Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Neuntes Kapitel

Ulrichs Verlobung und Hildegards Flucht.

Lisbeth hatte nach ihrem raschen Entweichen eine Zufluchtsstätte in ihrem Arbeitszimmer gefunden, das ihr von dem Oheim in einem oberen Stockwerk des Vorderhauses bewilligt war. Es war das ein allerliebstes Stübchen mit niedrigen Fenstern, einer barock gekräuselten Stuckdecke, einem dicken, grünen Kachelofen und noch wenigen anderen Möbeln und Geräten von gleicher altmodischer Behaglichkeit. Nur gedämpft drang das mittägige Sonnenlicht durch die blütenweißen Gardinen und die Fülle der fröhlich wuchernden Topfgewächse; aber das mäßige Licht genügte, diese kleine Welt mit so viel Heiterkeit zu durchwirken, daß jeder Eintretende wohl hätte schwören mögen, hier in dem anmutigen Neste könnten Tag für Tag nur die Geister besonnenen Friedens umgehen, die auch in dem Gesichte der stillen Bewohnerin eine feste Ruhestätte zu haben schienen.

Dieselbe saß nun seit einer beträchtlichen Weile vor ihrem Nähtischchen am Fenster und hielt ein Stück Zeug in der linken, eine Nadel in der rechten Hand. Allein sie betrieb die Arbeit mehr nach Art der landesüblichen Werktagsruhe; ungefähr in jeder Minute einmal hob sie die Nadel, vollbrachte einen Stich, ließ die Hand wieder sinken und heftete die Augen träumerisch an die Decke, als wollte sie von den geschweiften Verzierungen dort ein neues Stickmuster ablesen. Manchmal spielte um ihren Mund ein Lächeln wie der dämmerhafte Lichtschein einer norddeutschen Juninacht über ein Wiesental; als ob sie ahnend ein sicheres Glück zuvor empfände, dessen entschleierte Gestalt sie in der offenen Welt noch nicht zu finden wüßte.

»Hartmut!« flüsterte sie wie im Traum, »welch ein schöner, sonderbarer Name! Das klingt so stolz und tapfer. Ob er das wohl eigentlich auch ist? Aber natürlich! Nur ein bißchen 218 schüchtern. Und das gefällt mir gerade erst recht an ihm! Und daß er sich so geduldig die Krawatte binden ließ! Wie rührend von solch einem Manne! Und ob der Ulrich wohl so ein ähnlicher Mensch ist? Ich will doch hoffen! In der Hauptsache sicherlich. Ein bißchen anders, ja, das muß man sich schon gefallen lassen; es können nun einmal nicht alle Menschen gleich sein. Ob ich ihn wohl gleich wiedererkenne? Gestern früh hätte ich noch darauf schwören wollen, so klar stand mir sein Bild vor Augen, aber seitdem –«

Plötzlich schmetterte der fröhliche Ruf eines Posthorns von der Straße herauf; Lisbeth fuhr auf, steckte den Kopf zwischen den Blumentöpfen hindurch ins Freie und forschte nach der Neuigkeit. Eine vierspännige Extrapost kam stattlich den langen Markt heraufgefahren und hielt gerade gegenüber vor dem »König von Polen«; ein Mann von jugendlicher Erscheinung stieg aus, schien dem herbeispringenden Hausknecht einige kurze Befehle zu geben und schritt dann in sicherer Richtung wie ein recht Ortskundiger quer über die Straße hinweg geradeswegs auf das Vorderhaus des Rittmeisters zu.

»Das ist Ulrich Seybold!« rief Lisbeth, und ihr Herz klopfte in heftiger Aufregung, »diesmal ist er's aber wirklich! Wie der gleich daherschreitet! Dem braucht man wahrhaftig nicht erst zu winken! Ob er wohl nun gleich zu mir heraufspringt oder sich erst bei seiner Mutter meldet? O du liebe Güte, aber er weiß ja gar nicht, daß ich hier oben mein Stübchen habe! Und wenn er mich hinten sucht oder zu seiner Mutter will, dann fällt er dem Onkel August in die Hände – – Herrgott ja, und wenn der ihm nun gleich mit seinen neuen Geschichten entgegenfährt, daß wir uns nun doch nicht heiraten sollen, und wer weiß, was er ihm dabei für Flausen vorredet, da muß ja der arme Mensch ganz verwirrt werden! Und was soll er von mir denken? Er weiß ja eigentlich noch gar nicht – – Nein, da hilft nichts, ich muß hinunter und ihn abfangen und warnen; es kann sonst das größte Unglück entstehen; o du liebes Gottchen, ist das aber eine dumme Geschichte!«

Bei den letzten dieser Gedanken befand sie sich bereits auf 219 der untersten Stufe der Treppe, schlüpfte den dunklen Flur entlang über den Hof und durchs Hinterhaus auf die hängende Brücke; doch nirgends fand sie eine Spur von dem Ankömmling.

›Großer Gott, sitzt der auch wieder in der unglückseligen Weinstube fest‹, dachte sie, ›doch meinetwegen, immerhin kann man da noch ungestörter ein Wort so sprechen als hier mit ihm halb auf der Straße – denn auf mein Zimmer darf ich ihn doch entschieden nicht führen; wer weiß, was es dann wieder für Gerede gäbe!‹

Sie kehrte schnell zurück und trat durch den inneren Eingang in die Weinhalle. Da stand der Gesuchte vor ihr mit gekreuzten Armen, vertieft, wie es schien, in die Betrachtung des edlen Gewölbes. Sie sah eine kräftige Gestalt und ein schönes, frisches, sonnengebräuntes Gesicht mit einem stattlichen Schnurrbart. ›Nein‹, dachte sie, ›mit Herrn Hartmut hat er aber gar keine Ähnlichkeit!‹ Und ein ängstliches Gefühl der Fremdheit überkam sie.

»Herr Ulrich –?« sagte sie sehr leise und schüchtern mit halber Frage.

Verwundert blickte er auf und trat ihr entgegen.

»Lisbeth!« rief er freudig, »die kleine Lisbeth, wenn mich nicht alles täuscht! Aber wie hübsch groß Sie geworden sind!«

Er streckte ihr mit unbefangener Herzlichkeit die Hand entgegen, die sie zaghaft und fast ein wenig zurückweichend ergriff.

»Also nun sind Sie doch wirklich unser Herr Ulrich Seybold«, sagte sie errötend, »es war nämlich schon ein anderer da – ich meine, ich erwartete Sie schon gestern –«

»Wie?« rief er überrascht. »Sie erwarteten mich? Das heißt doch also, auch meine Mutter und der Onkel Rittmeister erwarten mich, und ich Tor, ich martere mich mit Sorgen und Fragen, ob ich nicht dennoch übereilt gehandelt habe, daß ich so stürmisch die Heimreise antrat, ohne die volle Erlaubnis abzuwarten! Ich fürchtete die eigensinnige Strenge des Oheims – aber sagen Sie vor allem, liebe Lisbeth, wie geht es meiner Mutter? Oh, wenn Sie wüßten, wie wunderseltsam so einem 220 Heimkehrenden zumute ist, der seit so vielen Tagen nur den einen rastlos vorwärtsdrängenden Gedanken gehabt hat, zu den Füßen der Mutter zu liegen, und nun steht er an der Schwelle und zagt und zaudert, die Schwelle zu überschreiten, die ihn vom heiligsten Glücke trennt –«

Lisbeth sah ihn ein wenig sonderbar von der Seite an und schien zum mindesten noch einen Zusatz zu seiner Rede zu erwarten. Da er aber schwieg und sie gleichfalls fragend ansah, so antwortete sie endlich etwas kurz:

»Ihrer Mutter geht es ganz gut, sie wird sich gewiß sehr freuen. Und wenn Sie sonst unterwegs an gar keinen anderen gedacht haben –«

»Wie sollte ich denn auch!« unterbrach er sie schnell, »nach all dem, was mir seit fünf Jahren auf der Seele gelegen! Doch Sie können freilich nicht alles wissen –«

»Oh, genug weiß ich schon«, bemerkte sie, »Tante Doris, Ihre Frau Mutter meine ich, hat mir Tag für Tag so viel von Ihnen erzählt, bis ich zuletzt nun ganz und gar – – aber trotzdem, ich weiß nicht, wie fremd Sie mir jetzt auf einmal vorkommen! Und gestern gerade das Gegenteil – – das heißt, Sie brauchen durchaus nicht zu denken, daß ich hier heruntergelaufen wäre, extra bloß, um Sie zu begrüßen! Nein, so wahrhaftig nicht! Bloß warnen wollte ich Sie vor meinem Onkel, daß Sie nicht unvorbereitet auf ihn stießen: er ist nämlich sehr komisch heute, aber ganz sonderbar wie noch nie; und seine Schrullen hat der doch wahrhaftig sonst auch schon! Denken Sie doch, heute auf einmal will er von der ganzen Geschichte nichts mehr wissen!«

»Von welcher Geschichte?« fragte Herr Ulrich befremdet.

Sie sah ihn mit großen Augen erstaunt und fast erschrocken an.

»Von meiner Heimkehr nicht?« forschte er angstvoll.

»Ach, wo denken Sie hin?« rief sie schnell, »davon ist keine Rede! Natürlich sollen Sie nach Hause kommen, und ich bin überzeugt, er wird sehr zufrieden sein, daß Sie nun schon da sind, da kann er Sie ja nun gleich gerade so bearbeiten wie mich heute früh –«

221 »Um Gottes willen, spannen Sie mich nicht auf die Folter!« rief er ganz heftig. »Um was handelt es sich? Doch nicht etwa gar um den Plan mit meiner – meiner Verheiratung? Oh, wenn das wäre –«

»Aber natürlich!« fiel sie ihm eifrig in die Rede. »Wovon denn sonst? Und dabei so ohne jeden vernünftigen Grund und so rücksichtslos! Als wenn wir die reinen Schafe wären, ohne Willen und ohne Gefühl, und ganz gemütlich heute ja und morgen nein sagen könnten, wie es gerade in seinen philosophischen Kram paßt! Wenn ich denke, wie gewaltsam er mir doch damals zugeredet hat, wie er förmlich grob wurde, als ich mich erst ein bißchen zierte, was man doch als junges Mädchen so tut, und wie er mich feierlich ermahnte, es sei meine Pflicht, meine heilige, bitterernste Pflicht – – und ich will ja auch gar nicht behaupten, daß mir diese Pflicht nicht bitter und sauer genug geworden sei«, setzte sie mit einem kleinen Knicks und einem schelmisch verschämten Lächeln hinzu.

Herr Ulrich aber war plötzlich einen Schritt zurückgetreten, stand verstummt und deckte die Hand über die Augen.

»O Mutter«, sprach er endlich ganz leise, »das also war deine gnädige Meinung!« –

Und dann schnell sich aufraffend reichte er dem Mädchen beide Hände und sagte herzlich mit noch feucht schimmerndem Auge:

»Verzeihen Sie mir, Lisbeth, die zaudernde Kühle meiner Begrüßung. Sie wissen nicht, wie seltsam Herzbewegendes in diesen letzten Tagen verwirrend auf mich eingestürmt ist. Und zumal in dieser Stunde ist mir's fast, als wäre der Lebensinhalt fünf langer Jahre mir plötzlich in nichts verschwunden, fortgeströmt wie ein Fluß aus seinem abgedämmten Bette, und von beiden Seiten, von Vergangenheit und Zukunft her, fluten die Wasser in die leere Höhlung dieser Zeit und schlagen gegeneinander, umwirbeln und durchdringen sich; das Heute und jener letzte Tag meines Heimatlebens fließen ineinander, als wären sie von dem Lauf einer einzigen Sonne umschlossen. Damals war unter den schwarzen Gedanken, die auf dem Wege in die Verbannung mein schuldiges Haupt 222 umschwirrten, auch die trostlose Gewißheit, Sie, Lisbeth, für immer verwirkt und verloren zu haben, Sie, die ich liebte mit der ganzen zitternden Schwärmerei eines scheuen Knabenherzens – und heute sind Sie die erste, die mir bei meiner Heimkehr in die Vaterstadt, ins Vaterhaus gütig und liebevoll entgegentritt, ja, ich darf sagen, völlig verwandelt in dem Ausdruck Ihrer Gesinnung –«

»Sie meinen«, versetzte sie mit einem treuherzigen Aufblick, »weil ich Ihnen damals nicht eben sonderlich zugetan gewesen bin? Ja, ich bitte Sie, was waren Sie denn aber auch für ein ungezogener Junge!«

»Das war ich!« bestätigte er mit einem wehmütigen Lächeln, »und leider viel Schlimmeres als das! Verdorben war ich bei all meiner Jugend, verlottert und verloren, niemand weiß so gut als ich selber, wie tief ich schon verloren war. Und sehen Sie, darum verwundert mich eben nichts als dies eine, wie es möglich werden konnte, daß Sie sich entschließen wollen, jetzt – so ganz anders gegen mich gesinnt zu sein, sich sogar entschließen wollen, mir – – ich weiß wenigstens nicht, wie ich mir Ihre guten Worte anders deuten soll, die mir doch eine fast rätselhafte Überraschung sind –«

»Nun aber!« rief Lisbeth ganz verdutzt und ihm rasch ihre Hände entziehend. »Eine Überraschung für Sie? Ja, hat Ihnen denn der Onkel oder Tante Doris nichts von meiner Antwort auf Ihre Anfrage geschrieben?«

Ulrich zuckte leicht zusammen, und eine seltsame Verwirrung sprach aus seinen Blicken.

»Nicht eine Silbe«, erklärte er endlich, sich mühsam fassend, »ich hatte keine Ahnung, wer –«

»Nun, das ist aber stark!« unterbrach sie ihn hastig. »Ja, hören Sie, wenn ich das gewußt hätte, da hätte ich mich doch ganz anders benehmen müssen! Im ganzen Leben wäre ich Ihnen denn doch nicht so entgegengelaufen! O du liebe Zeit, ist es aber nicht gerade, als wenn ich verhext wäre, allen jungen Männern nur so in die Arme zu fliegen! Entsetzlich! Was würde die Tante dazu sagen! Aber nun begreife ich allerdings, warum Sie im Anfang so komisch waren –«

223 »Konnte ich denn ahnen«, fiel er ein, »daß gerade Sie es waren, die – – liebe Lisbeth, lassen Sie uns ganz ehrlich verfahren: gestehen Sie mir offen: war es gar kein Zwang, gar keine Überredung von seiten Ihres Oheims, was Sie veranlaßte oder doch mitbestimmte, sich seinem Wunsche zu fügen und Ihre Einwilligung zu dieser Partie zu geben?«

»Ei bewahre!« rief sie lebhaft. »Was denken Sie von mir, Herr Ulrich? Ich sagte Ihnen ja schon, daß es reine Ziererei von mir war; nicht einen Augenblick war ich im Herzen zweifelhaft, daß ich ja sagen würde. Wie konnte ich denn auch anders, da ich Ihnen doch schon lange gut war, ich glaube gewiß schon seit einem Jahre oder noch länger; wer weiß denn hinterher, wann so etwas angefangen hat? Aber eigentlich finde ich das gar nicht sehr hübsch von Ihnen, daß Sie so sonderbare Zweifel aussprechen! Ziemlich komisch finde ich es sogar!«

»Teure Lisbeth!« bat er, »zürnen Sie mir nicht. Ist's doch in Wahrheit ein recht schwer begreifliches Ding, daß mir ein Mädchen wie Sie gut sein könne so ganz ohne mein Verdienst und Würdigkeit!«

»Nun«, sagte sie freundlich, »und wenn Sie auch kein anderes Verdienst hätten als die rührende Treue, die Sie mir so viele Jahre lang bewahrt haben – etwas ist denn das doch immer schon!«

Herr Ulrich stutzte, und seine Stirn umwölkte sich. Dann ergriff er wiederum ihre Hand und sagte mit ernstem Gesicht:

»Liebe Lisbeth, betrügen darf ich Sie nicht in Ihrem reinen Vertrauen. Nein, ich muß es Ihnen gestehen frei und klar: Die feste Treue, die Sie mir nachrühmen, habe ich leider in meinem Herzen nicht getragen. Damals freilich hätte ich wohl nicht leicht einem Menschen geglaubt, daß ich einst zu Ihnen zurückkehren würde vom Leben gekühlt, bedachtsam, nüchtern, mit verwandelten Augen.«

Lisbeth blickte ihn kopfschüttelnd und beinahe mißtrauisch an und versuchte ihm ihre Hand wieder zu entziehen; doch hielt er sie fest und fuhr gelassen mit leiser Wehmut fort:

»Allein die Gedanken der Menschen wandeln sich, und 224 gewißlich nie so schnell und so tief wie in den Jahren, die von der Knabenzeit ins Mannesalter hinüberführen. Und nun denken Sie mich gar in der Fremde, in anderer Umgebung, neuer Tätigkeit, unter anderen Menschen! Ja, ich darf es nicht leugnen: in dem Strom des ungeheuren Ernstes, der mich hinaustrug, versank gar bald Ihr freundliches Bild und tauchte immer seltener, nur noch in zartem Silberlicht vor meinen Blicken empor! Wie Sternenglanz vor heißer Sonne, so verdämmerte mir langsam das stille Bild meiner Jugendliebe. – Und es muß auch das gestanden werden: nicht die halbe Vergessenheit allein, auch die Glut einer neuen Leidenschaft verdrängte die leise Sehnsucht aus meinem Herzen –«

»Nun muß ich aber doch sehr bitten«, unterbrach ihn Lisbeth halb lachend, halb ärgerlich, »daß Sie mit Ihrer Beichte ein Ende machen. Sie könnten mich sonst ernsthaft eifersüchtig machen oder gar mich zwingen, daß ich am Ende auch so ein kleines Geständnis machen muß. Die Hauptsache bleibt schließlich doch immer, daß Sie mir vor fünf Jahren schon gut waren und es auf Ihre Art ernst meinten und jetzt wieder – wenn Sie es nämlich wirklich ernst meinen, was mir aber allenfalls bald ein bißchen zweifelhaft werden könnte –«

»Zweifeln Sie nicht, gute Lisbeth!« sagte er fest und still. »Ernst war es mir, bitter ernst schon, als ich von Frankfurt aufbrach, doch niemals ernster als in diesem Augenblicke. Kenne ich doch nun erst ganz die grenzenlose Güte meiner Mutter, die auch in scheinbar grausamer Strenge nichts anderes im Auge hatte als Ihres Sohnes eigenstes Glück. Ja, Mutter, und wenn auch deine zartsinnig liebevolle Rechnung von einem begreiflichen Irrtum ausging, wenn es in meinem Herzen auch anders aussah, als du ahnen konntest, so will ich dennoch das Gelübde treulich halten, das ich dir tat, und werde es leichter erfüllen können jetzt mit gerührterer Seele. Und wenn es sein kann, will ich dich auch fürder nicht mehr merken lassen, wie groß das Opfer ist, das ich dir bringe.«

»Aber hören Sie, Herr Ulrich«, rief hier Lisbeth auf einmal, sich heftig losreißend und mehrere Schritte zurücktretend, »das verstehe ich nun aber schon gar nicht mehr, was Sie da 225 reden. Und überhaupt, wenn Sie sich mit Ihrer Frau Mutter unterhalten wollen, brauchen Sie sich das doch mit mir nicht erst einzuüben. Und was sie für Opfer und Entsagungen von Ihnen verlangt, möchte ich auch wissen; mir hat sie nichts davon gesagt. Ich weiß bloß, daß sie es wahrhaftig so gut wie möglich mit Ihnen meint und mit mir auch; was aber sonst noch für Geheimnisse dahinterstecken mögen, um die Sie sich so aufregen, das weiß ich nicht.«

»Liebe Freundin«, sagte Herr Ulrich weich, »das einzige Geheimnis, das Sie vielleicht noch nicht verstehen können, ist dieses, daß gerade von Ihnen, von meiner Liebe zu Ihnen der letzte Zwiespalt mit meiner Mutter meine schwerste, vernichtende Sünde einst ihren stillen Ausgang nahm. Lisbeth, obgleich Sie ein Kind waren, liebte ich Sie doch mit überschwenglicher Verehrung wie ein höheres und reineres Wesen, und in dem trüben Nebelgewirre meines unordentlichen Gemütes waren Sie ein lichter Stern, zu dem ich in still besonnenen Stunden voll andächtiger Reue und Besserungshoffnung hinaufblickte. Allein so schwärmerisch die Liebe war, so scheu und schamhaft und verschlossen war sie auch; nichts peinigte mich mehr als die Furcht, es könne irgendwer in meinem Herzen lesen und von jenen still-heiligen Gefühlen eine Ahnung gewinnen. Und solche trotzige Bangigkeit trieb mich, mit den Menschen Verstecken zu spielen, mich noch weit roher und ungebärdiger anzustellen, als ich ohnehin schon war, damit nur ja niemand auf den Verdacht geraten könne, daß ich auch zarter Empfindungen fähig sei. Schon die Liebe zu meiner Mutter verbarg ich gern vor der Welt, vor ihr selber, wieviel mehr die schwelgende Überschwenglichkeit jener heißen Knabenphantasie! – Nun hatte ich freilich keines anderen Scharfblick zu fürchten: meine Mutter aber las doch in meinem Herzen. Und leider besaß sie nicht die selbstbeherrschende Kraft, diese ihre Entdeckung vor mir geheimzuhalten; vielmehr versuchte sie leise, mir ihre Mitwissenschaft aufzudrängen, bald durch den Ausdruck einer zärtlich tändelnden Teilnahme, bald durch eine leichte Neckerei, bald durch andere Vertraulichkeiten. Ich aber wich ihr aus, ich begann ihr zu mißtrauen; und je mehr 226 sie mein Herz sich suchte, desto spröder ward ich und desto verstockter: immer trotziger haßte ich jeden Ausdruck weicheren Gefühles, weil ich davor zitterte. Diese wunderliche Scham verstand meine Mutter nicht und ließ mich nicht klüglich meiner Wege gehen, sondern suchte mich immer eifriger in unverwüstlich andringender Liebe. Ich aber dankte ihr mit Streichen, deren Wildheit sie entsetzen und von mir scheuchen sollte. – In der letzten Nacht aber vor dem Ende stand ich, von einem wüsten Gelage mit den Offizieren, meinen Gönnern, heimkehrend, im Mondschein lange Zeit unter Ihrem Fenster, Lisbeth, hinaufblickend mit unklar andächtiger Rührung und heimlich erwachendem Schuldbewußtsein. Da plötzlich entdecke ich, nicht weit von mir, einen Menschen, der mich lauernd beobachtet. Ich erkenne ihn: es ist der Nachtwächter, mein Feind von manchem losen Streich her, den ich ihm gespielt. Mit jähem Schauder drang es mir zum Bewußtsein, daß mein holdes Geheimnis hier in die Hände eines rachsüchtigen und geschwätzigen Trunkenboldes gegeben war; lieber noch hätte ich mich bei einem Verbrechen ertappen lassen. Eine verzweifelte Entschlossenheit ergriff mich; ich erfand einen tollen Rettungsgedanken. Hastig raffte ich einen Stein von der Straße auf und schleuderte ihn sicher zielend in das erste Fenster des Nachbarhauses, das mein gestrenger Rektor bewohnte; dann ergriff ich die Flucht. So war mein Geheimnis gewahrt, aber eine Übeltat begangen, die mir nicht mehr verziehen werden konnte, wie die vielen früheren. Ich wußte genau, meiner Mutter standen Tage überwältigenden Grames bevor durch meine Schuld. Ich eilte in unbestimmten Bangen vors Tor und machte einen stundenlangen Gang durch die nächtliche Einsamkeit der Felder und Dörfer. Je länger ich umherirrte in dem öden Schweigen der Finsternis, und meine Augen nichts sahen als die Tiefe des gestirnten Himmels über mir, desto mächtiger fiel die Schuld auf mein Gewissen, nicht die heutige allein, sondern die gehäufte Schuld all meiner Jugendjahre. Gleich strafenden Augen schienen die Sterne vom Himmel in meine Brust zu blicken. Eine unendliche Sehnsucht erwachte, mein reuiges Haupt an das Herz meiner Mutter zu legen, von ihr in 227 Zerknirschung ein verzeihendes Wort zu erflehen. – Es war wohl gut, daß es anders kam. Nach der Verzeihung würde ich die Reue und jedes Gelübde so schnell vergessen haben wie alle früheren. Ich hatte die letzte Sünde noch nicht begangen, ich war noch nicht reif zur Umkehr. – Meine Mutter fand in dieser Nacht nicht das Wort, das meine Erregung beruhigen konnte. Sie hatte Worte des Zornes, der Leidenschaft; die ertrug ich stumm, in mich zurückgedrängt, mit langsam nur aufwallendem Trotz; allein sie hatte auch Worte des Spottes über Sie, Lisbeth, und über meine kindische Schwärmerei – – da war es aus, da verlor ich die Besinnung – – und wenige Tage später hatte ich die Stadt verlassen, ohne von Ihnen auch nur mit einem Blicke Abschied nehmen zu können. – Verstehen Sie nun, liebe Freundin, wie wunderbar sich Anfang und Ende zusammenschlingen? Mit wie zarter Hindeutung meine Mutter mir heute ihre Gnade wieder schenkt? – Und wenn Sie also gesonnen sind wie ich, Sie gute Seele, so lassen Sie uns jetzt das Gelübde der Treue wechseln und dann zu meiner Mutter eilen; ist mir doch, als könnte ich keinen vollen Atemzug in der Heimatluft tun, ehe ich ihre Hände geküßt habe. Lisbeth Hellwig, können Sie sich aus freiem Willen entschließen, die Meine zu werden?«

»O ja«, sagte sie freundlich und legte die Hand mit einer leise zögernden Feierlichkeit in die seine.

»So empfangen Sie den Brautkuß!« verkündete er, und die Bewegung seines Armes erschien so steif wie seine Worte.

Sie zuckte leise zurück. »Muß man denn schon küssen?« fragte sie schüchtern.

»Es ist ein Sinnbild«, erklärte er.

»Ach so!« sagte sie und bot ihm feierlich ihre Lippen.

Doch gerade in dem Augenblick, da die Lippen dieses ernsten Paares in gehaltener Andacht aufeinander ruhten, trat Hildegard am Arm ihres Bruders eilenden Ganges durch die Hintertür herein. Sie stieß einen Schrei aus, stand einige Sekunden lang wie erstarrt, schritt dann hastiger vorwärts, den Bruder mit sich ziehend, warf im Vorüberwandeln einen 228 langen, stolzen Blick auf Herrn Ulrich und verließ die Halle erhobenen Hauptes.

Ulrich blickte der Entschwundenen nach wie einer ungeheuren Erscheinung aus einer anderen Welt, fassungslos, regungslos.

»Aber das ist ja Wahnsinn!« stieß er nach einem langen Schweigen mühsam heraus.

Auch Lisbeth war heftig erschreckt zurückgefahren, hielt die Augen zu Boden gesenkt, und ihr Gesichtchen glühte von wechselndem Rot.

»Ja«, sagte sie, »es ist ein abscheulicher Zufall, daß gerade dieser Herr uns so überraschen mußte – – oder vielmehr, daß seine Schwester mich schon wieder mit einem anderen Manne zusammen findet und gar nicht weiß – aber hören Sie, Herr Ulrich, Sie müssen die Leute ja doch kennen, sie kommen doch auch aus Frankfurt, Hammer heißen sie, und das Fräulein ist eben jetzt mit dem Onkel August zusammen bei Ihrer Frau Mutter gewesen; Gott weiß, was sie da wollte. Also werden Sie ihnen alles erklären können und mich entschuldigen – Herr des Himmels, was einem in dieser nichtsnutzigen Weinkneipe aber auch alles für Unheil begegnen kann!«

»Lisbeth!« rief Ulrich wie aus einem Zauberschlaf erwachend und beide Hände wild gegen die Stirn pressend. »Also wirklich? Also doch kein Traum? Oh, dann ist es entsetzlich! Über alle Maßen entsetzlich!«

Jetzt erst erkannte sie, wie eine ernste Aufregung seine Seele erschütterte, trat teilnahmsvoll näher und fragte:

»Um Gottes willen, lieber Ulrich, was ist Ihnen? Ich begreife nicht – dies Fräulein kann doch nicht – sie sieht so liebenswürdig aus; und der Bruder – oh, wenn ich bei dem irgend etwas für Sie tun könnte! Sie können mir glauben, der läßt mich nicht vergebens bitten –«

Ulrich machte eine heftige Bewegung und einige Schritte dem Ausgange zu, um jenen Flüchtlingen nachzustürzen, hielt aber plötzlich inne, trat dicht vor Lisbeth hin, faßte sie mit 229 beiden Händen an den Schultern, blickte ihr forschend und flehend ins Auge und fragte mit angstvoll gepreßter Stimme:

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, Lisbeth, gib mir die Wahrheit in diesem Augenblicke und nichts als die Wahrheit! Sage mir auf deine Ehre und auf dein Gewissen, Mädchen: Liebst du mich so, daß du dir kein Leben ohne mich denken könntest? Liebst du mich so, daß du dich in deinem innersten Wesen vernichtet wüßtest, wenn du mir entsagen solltest? Liebst du mich so, daß du alles tun und alles wagen würdest, mich dir zu erhalten oder zu gewinnen, daß du auch in die Welt hinausgehen könntest, mit fremden Menschen um mein Glück zu kämpfen? Liebst du mich so grenzenlos, so selbstverloren? Ist dir's unmöglich, dir vorzustellen, du könntest jemals einen anderen Mann noch lieber haben als mich? Die Wahrheit, Lisbeth, ich verlange die ganze Wahrheit!«

Sie hatte verstört und scheu in seine heißerregten Züge geblickt; bei der letzten Frage aber ward sie von jäher Glut übergossen, legte die Hände über die Augen und stotterte:

»Ach, Ulrich, so – so – ach nein, so schrecklich kann ich überhaupt nicht lieben!«

»Oh, liebe Lisbeth!« rief er tief aufatmend aus, indem er ihre Hand ergriff und feurig küßte, »das ist für mich die herrlichste Gnadenbotschaft! Denn so, gerade so liebe ich dies andere Mädchen, das soeben gleich einer himmlischen Erscheinung an uns vorüberschritt, und so, mit solcher heiligen Liebe liebt sie mich! Von diesem Augenblicke an weiß ich das wie durch eine göttliche Verkündigung – es war ein Wahnsinn der dumpfsinnigen Verzweiflung, wenn ich meinte, ihr je entsagen, je ohne sie leben zu können. Und nun ist's gut, nun fallen die Ketten der grüblerischen Selbstqual von mir ab, ich atme wieder frei, ich fühle wieder Kraft, zu handeln und zu kämpfen, wo ich kämpfen muß, ich fühle wieder gesundes Lebensblut in meinen Adern! So klar und freudig schlägt mein Herz seit all den Jahren zum erstenmal. Ich fühle wieder das heilige Recht in mir, nach einem eigenen schönen Ziele zu streben. Ja, Lisbeth, und auch für Sie kämpfe ich, auch Ihr Herz soll frei werden von dem heimlichen Zwange, den es in 230 großmütigem Liebesirrtum sich selber antat, auch Sie sollen frei werden für ein eigenes volleres Glück. Wie es mir geschah, wird auch bei Ihnen auf den flüchtig schwärmerischen Morgentraum eines ersten sanften Empfindens die freudige Tagesglut einer echten Leidenschaft folgen, die nicht zu entsagen vermag, und die gepaart ist mit unbezwinglicher Treue. Noch einmal danke ich Ihnen von ganzem Herzen für Ihre schlichte Wahrhaftigkeit; Sie sind mir dadurch für alle Zeit zu einer lieben Schwester geworden. Und nun verargen Sie es mir nicht, wenn ich ohne Verzug meiner edlen Geliebten nacheile, mich zu ihren Füßen zu werfen und ihr die Seltsamkeit des eben erblickten Schauspiels zu erklären. Und dann will ich an ihrer Hand vor meine Mutter treten und die glückerfüllende Gnade empfangen, die sie mir nicht mehr versagen kann, wenn sie anders sich selbst und ihrer segnenden Liebesfülle treu bleiben will. Oh, ich Glücklicher, ich kenne meine Mutter! – Lisbeth, darf ich gehen, von Ihrem freundschaftlichen Wunsche begleitet, als Ihr herzlich ergebener, treuester Freund?«

Sie sah ihn noch immer mit großen, staunenden Augen an, ohne die vollkommenste Überraschung schon ganz bemeistern zu können.

»Aber natürlich«, stotterte sie, »ich werde doch nicht so sein! Wenn Sie das schöne Frauenzimmer doch einmal so fürchterlich lieben – mein Gott, glauben Sie mir, ich würde mich geradezu ängstigen, wenn in mich einer so unmäßig verliebt wäre und sich so aufgeregt dabei gebärdete wie Sie – nein, das wäre nichts für mich, das sehe ich jetzt ein! Aber sehen Sie, ich merkte es gleich, daß es mit dem Küssen und solchem Verlobungszeug nicht so recht gehen wollte. Also machen Sie nur, daß Sie zu Ihrer richtigen Braut kommen und zu Ihrer Frau Mutter und zu – – ach, du lieber Himmel, Herr Ulrich, aber was mir da einfällt! Wir haben ja an Onkel August nicht gedacht, was der dazu sagen wird, und an den muß man doch gerade immer zuerst denken, wenn man nicht in des Teufels Küche kommen will! Ich kann Ihnen nur raten, gehen Sie, um Gottes willen, nicht zu Ihrer Mutter 231 ohne seine Erlaubnis! Übrigens können Sie das auch gar nicht, wenn er Sie nicht einläßt. Aber wissen Sie was? Laufen Sie jetzt zu Ihrer Braut, und halten Sie sich da verborgen und mäuschenstill; und ich werde inzwischen beim Onkel ein bißchen herumtappen und sehen, was Sie für Aussichten haben. Ich sage ihm ganz einfach, daß ich ihm nun gehorchen will und auf alle meine vorigen Wünsche Verzicht leiste, wenn er eine passendere Partie für Sie im Auge hat – nun, und da werde ich denn schon hören. Und nachher stecke ich mich dann mit Ihrer Frau Mutter zusammen, und da werden wir schlimmstenfalls schon ein Mittelchen finden, dem Herrn Onkel etwas vorzuflunkern und ihn ganz sachte nach unserem Willen herumzulenken. Also, bitte, machen Sie nur, daß Sie fortkommen!«

Ulrich war unter ihren Worten betroffen und nachdenklich geworden; jetzt sagte er schnell und bestimmt:

»Nein, Lisbeth, so geht es nicht. Ich vergaß, daß ihm noch mein Wort verpfändet blieb. Noch bin ich ein Unfreier, bis ich es gelöst habe. Ich darf nicht hinterhaltig gegen ihn verfahren, solange dieser Bann auf mir ruht. Also vorwärts zu ihm; jede Minute ist mir kostbar; leben Sie wohl für jetzt, liebe Freundin – und eine Bitte noch: gehen Sie nicht zu meiner Mutter; sie soll nicht beunruhigt werden, ehe diese Dinge geordnet sind, keine Sorge und kein Kampf soll ihr das Wiedersehen trüben. – Lassen Sie mich nur, liebes Kind, den Weg finde ich schon selber.«

Ihr herzlich beide Hände schüttelnd, wandte er sich ab und schritt zur Hintertür hinaus.

Lisbeth zog sich langsam in die Nische zurück, in der sie vor kurzem mit dem anderen Freunde gesessen, sank auf einen Stuhl, faltete die Hände über den Knien und seufzte: »Ach, wie sonderbar! Ach, wie sonderbar!«

Wieder aufblickend bemerkte sie auf dem Tischchen das vereinsamte Trinkgeschirr, die Gläser noch halb gefüllt. Ein leiser Schreck durchbebte sie, schnell überwunden von einer Empfindung sanfteren Behagens, als ob ein Halbbekannter uns einen traulich lieben Gruß zuwinkt. Ihre Hände lagen auf 232 dem Tische und schlichen langsam dem grünen Humpen näher, in dessen Rundung ein blinkender Lichtschein sich gefangen hatte.

»Und aus dem Becher haben wir beide getrunken!« flüsterten ihre Lippen heimlich, und ihr Blick glitt ängstlich forschend in die Runde. Da nichts Verdächtiges sich regte, griffen die schleichenden Hände zu, umklammerten das Trinkgehäuse und hoben es auf, indes ein helles Erröten über das vorgeneigte Antlitz flog. Der feurige Rheinweinduft stieg auf und umwebte freundlich ihre Sinne: sie nippte und trank und freute sich wohlig nachkostend des edlen Feuers. Und dann trank sie noch einmal und lächelte, und zum drittenmal, und ihr selber schien, als ob ein inneres Lächeln wärmend durch alle ihre Glieder ginge. Ihr Sitzen schien ihr mehr ein schwebendes Schreiten wie über Wolken; sie lehnte den Kopf wider die Wand zurück und begann mit offenen Lidern zu träumen. Und immer sah sie über dem Rand des großen Glases den Kopf eines Mannes mit schwärmerischen, sanften Augen, der ihr zutrank und trinkend eine schwärmerische Rede hielt; ihr aber dufteten seine Worte in die Seele hinein wie lauter feurige Rheinweinblume.

So saß sie lange in wonniger Einsamkeit und kneipte tapfer wie ein gelernter Frühschöppler.

Zuletzt aber fielen ihr bei der ungewohnten Arbeit die Augen zu, und sie entschlummerte, die Hände gefaltet und lächelnd. Aber noch immer sah sie im Traume Herrn Hartmut, jedoch nun in Haltung und Gebärde eines Mannes, der entschlossen ist, sich zu verloben, und besser zwar, als es jener Ulrich vermocht hatte. –

Der leibhafte Herr Hartmut aber hielt in diesem Augenblicke ein anderes Mädchen umschlungen, das den Kopf an seiner Schulter barg und weinte.

»Liebe, gute Hilda«, tröstete er, »laß dir die traurige Enttäuschung nicht zu nahegehen. Wenn es schon eine Enttäuschung ist – wenn nicht vielleicht erst ein rechter Irrtum. Mir wenigstens erscheinen alle Dinge hier so wunderlich verwirrt, daß mir das klar Geschaute doch nicht sicherer ist als 233 ein flatternder Traum. Ich bitte dich, laß uns still verweilen und abwarten, ob nicht das Dunkel dieser Begebenheit doch etwa zuletzt in unverhofftem Sinne sich lösen möge –«

Hildegard riß sich plötzlich aus dem Arm ihres Bruders, trat einen Schritt in die Tiefe des Zimmers zurück und rief hastig, die Stimme schwer vom Schluchzen befreiend:

»Nein, nein, ich muß fort von hier, sogleich, in dieser Stunde! Die Luft hier will mich ersticken. Fort, nach Hause – nein, nicht nach Hause, irgendwo ins Freie, in die Welt hinein, vielleicht, daß ich in unbekannter Ferne dieses Unheil vergesse, das auf mir lastet wie eine zehrende Krankheit. Hartmut, ich habe es nie ertragen können, krank zu sein.«

Der Bruder legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm:

»Es ist aber auch nie deine Art gewesen«, sagte er, »vor der Zeit eine Sache verloren zu geben. Vor wenig Stunden noch warst du so ganz voll Freudigkeit und Glauben, ließest nichts Dunkles an deine Seele dringen – und nun, was wir mit Augen sahen, scheint doch nichts anderes, als was wir halb schon wußten; noch ist nicht ausgemacht, ob dieser Mann das Mädchen wirklich liebt; eine dunkle Ahnung lebt in mir, er könne das Opfer eines seltsamen Irrtums oder eines unbekannten Zwanges sein, er müsse doch im Herzen dich nur lieben –«

»Ja, siehst du, lieber Hartmut«, unterbrach sie ihn, »es könnte sein, daß gerade solch eine Ahnung mich so schnell von hier forttreibt. Es könnte sein, daß ich diesen Irrtum und diesen Zwang genau durchschaue und erkenne – und das will ich nicht, um alles in der Welt will ich diese häßliche Erkenntnis nicht haben. Wenn ich jetzt fortgehe und mich für immer verberge, so kann ich den Glauben mit mir tragen: ich habe mich geirrt, der Mann hat nie etwas anderes für mich empfunden als menschlich kühles Wohlwollen. Und das ist gut für mich, mit diesem Glauben werde ich meinen Schmerz verwinden können. Es ist schwächlich, um etwas lange zu trauern, das man nie besaß und nie gewinnen konnte. Und mir bleibt der Trost: ich habe einen wackern, ganzen Mann geliebt, der jeder Liebe würdig war, wie sollte ich mich dessen schämen? 234 Und nicht einmal das beschämt mich, daß meine Hoffnung irrig war; nein, ich bin stolz darauf, daß diese Hoffnung mich trieb, für ihn etwas Gutes zu wagen, von der Überlast seiner Wohltat mich selbst zu befreien. So kann denn alles freundlich und in milder Trauer enden. Wenn es aber anders wäre – wenn er etwas Tieferes empfunden hätte und doch der Laune seiner Mutter sich beugte – der Tor! einer scheinbaren Laune! – sieh, Hartmut, das wäre das Schrecklichste, das würde mir den reinen Schmerz vergiften, wenn ich mir sagen müßte, daß meine Liebe selbst ein Irrtum war, daß ein Mann, der seine Liebe schwachmütig opfern konnte, keiner starken Liebe würdig war – – und wenn er vielleicht käme, und ich müßte ihn von mir stoßen mit zuckendem Herzen – – nein, Hartmut, laß mich nicht mit dem Glücke den Glauben zugleich verlieren, gönne mir die tröstende Täuschung; komm mit mir fort aus dieser Stadt; jetzt, auf der Stelle; besorge du den Wagen, indes ich hier oben die Koffer rüste; im ersten Wirtshaus vor dem Tore will ich einen Bissen und einen Trunk genießen, hier in diesen Mauern vermöchte ich es nicht. Lieber Hartmut, noch einmal, ich bitte dich herzlich: laß uns eilen! Du mußt meine Hast begreifen können.«

Der Bruder blickte verlegen und zaghaft.

»Ich begreife das wohl«, sagte er, »und wenn ich auch nicht ganz dein strenges Empfinden teile, so möchte ich dir doch von Herzen gern zu Diensten sein, dich begleiten auf deiner traurigen Heimfahrt; aber sieh, ich kann nicht, heute nicht, vielleicht auch morgen noch nicht; ich habe hier noch eine Aufgabe zu erfüllen –«

»Eine Rede zu halten! Und weiter nichts?« rief sie heftig, »und darum soll ich hier in Angst ersticken! Laß den Vortrag abbestellen, du wirst keine Menschenseele unglücklich machen, wenn sie deiner Weisheit verlustig geht!«

»Wenn nur das wäre«, erwiderte Hartmut sanft, »wie gern wollte ich die arme Weisheitskrämerei dir opfern. Aber es ist noch ein tieferer Grund, der mich hält: ich habe diesen seltsamen Alten aufgefordert – doch auch das ist nicht das Letzte, Bestimmende. Sondern dies ist's: in jenem furchtbaren 235 Augenblicke – man erzählt von Ertrinkenden, daß in den letzten flüchtigen Sekunden ihres Bewußtseins ihr ganzes Leben wie ein blitzschnell aufgerolltes Rundgemälde an ihnen vorüberziehe: und ähnlich erging es mir: ich sah wie in einem Spiegel die ganze Armseligkeit meines bisherigen Daseins grell vor mich hingerückt, in der einen schweren Beschämung empfand ich die Schmach aller anderen Jahre, die Schmach der Feigheit, der Tatlosigkeit, des schwachmütigen Taumelns; und dann erschien mir wie ein tröstender zugleich und mahnender Engel die Duftgestalt des geliebten Mädchens, aus dessen Munde ich soeben eine süße Verheißung vernommen hatte, die mich zehnmal tiefer beschämte als alles andere: sie wolle zu mir aufblicken, so sagte die Unschuldsvolle, wie zu einem Ideale! Und wie ich das nur mit heißem Erröten nachzusprechen wage, so fühle ich um so gewaltiger, unwiderstehlicher die innere Nötigung, den hundertsten Teil der mir gezollten ungerechten Achtung mir zu verdienen: ja, Hildegard, ich kann nicht aus diesem Orte weichen, ehe ich ihr und dem strengen Manne dort bewiesen habe, daß dennoch eine bessere Kraft in mir wohnt, daß ich imstande bin, den zähen Gegendruck meiner schlaffen Natur zu überwinden und mit männlicher Tat mich würdig des menschlichen Namens zu zeigen. Verspotte mich nicht um solches ungewohnten Ehrgeizes willen; ich leugne es nicht, ich bin ein anderer geworden in der kurzen Spanne Zeit, die ich in dieser Stadt verweile; es ist mir, als fühle ich in dieser träumerischen Ruhe den lebendigen Hauch einer verborgenen Riesenkraft wehen und wittern, und es wollen auch in mir gebundene Kräfte sich lösen und regen. Hildegard, gönne es mir, daß ich versuche, ein Besserer zu werden.«

Sie reichte ihm herzlich die Hand und sagte mit einem traurigen Lächeln:

»Wie sollte ich dich stören in einem Vornehmen, das ich in schwesterlicher Wohlweisheit dir nur zu oft schon gewünscht habe? Gut, wir wollen uns trennen, solange es nötig ist; du bleibst hier, und ich gehe allein voraus; ich bin gewiß, daß gerade die Einsamkeit mein bester Balsam sein wird; und 236 seit ich dies Land kenne, fürchte ich mich nicht mehr, allein zu reisen. Ich versehe mir nichts Arges von den Leuten, es müßte denn ein bißchen Grobheit sein, die ich allenfalls vertragen und dankend in die Tasche stecken kann. Ja, ich werde eine Lust daran haben, mich tapfer mit ihnen herumzuschlagen. Ich will es gestehen, auch in mir hat der wunderliche Mann, dieser Rittmeister, etwas Neues aufgeregt, ein stilles Verlangen, eine Kraft zu betätigen, etwas Gutes, etwas Großes zu tun, ohne Frage nach dem Nutzen für mich. Für dies Preußen sogar möchte ich etwas tun, etwas recht Herzhaftes, beschämen möchte ich den alten Murrkopf – und noch einen anderen außer ihm, ja, zeigen möchte ich ihnen, daß sie etwas an mir verlieren. Wenn Krieg wäre – sieh, so seltsam ist das mit mir auf einmal; auch ich ahne in der stummen Ruhe hier etwas Kommendes, etwas Schreckliches und Herrliches, einen Sturm, wie er nie gesehen wurde, in jedem Auge, so stumpf und kühl sie blicken, lese ich die gleiche Spur einer wilden Sehnsucht – ja, Hartmut, wenn hier erst Krieg wäre, rechter Krieg, sieh, dann glaube ich, könnte auch ich einen Weg finden, etwas Rechtes zu tun, noch weiß ich nicht was, aber etwas Rechtes, und darin mein eigenes Leid zu vergessen oder zu übertäuben. – Da siehst du nun, wie gut ich dich begreife und wie gern ich dich hier lasse, dem Wunsche deines Herzens Genüge zu tun. Ich aber, das verstehst du nun auch, ich kann nicht bleiben. Tu mir also jetzt die Liebe, mit dem Wirte zu sprechen, daß er mir so bald als möglich ein Fuhrwerk beschaffe. Und wenn's ein Karren oder ein Leiterwagen ist, es soll mir darauf nicht ankommen.«

Hartmut küßte die Schwester auf die Stirn und eilte, ihrer Bitte nachzukommen. An der Tür jedoch stieß er auf den Hausknecht, der einen Besuch des Herrn Stadtphysikus zu melden kam.

»Ich lasse bitten«, sagte Hildegard, »es ist mir willkommen, von einem der Menschen hier, die uns freundlich entgegenkamen, offenen Abschied zu nehmen.«

Sie eilte in ihr Schlafzimmer, und nachdem sie schnell die Spuren der Tränen abzuwaschen versucht hatte, ging sie dem 237 Eintretenden mit voller Gelassenheit entgegen. Nachdem sie ihn mit ihrem Bruder bekannt gemacht, sagte sie mit einem flüchtigen Erröten:

»Sie finden mich bereits mit dem Aufbruch beschäftigt. Den Zweck meines Aufenthaltes habe ich erreicht, so steht der Heimreise nichts mehr entgegen.«

Der Physikus sah sie verwundert und forschend an.

»Meine schöne Demoiselle«, sagte er, »fast wäre es Ihnen in der Tat gelungen, mich vollständig zu verblüffen. Nur daß vielleicht eine Nachricht, die ich unterwegs auffing, und der Anblick eines Postwagens geeignet ist, mein Erstaunen ein wenig zu lindern. Man spricht von der Ankunft eines fremden jungen Mannes, der doch sogleich mit vollkommener Sicherheit dem Hause gegenüber zusteuerte und darinnen verschwand, um bisher nicht wieder gesehen zu werden. Das gibt zu denken im Verein mit Ihrer Aussage, daß Ihr Zweck erreicht sei. Ich gestehe offen, daß in mir wieder einmal eine gewisse Ahnung sich zu regen beginnt. Nun ist es wahr, daß diese ganz ahnungsvolle Sache mich nicht das geringste angeht – außer der Betrübnis, Ihres Anblicks allzubald verlustig zu gehen und meine dienstfertige Gewandtheit vor Ihnen nicht in das genügende Licht setzen zu können, nachdem ich alles aufs schönste eingefädelt und Ihnen die gewünschte Unterredung für heute abend oder morgen früh mit erfreulicher Sicherheit in Aussicht stellen konnte. Unser lieber Rittmeister wird unschädlich sein und es bleiben, solange das irgend jemand von mir verlangt, und Frau Doris –«

»Mag das immerhin auch so noch für förderlich ansehen«, fiel Hildegard ein, »wenn ich deren Meinung irgend richtig aufgefaßt habe. Sie dürfen Ihre Mühe also nicht verloren halten. Mir aber werden Sie eine kleine Eigenmächtigkeit verzeihen müssen: eine Gelegenheit, die Dame zu sprechen, ward mir in so überraschender Weise durch den Rittmeister selbst geboten, daß ich mit beiden Händen zugreifen mußte –«

»Durch den Rittmeister?« rief der Physikus staunend aus, »das war freilich das letzte, was ich erwarten konnte. Und 238 das ist die erste Tat des alten Narren, die ich mir schlechterdings nicht zu erklären vermag. Entweder ist er von einem jähen Klugheitsanfall ergriffen worden oder seine Dummheit war wider alles Erwarten doch noch einer Steigerung fähig. Meinem Spürsinne aber schwindet der Boden unter den Füßen; ich ergebe mich schweigend in alles, sogar in die trostlose Aussicht auf Ihre Abreise, Demoiselle. Nur das eine dürfen Sie mir nicht antun, diese anzutreten, ehe Sie meinem Hause die Ehre eines raschen Besuches und meiner Küche die Ehre einer flüchtigen Mittagsprüfung angetan haben, Sie und Ihr werter Herr Bruder. Unmöglich kann Ihre Liebenswürdigkeit mir diese letzte Gunst verweigern.«

»Und dennoch muß ich es«, versetzte sie nach kurzem Schwanken, »auf die Gefahr hin, von Ihnen undankbar gescholten zu werden. Ich bin es nicht, aber ich muß den Schein ertragen, wenn Sie nicht großmütig sind und meine Gründe auch unausgesprochen für triftig gelten lassen. Auf jeden Fall muß ich vor Abend noch wieder in Dirschau sein, und Sie sehen ein, daß ich da keine Zeit zu verlieren habe.«

Der Physikus machte ein bedenkliches Gesicht.

»Ihren strengen Willen ehre ich, Mademoiselle«, sagte er, »sowenig er mir erfreulich ist. Und doch erlauben Sie mir die eine Bemerkung, daß Dirschau mir in diesen Tagen nicht ein sehr empfehlenswertes Ziel für junge und hübsche Damen scheint, selbst nicht in der Gesellschaft eines schutzbereiten Bruders.«

»Verzeihen Sie«, mischte sich Hartmut mit besorgter Miene ins Gespräch, »es war nicht meine Absicht, die Schwester heute schon zu begleiten, und so erschreckt mich Ihre Warnung doppelt. Wenn Sie uns gütigst erklären wollten –«

»Für diesen Fall bitte ich allerdings meine Warnung fast einem Verbote gleichzuachten«, sagte der Physikus bestimmt und dringend. »Es ist ein starker Nachschub von Truppen über Dirschau angesagt, württembergische Bataillone, wie es heißt, und man sagt, daß der Umgangston der wackern Schwaben auf dem Kriegspfade mitunter einen etwas starken Überschuß von Gemütlichkeit zeige: Sie wissen, es ist ihre 239 Stammestugend neben dem Sauerkraut: Beides ist gut und rühmenswert, nur nicht für alleinreisende Damen von vorteilhafter Erscheinung; ich bitte Sie, Sauerkraut! Denn Sie können sich darauf verlassen, sie kochen es weder mit Champagner noch geben sie gebackene Austern dazu. Und beides finde ich unerläßlich, um schwäbische Gemütlichkeit – ich wollte sagen Sauerkraut – genießbar zu machen. Ich bitte Sie ernstlich, fahren Sie nicht nach Dirschau.«

»Ja, wohin aber dann?« fragte Hildegard bestürzt, »hierbleiben kann ich nicht. Nicht eine Stunde. Raten Sie mir, Herr Physikus, helfen Sie! Nur – fort muß ich.«

Er sah sie mit einem listig forschenden Blicke an, der sie erröten machte. Dann sprach er nach kurzer Überlegung:

»Es ist mein Schicksal, stets für meinen Schaden zu arbeiten. Also geschehe es auch jetzt. Einen Rat kann ich Ihnen geben, und ich hoffe, einen guten. Fahren Sie heute nach Elbing. Das ist eine gute und tugendhafte Stadt, die Ihnen alle Bequemlichkeit bietet. Zudem können Sie gleich den heimfahrenden Extrapostwagen benutzen, der den besprochenen fremden Jüngling hierher gebracht hat.«

»Denselben Wagen?« fragte sie schnell mit einem sonderbar schwermütigen Ausdruck; doch als sie sein lauerndes Lächeln gewahrte, fügte sie hastig hinzu: »Sie müssen wissen – ein wunderlicher Aberglaube –«

»Ich verstehe vollkommen«, versetzte er gemächlich, »wer sollte nicht abergläubisch zurückschaudern vor einem königlichen Postwagen? Doch in der Not frißt ja sogar mein guter Freund, der Teufel, Fliegen. Und das andere will ich Ihnen auch erklären: es macht Sie stutzig, daß Sie die eigennützigen Beweggründe meines Rates noch nicht zu entdecken vermögen. Hier sind sie: zuvörderst wünsche ich einen dringlichen Brief mit möglichster Geschwindigkeit durch eine sichere Hand – bemerken Sie: eine sehr sichere Hand – an ein Elbinger Handelshaus befördert zu sehen; ich würde Sie um diese Gefälligkeit ersuchen; es ist selbstverständlich, daß ich Sie gleichzeitig dem besonderen Schutze jenes Hauses empfehlen werde, ein schätzbarer Vorteil für Sie. Doch meine Wünsche gehen noch 240 weiter, immer Hand in Hand mit Ihrem Nutzen, Demoiselle. Ich selbst beabsichtige morgen einen kleinen Sommerausflug nach Elbing zu unternehmen. Die Freude, Sie bei dieser Gelegenheit noch einmal wiederzusehen, schätze ich wahrlich nicht gering: und doch ist auch dies noch nicht mein einziges Begehren. Mein Ausflug hat noch ein ferneres Ziel, und da mache ich Ihnen folgenden Vorschlag einer gemeinsamen Aktion: hinter Elbing liegt, wie Ihnen bekannt sein wird, das Frische Haff, ein harmloses Gewässer; dasselbe wird begrenzt durch die Nehrung, einen schmalen Landstreifen von scheußlicher Ungastlichkeit, einzig bewohnt von wandernden Dünen und wandernden Zollwächtern, darunter die letzteren sich einer noch geringeren Beliebtheit erfreuen; jenseits derselben aber dehnt sich in unermeßlicher Bläue das ewige Meer, ein herzerfreuender Anblick für Dichter, junge Damen und Schmuggler. Auf diesem Meere kreuzt zur Zeit nicht allzufern der Küste ein schwedisches Schiff, von Stralsund gebürtig und dorthin zurückbestimmt; und eben das ist die bequeme Reisegelegenheit, die ich Ihnen empfehlen möchte. Im Ernst, es ist eine reizvolle Fahrt, was von preußischen Landwegen selbst ein Schwärmer nicht behaupten wird, die Luft ist mild und stärkend, und von der Seekrankheit, dem männermordenden Scheusal, haben Sie in dieser Sommerszeit wenig zu befürchten. In einigen Tagen haben Sie bei dem schönen Ostwind den halben Weg nach Ihrer Heimat vollbracht: ich glaube Ihnen in der Tat nichts Besseres raten zu können. Und mein Vorteil bei der Sache? Die Antwort auf diese Frage Ihrer schönen Augen ist sehr einfach: ich werde das Vergnügen haben, Sie übers Haff und vielleicht noch weiter bis zu jenem Schiffe zu begleiten, und mich also stundenlang in freier Sommerluft Ihres Anblicks erfreuen; außerdem kann es vorkommen, daß mein Boot unterwegs von einem Regierungskutter oder so einem neugierigen Dinge zufällig angesprochen und über Reisezwecke und verwandte Materien ausgefragt wird: und diese trockene Unterhaltung wird sich sehr abkürzen durch die einleuchtende Wahrscheinlichkeit meiner Angabe, daß ich einer reizvollen Dame, die mit allen Pässen und 241 Legitimationen köstlich ausgestattet ist, als Arzt das Abschiedsgeleit zu ihrem Schiffe gebe. Man könnte sonst irgendeinen unbestimmten Verdacht fassen und mich in der Stille beobachten – und ich bin leider eine so verschämte Natur, daß mir das bloße Bewußtsein, beobachtet zu sein, sofort alle Unbefangenheit und Freudigkeit des Auftretens raubt. Und das möchte ich vermeiden. – Meine allerschönste Demoiselle, Sie entdecken in dem schaukelnden Rankenwerk meiner Rede mit Leichtigkeit den einen festen Punkt, daß ich Ihnen auf Ihr ehrliches Gesicht hin ein nicht gewöhnliches Vertrauen schenke; ich darf Sie also getrost auffordern, mir das gleiche zu tun – nicht auf mein Gesicht hin, so Unbilliges verlange ich nie: sondern weil Sie mich nun so sicher in der Hand haben wie einen wohlgefügten Hampelmann. Wenn Sie mir Papier und Feder anvertrauen wollen, schreibe ich hier sogleich meinen Brief und benachrichtige dann den Postillon, welches Glück ihm und seiner Vaterstadt bevorsteht. Sie aber, geehrter Herr Doktor, werden immerhin so viel Mitleid mit meiner Verlassenheit und so wenig Ausflucht haben, daß Sie mir die Beihilfe bei meiner schlichten Mahlzeit nicht weigern können.«

Hildegard, zunächst nicht wenig überrascht durch die Neuheit des Vorschlages, fand ihn nach kurzer Überlegung höchst annehmbar, ja vortrefflich, dankte dem wunderlich hilfreichen Männchen von ganzem Herzen, und verabredete mit ihrem Bruder, daß er in Berlin im Gasthof »Zur Sonne« wieder mit ihr zusammentreffen oder mindestens zunächst sie schriftlich verständigen solle. Binnen einer halben Stunde fuhr sie unter fröhlichem Posthornklang, sie selbst in Tränen, die Straße hinauf, dem Elbinger Tore zu.

Hartmut, bewegt und nicht ohne Sorgen, folgte nach kurzem Widerstreben der Einladung des fremden Mannes zum Mittagessen. 242

 


 


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