichen die tiefsten Einblicke in die Kochtöpfe der Wahrheit vergönnt sind, denn kein Brodem noch schmeichelnder Bratendampf vermag seine kühlen Forscherblicke zu täuschen! – Um Ihnen einen neuen Beweis zu geben von der schönen Sicherheit dieses meines Forscherblicks, gestatten Sie mir, Ihnen hier gleich noch eine kleine Mitteilung zu machen, die an sich freilich für mich bei weitem interessanter ist als für Sie, daher Sie sich denn auch denken können, daß ich damit noch einen anderen Zweck vor Ihnen verfolge, als bloß mit meiner Erkenntnis zu prunken. Die Tatsache ist folgende: zu den Gebrechen, mit denen die liebevolle Natur mich so königlich ausstattete, gehört vor allem auch ein sehr kunstgerecht angelegter Herzfehler, ein wahres Muster seiner Art, still und sicher nach allen Regeln der medizinischen Wissenschaft herangewachsen und nun endlich zu solcher Üppigkeit gediehen, daß 286 ich als gewissenhafter Arzt mir das sichere Ergebnis meiner Diagnose nicht mehr unterschlagen darf: ich stehe dicht am Ende meiner Tage und kann mein Leben höchstens noch nach Wochen rechnen. Wenn Sie mit dieser Kürze der mir noch vergönnten Frist vielleicht meine heutige Geschwätzigkeit entschuldigen wollen, so wird das Ihrem gerechten Sinne zur Ehre gereichen. Und übrigens beruhigen Sie Ihr Mitgefühl, das aus Ihren guten ängstlichen Augen spricht: erstens glaube ich mit Leidenschaft an Seelenwanderung und zweifle nicht, daß meinem geistigen Teile als künftige Residenz genau so ein Geschöpf wird angewiesen werden wie dort mein Lieblingstierchen an der Wand; und zweitens wird mein Ende vollkommen schmerzlos sein: ich kenne die starken Säfte der Natur und weiß es, welche von ihnen des Menschen letzte Freunde sind.«

Der wunderliche Redner machte eine Pause und grinste seinen Gast so harmlos an, als ob er von einem gemütlichen Vespertrunk unter Freunden spräche. Hartmut aber lief es kalt über den Rücken; besonders wenn er das scheußliche Bild des fehlerhaften Pferdes ansah, empfand er ein peinliches Grauen und vermochte doch seinen Augen nicht zu gebieten, daß sie nicht unablässig zwischen diesem Bilde und dem häßlichen Männchen hin und wider wanderten: und je öfter er hinsah, desto ähnlicher schienen beide einander zu werden. Und dabei quälte ihn immer heftiger die Furcht, der Mensch möchte ihm diese scheu vergleichenden Gedanken von den wandernden Augen ablesen. In der wechselnden Pein dieser Empfindungen vermochte er keine erlösenden Worte zu finden.

Zum Glück kam eben jetzt eine Unterbrechung von außen. Das eine der polnischen Mädchen brachte zugleich mit einer säuberlichen Obstspeise einen Brief herein und überreichte ihn dem Hausherrn, der ihn nach einem Blick auf die Handschrift der Adresse mit einigem Eifer öffnete und las. Dann dachte er ein wenig nach, legte das Papier beiseite und redete gemächlich weiter:

»Zu welchem Zwecke also ich gerade Ihnen das unerquickliche Geständnis von dem nahen Ende meines jungen Lebens 287 machte? Weil ich daran die weitere Mitteilung knüpfen wollte, daß ich vor diesem Ende noch zwei große Aufgaben zu lösen ernstlich wünsche – eine praktische und eine theoretische, und daß ich dazu Ihrer Hilfe schwer entbehren kann. Die praktische Aufgabe ist die leichtere: es handelt sich um die Kleinigkeit, Ihre Schwester glücklich zu machen; die theoretische ist ein riesenhaftes, unerhörtes, ja fast übermenschliches Unterfangen: nämlich einen Narren zu bekehren. Beide aber hängen nahe und anscheinend unlöslich zusammen.«

Hartmut blickte ihn mit großen verwunderten Augen an.

»Den Zusammenhang begreife ich freilich nicht«, sagte er, »doch ist es selbstverständlich, daß ich für jenen Versuch mit tausend Freuden zur Verfügung stehe, mag ich selbst auch sein Gelingen leider für wenig wahrscheinlich halten.«

»Der Zusammenhang wird Ihnen alsbald einleuchten. Sie werden mir bestätigen können, daß Mademoiselle Ihre Schwester in irgendeiner nicht unangenehmen Beziehung zu einem gewissen von hier gebürtigen Herrn Ulrich Seybold stand.«

Hartmut zögerte. »Ich bin weder befugt noch beflissen«, sagte er endlich verlegen, »von den Beziehungen meiner Schwester ohne deren Willen irgend etwas fremden Ohren preiszugeben.«

»So muß ich Ihrem Gedächtnisse zu Hilfe kommen«, bemerkte der Physikus lächelnd; »sehen Sie, dieses Briefchen hier ergänzt zum Glück soeben meine schon vorhandene Kenntnis in sehr willkommener Weise. Die Schreiberin, Frau Doris Seybold, die unbezweifelte Mutter ihres Sohnes, meldet folgendes:

›Lieber Freund! Bemühen Sie sich meinetwegen nicht weiter. Ich habe die unbekannte Person bereits gefunden und gesprochen, und alles fügt sich von selbst so glücklich als möglich. Unternehmen Sie also nichts gegen den Rittmeister; es könnte nur schaden. Herzlich dankend, Ihre ergebene

D. S.‹

Bitte, lesen Sie mit eigenen Augen, ich habe kein Wort unterschlagen noch zugesetzt. Zur Erklärung nur dies: die 288 gesuchte Unbekannte war eine von Herrn Ulrich Seybold geliebte Dame aus Frankfurt am Main: glauben Sie es mir nun wahrscheinlich machen zu können, daß sich zur Zeit hierorts eine größere Anzahl junger Frankfurterinnen zwecks der Irreführung des Forschers aufhält? Die gefundene Dame wird also wohl Demoiselle, Ihre Schwester, sein und bleiben müssen, und damit ist die behauptete Beziehung zu dem erwähnten jungen Manne aktenmäßig festgestellt. Sie sehen, ich bin vollkommen in der Lage, Ihr Vertrauen zu verdienen, da ich seiner gar nicht bedarf. Nun ist Ihnen aber noch besser als mir bekannt, daß meine Freundin sich in ihrer Hoffnung ›Alles fügt sich glücklich‹ leider gründlich irrt: offenbar ist ihr irgendein später erfolgtes Ereignis unbekannt geblieben. Vielleicht, daß Sie davon einige Kenntnis haben: allein Sie sind verschwiegen. Ich hingegen kenne diesen Zwischenfall aufs genaueste und zögere in meinem kindlichen Vertrauen nicht ihn auszuplaudern. Ein gewisser Rittmeister a. D. von Jageteufel hatte sich in den Kopf gesetzt, den in Frage stehenden Seybold mit einer anderen jungen Person zu verkuppeln: und richtig, es ergibt sich, er hat den dummen Jungen durch eine jahrelang fortgesetzte Prügelkur so windelweich geknetet, daß selbiger zu Kreuze kriecht und schwachmütig auf Liebe und Glück verzichtet – wobei denn so nebenher auch das Glück jener unbekannten Frankfurterin in Scherben geht, wenn sich nicht gute Seelen finden, die es wieder zusammenleimen. Oder wie meinen Sie?«

Hartmut blickte betroffen und trübe zu Boden.

»Wie ich meine Schwester kenne«, sagte er nach längerem Besinnen, »muß ich fürchten, sie wird sich nach der ihr angetanen Kränkung niemals zu einer Umkehr bereit finden.«

»Und wie ich verliebte Mädchen kenne«, lachte der andere, »wird sie sich bei rechtzeitiger Buße des Sünders, wenn nicht zu einer Umkehr, so doch zu einem barmherzigen Stillhalten bereit finden. Jedenfalls kommt das auf einen Versuch an. Die Buße des Sünders wird aber, soweit ich sehe, nur ermöglicht werden durch die vorausgegangene Bekehrung des anderen schlimmeren Sünders, des sehr ehrenwerten 289 Rittmeisters a. D. – und das ist eben der Narr, von dem ich redete. Der innere Zusammenhang meiner beiden Lebensaufgaben ist Ihnen nun klargelegt, und Sie können unmöglich zögern, mir in der Erfüllung derselben zur Seite zu stehen.«

»Ich werde gewißlich tun, was ich vermag«, versetzte Hartmut, »nur setze ich freilich kein allzu großes Vertrauen in meine Überredungskunst –«

Der Physikus grinste. »Oh, mein Herr Doktor, haben Sie je gehört, daß ein Narr durch Überredung bekehrt worden sei? Da möchten Sie in der Tat wohl eher die Weichsel durch Überredung in ein anderes Bette leiten. Nein, wahrlich, von so kindlichen Versuchen rede ich nicht. Mit einem Narren kann man nur durch Taten reden. Eine solche Tat nun habe ich mir ausgedacht, bedarf jedoch zu ihrer reinlichen Ausführung Ihres Beistandes.«

»Eine Tat?« rief Hartmut mit großer Freudigkeit, »eine Tat ist's gerade, wonach ich mich im tiefsten Herzen sehne. Ich bitte, mein Herr, verfügen Sie über mich.«

»Sie müßten sonst auch ein schlechter Bruder sein«, bemerkte der Physikus ruhig. »Übrigens ist es weder etwas Schweres noch etwas Schreckliches, was von Ihnen verlangt wird: es handelt sich einfach darum, den Mann betrunken zu machen, nicht mehr und nicht weniger.«

»Betrunken?« fragte Hartmut stutzend, »und zu welchem Ende diese Seltsamkeit?«

»Um ihm zu beweisen«, erklärte der Physikus scharf und bestimmt, »daß er ein moralischer Schwächling, ein zuchtloser Wüstling ist, und daß ein derartiges Subjekt unmöglich das Recht haben kann, mit anderer Leute Glück und Liebe nach seinem Gefallen zu spielen. Ich denke, der Plan ist einfach und groß und muß Ihren Beifall wie Ihr Verständnis finden. Für den Erfolg verbürge ich mich, ich kenne die Formen der Narrheit unseres Narren. Ihre Rolle aber, mein Herr, in unserem Drama ist so leicht als dankbar: es ist die eines wohlgekleideten Statisten. Sie sollen den unbefangenen Zechbruder und Plauderer spielen, der ihn vertraulich macht, das ist alles; denn ich muß leider bekennen, daß mir allein das 290 niemals gelingen würde; er hat nun einmal eine rätselhafte Antipathie gegen mein armes Selbst, die sich bis zum schnödesten Argwohn zuspitzt. Dagegen sind gerade Sie nach meiner Überzeugung die unverdächtigste Persönlichkeit, die in der ganzen Gegend aufzutreiben wäre, aus dem einfachen Grunde, weil Sie ein Fremder sind. Die einzige Gefahr, die Sie bei dem ganzen Handel laufen, ist höchstens die, sich selbst in einen kleinen Rausch zu begeistern; und dies Opfer kann Ihnen nicht so furchtbar sein, daß Sie es einer Schwester nicht mit leiser Freude brächten. Ich darf also auf Ihre Mitwirkung rechnen?«

Hartmut zauderte noch einzuschlagen. »Ich bekenne«, sagte er verlegen, »mir wäre ein anderes Mittel lieber. Das Vorhaben, einen redlichen Mann durch Hinterlist in einen seiner unwürdigen Zustand zu versetzen, erscheint mir weder schön noch groß –«

»Aber praktisch«, lachte der Physikus. »Und übrigens meine ich, die Wahl zwischen der tiefsten Herzenskränkung Ihrer Schwester und einer wohlverdienten kleinen Beschämung eines aufgeblasenen Pharisäers kann für Sie im Ernste eine Wahl nicht sein. Sie müssen. Es wäre Ihre Menschenpflicht, für solchen Zweck auch in eine schlechtere Tat zu willigen.«

»Nun gut«, rief Hartmut schnell entschieden. »Ob gut oder schlecht, es ist eine Tat. Ich gehe mit Ihnen.«

Der Physikus nahm die dargebotene Hand und sagte:

»Heute abend also – nach Ihrem Vortrage, ich weiß. Ihr Zuhörer zu sein, muß ich mir leider versagen; denn die Umstände erfordern dringend, gerade diese Stunde zu einer stillen Zwiesprache mit einem gewissen Herrn Reff zu benutzen; es hält sonst schwer, diesen treuen Jünger seinem Herrn, dem Jageteufel, abzujagen. Der Bursche aber ist mir gleichfalls unentbehrlich. – Und nun, meine Gerichte und meine Reden sind zu Ende; meine Weine stehen ferner zu Ihrer Verfügung: ich empfehle Ihnen, zum Nachtisch sich dem Madeira wieder zuzuwenden, er begeistert und ist stark wie alte Liebe. Von mir aber verlangen mein Alter und meine Herzklappen ein Stündchen Schlaf auch auf Kosten der Höflichkeit. 291 Inzwischen bitte ich Sie, sich's nach allen Kräften bequem zu machen; an Teppichen und Polstern ist ja kein Mangel. Beliebt es Ihnen, gleichfalls zu schlummern, so wird kein lästiger Zeuge solches Tuns Sie stören.«

Er empfahl sich, und Hartmut blieb allein. Alsbald legte sich in der Einsamkeit ein Druck auf ihn wie eine schwüle Luft und schien ihm alle Klarheit des Denkens zu benehmen. Er trank ein Glas Madeira, um sich wieder anzuregen, aber nur noch schwerer sank sein Kopf gegen die Polsterlehne zurück. Sein Blick glitt langsam schweifend an den überhängten Wänden hin; die brennenden Farben, die abenteuerlichen Zeichnungen der Teppiche schienen sich vor ihm zu bewegen, sich aufzulösen, ineinander zu schmelzen in üppig wechselnder Willkür, als wenn ein riesiger Blumenkorb von unsichtbaren Händen durcheinander gerüttelt würde. Und er glaubte den übermächtigen Würzhauch dieser tausend Blumen berauscht durch alle Nerven zu empfinden; und ihre wogenden Massen begannen sich schaukelnd hier und dort zu zerteilen, und durch die beweglichen Lücken arbeiteten sich große, wunderschöne Schmetterlinge langsam hervor, breiteten die Flügel aus und flatterten prächtig näher und näher. Sie trugen reizende rosenfarbene Schäferkleider und auf den schwarzen Lockenköpfen kecke polnische Mützchen, unter denen dunkle, feurige Mädchenaugen schelmisch hervorblitzten –.

Doch da plötzlich stockten seine Phantasien, er seufzte noch einmal »Lisbeth« und sank in einen ernsten, traumlosen Schlaf. 292

 


 


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