Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Erstes Kapitel

Abenteuer, Gesichter und Träume eines Philosophen in einer stillen Stadt.

In den nordöstlichen Marken des Reiches, im alten Machtgebiet des Deutschen Ordens und der gewaltigen Hansa, liegt unfern dem Haff und dem Ostseegestade ein Städtchen, das sich eines uralt hochgelobten Namens erfreut, das aber nun schon seit langer, langer Zeit friedselig über seinen Ruhmeskränzen eingenickt ist und sich neuerer Großtaten behutsam entschlagen hat. Inmitten einer breiten Fruchtebene ruht es weltabgekehrt in selbstvergnügter Beschauung seiner Vergangenheit; von den reichen Gefilden her führt eine wacklige Schiffbrücke über den Fluß durch ein paar winkelhafte Gäßchen unter dem altherrlichen Ritterschlosse hin in die eine breite Hauptstraße hinein, die eher einem langgedehnten Marktplatze ähnlich sieht. Hier geht das tägliche Leben gesetzt und ruhevoll, ohne unnötiges Lärmen seinen Weg; selten nur holpert ein müdes Wäglein über das Pflaster, das unmutig widerstrebende; und das wenige schüchterne Treiben und Handeln wird halb noch verborgen und abgedämpft durch die ehrwürdigen Bogengänge, die zu beiden Seiten der Straße ohne Unterbrechung unter den spitzgegiebelten Häusern hinlaufen oder richtiger hinschleichen, die redlichen Bürger vor den Unbilden des Regens oder der Sonne behaglich zu schützen.

Vor diesen steinernen Lauben aber auf der freien Straße sind für gute Sommertage gewisse viereckige Räume, die kleinen Schafhürden gleichen, durch niedrige Holzwände abgezäunt und mit Bänken und Tischen ausgestattet; sie sind dazu bestimmt, am Feierabend und an Sonntagen den Besitzern ein ungestörtes und standesgemäßes Ruheplätzchen zu gewähren.

So ist es heute, und so war es vor hundert Jahren auch 6 schon; denn es hat sich seitdem nichts geändert im Gesichtskreise des schönen gotischen Rathauses, das diesen stillen Markt beherrscht, nur daß an die Stelle der Großväter die Enkel getreten sind, die den Kleiderschnitt ein wenig verändert und den Zopf abgelegt haben, soweit solcher äußerlich am Hinterhaupte sichtbar ist. Sonst ist alles beim guten alten geblieben.

Und doch hat der große Wirbelsturm der ersten fünfzehn Jahre unsres friedliebenden Jahrhunderts auch dies schlummerfreudige Städtchen zu finden gewußt und es gelegentlich recht gründlich und recht schmerzhaft mit ausgefegt: das geschah, als das große Heer des großen Kaisers über Preußen hinweg nach Rußland hineinzog, daselbst in den endlosen Ebenen des unbekannten Ostens verschwindend, wie eine Wanderdüne vom Meeresstrande her ostwärts über die Nehrung zieht, zermalmend und verödend, bis sie das Ufer des Haffs erreicht hat und zuletzt sich selbst in dessen Fluten begräbt.

Damals ist der glänzende Siegesfürst höchstselbst zwischen diesen ernsthaften Pfeilern und Giebeln hingeritten, ohne daß seine freudenarmen Augen etwas empfanden von der anheimelnden Schönheit der Stätte und von ihrem Frieden. Und die Bürger sahen die ungeheuren Massen der neuen Völkerwanderung durch ihre Straßen oder an ihren Mauern vorüber durch die Ebene drängen, ungezählte Tausende in kriegerischem Schmuck und blühender Jugendschönheit, und sie sahen alle bunten Trachten und hörten alle bunten Sprachen, die das völkerreiche Europa kennt; und Kanonen rasselten vorüber in unbegreiflicher Menge, genug, dem Anscheine nach, um das ganze Menschengeschlecht vom Erdboden zu vertilgen; Pferde stampften und wieherten, dazwischen Peitschenknallen und Säbelklirren, Knarren und Poltern der Räder, manchmal auch wohl ein Krachen und Knattern einer zerbrechenden Achse oder Deichsel, oder gar der Knall einer im Gedränge sich entladenden Flinte: und all dies betäubende Toben den ganzen Tag hindurch und Tage um Tage über die hohle Brücke rollend und dröhnend gleich ewig rollendem Donner. Und wie das Ohr überwältigt und abgestumpft ward von dem unförmlichen, nie sich mildernden Lärm, so wandte sich das Auge 7 zuletzt übersättigt und schmerzend ab von dem ewig gleichen Gleißen und Blitzen der Bajonette, dem zuckenden Flattern der Fahnen, dem Schillern der Adler, dem Funkeln der spiegelblanken Kanonen und all der unzählbar sich wirrenden Buntheit der Uniformen, Helmbüsche und Schabracken.

Und nun war das wirre Schrecknis vorübergegangen und hatte hinter sich eine schwere Stille zurückgelassen, eine Stille der Ermattung und des dumpfen Bangens vor dem, was später kommen mochte; denn nichts Arges schien mehr unmöglich zu sein in dieser neuen Zeit. Unterdessen stampfte das große Heer unaufhaltsam seinen Todeszug nach Moskau weiter.

In diesen stillen Tagen war es ein Sonntag, und zwar vom ganzen Jahre der wärmsten und friedlichsten einer. Die Bürger saßen nach Sippen geordnet in ihren Hürden und verhielten sich fast so ruhig wie die alten Linden, deren Blätter schlaff und müde in der stummen Hochsommerluft von ihren ungeregten Zweigen niederhingen. Die Sonne war schon genügend nach Westen gegangen, um nicht mehr durch allzu mächtige Strahlen das menschliche Behagen zu stören; überdies ward ihre Glut nun ein wenig gemildert durch einen leisen Dunstschleier, der den Himmel überzog und auch unten beruhigend um die beglänzten Häuser zu weben und alles Grelle und Störende sanftmütig zu verhängen schien. Die Fenster standen überall von den breiten Gewölbebogen bis in die Spitzen der Giebel hinauf weit offen, und von ihnen schien ein schlummertrunkenes Atmen der stummen Häuser auszugehen und eine leis wallende Bewegung in das ruhende Bild zu bringen gleich den sanften Regungen auf dem Angesicht eines sorglos Träumenden. Vor allen Fenstern und in den Wölbungen bis auf die Straße hinaus standen Blumentöpfe, grüne und blühende, eine bunte, köstliche Fülle: das einzige Besitztum vielleicht, das den Bürgern ganz unangetastet geblieben war in der feindlichen Sturmflut.

Die merkbarste Spur bewegten Lebens strömte noch von den Sitzen der Männer aus in Gestalt eines stillen, dicken Pfeifenrauchs, der sich ganz langsam nach oben verflüchtigte 8 und dort noch einen zweiten künstlichen Flor über die Stirn der hohen Giebel legte. Die feiernden Menschen saßen ernst vor ihren längst schon leeren Kaffeekannen und Tassen und schauten sie an; und einige nähten oder strickten dazu: doch auch diese machten nicht viel Worte, obgleich sie Frauen waren, und wenn sie redeten, so geschah es in sonntäglichem Flüsterton im Kreise der nahe sitzenden Anverwandten. Die Frauen trugen große hellfarbige Hauben und die Männer kleine schwarze Käppchen auf den Köpfen, so daß die Straße aus der Vogelschau etwa einer gemischten Schmetterlings- und Käfersammlung gleichen konnte. Von Zeit zu Zeit aber löste sich eine der ruhenden Gestalten von ihrem Familienbezirke ab und bewegte sich sachte und feierlich wie auf stillem Wasser schwimmend einem benachbarten Verschlage zu, um mit den Insassen desselben ein mildes Gespräch zu eröffnen.

Kleine Mädchen saßen auf den Steinfliesen zwischen den Pfeilern lang aufgereiht wie die Spätzchen, zwitscherten ganz heimlich nur von Mund zu Ohr und blickten sittsam auf ihre Strickstrümpfchen oder manchmal auch mit verhaltener Sehnsucht in den blauen Himmel hinaus. An Knaben fehlte es gänzlich im Revier; sie mochten, noch nicht gereift für eine so eindringliche Sonntagsruhe, irgendwo draußen vor den Toren ihr lärmvolles Wesen treiben.

So lag alles Leben der weltvergessenden Stadt in Frieden eingesponnen, als in die Bogenöffnung zwischen zwei Pfeilern ein junger Mann hinaustrat, der offenbar alsbald von aller Augen als nicht ortszugehörig erkannt und mit stillen Blicken halb bedrohlich gemessen wurde. Und doch hatte er im Grunde etwas sonderlich Auffallendes nicht an sich, nur daß etwa seine Kleidung um einen Strich glatter angepaßt und zierlicher gebügelt, auch wohl im Stoffe feiner war, als das die Landessitte forderte oder billigte, während zugleich seiner Haltung sowohl wie seinen Gesichtszügen ganz das friedselige, in sich ruhende Wesen der feiernden Sonntagsbürger fehlte; er sah vielmehr etwas mager, etwas hastig und etwas furchtsam aus, sein feiner Mund verriet vielleicht mehr Witz und sicher weniger Behagen, seine Stirn die stille Arbeit von Gedanken: 9 alles Dinge, die nicht ganz genau in den städtischen Gesamtfrieden hineinpaßten.

Auch empfand er selbst in der Tat sogleich seine Fremdheit peinlich. Im ersten Antrieb zwar hatte er sich harmlos an die offene Sonne hinausgewagt; doch als er nun all jene ernsthaften Gesichter auf einmal regungslos sich zugekehrt sah gleich lauter breiten, glänzenden Sonnenblumen, da erkannte und bereute er schnell die Verwegenheit, sich ungedeckt den vorwurfsvollen Blicken einer ganzen Stadtbevölkerung auszusetzen, und zog sich verschämt in den tiefsten Schatten der Wölbung zurück. Jedoch ließ er sich nicht abhalten, von dorther seine sinnende Umschau über Steine, Bäume und Menschen fortzuführen und seine Beobachtungen bedeutsam mit Gedanken zu durchflechten.

›Welch eine Stimmung in diesem schlichten Bilde!‹ dachte er; ›und welch ein Bild für eine Ruhe verlangende Seele! Wie alles hier in Farbe getaucht ist, als stünde man durch ein Wunder ganz weitab in südlicheren Zonen, und wie doch dieser schwimmende Duft, dieser trauliche Sonnennebel über all dem heißen Glanz mich wieder so ehrlich nordisch anmutet! Und diese mittelalterliche Traumseligkeit, dieses beglückte Dämmerleben kampfloser Menschenkinder, dies märchenstille Selbstgenießen der alten Stadt! Fast möchte ich glauben, ich sei auf einem Irr- und Zauberwege in ein altes schöneres Jahrhundert hineingeraten, das fünfzehnte vielleicht oder sechzehnte – nein, die sind viel zu lebendig, zu wild bewegt von trotziger Leidenschaft: das vierzehnte mag es sein, die Zeit des ehrbaren, frommen, still in sich schaffenden, mit Maßen strebenden Bürgertums. O wer sich hier mit versenken könnte in einen erquickenden Dornröschenschlummer der Seele, wer nie zurückzukehren brauchte in dies rasselnde, waffenstarrende, ewig gehetzte und ewig hetzende neue Jahrhundert draußen! Warum mußtest du, Schicksal, grausam oder gedankenlos mich in eine solche Zeit verstoßen, warum mich mit meinem ungepanzerten Herzen mitten in den entbundenen Kampf der ehernen Kräfte stellen, statt mich in wohltätiger Friedensenge ein bescheiden hinrollendes Dasein genießen zu lassen? Hier in 10 abgeschnittenem Raum, in dauernder Sonntagsruhe des Gemütes wäre mein Platz gewesen, nicht draußen im wechselvollen Ansturm eines unbarmherzig zupackenden Lebens und verhaßten kriegerischen Treibens. Hier möchte ich verweilen wie auf einer Märcheninsel, hier im beruhigten Pulsschlag maßvollen Dämmerglückes meine Tage führen und in freudiger Einsamkeit ruhevoll reifende Gedanken spinnen! –

Der also klangvoll in sich selber redete, vernahm auf einmal hinten von dem spitzbogigen Tore her eine gräßlich schmetternde Musik, die aus einer fremden Welt zu kommen schien, so unvermittelt gellte sie in den wonnesamen Frieden des Städtchens hinein. Es war ein wildes Trompetengeknatter, die Töne schwirrten schnarrend mit entsetzlicher Willkür durch die Luft, Höhe und Tiefe regellos mit gleichgültigem Hohn durchtaumelnd, während doch zugleich der Takt mit tadelloser Strenge innegehalten blieb.

Heftig erschreckt und ein wenig verblassend blickte der nachdenkliche Fremdling nach jener Richtung, zu sehen, was des Greuels das werden wolle.

Eine Rotte Knaben verschiedenen Alters kam der Sonnenhitze zum Trotz in sehr schneller Gangart die Straße heraufmarschiert, glühend und schwitzend, der Größe nach mit peinlicher Genauigkeit in Reihen geordnet, pausbäckige, flachsköpfige junge Kerle mit Gesichtern, die von Stolz und Eifer strahlten. Dem wackern Trupp zur Seite aber schritt mitten in der Sonne barhäuptig ein Mann in vorgerückten Jahren, nicht groß, drall, fest, sehr aufrecht, feurigen Auges, mit raschem Gang und sicherem Gebaren. Sein kurz verschnittenes schneeweißes Haar stand steif wie eine Bürste gegen die Sonne, seine Hand hielt einen beträchtlichen Reitersäbel wider die Schulter gelehnt.

»Halt!« donnerte dieser Hauptmann, als er bis in die Nähe des hübschen gotischen Rathauses gekommen war; und wie von einem magischen Bande an den Beinen festgehalten stand der ganze Zug urplötzlich in steinerner Haltung still vom ersten bis zum letzten Gliede.

»Achtung!«

11 Keiner, auch der Kleinste, regte einen Finger mehr.

Jetzt zog der Alte eine Signalpfeife hervor und ließ einen schrillen Pfiff ertönen. Die Knaben verrieten nur durch ein leises Seitwärtsrucken der Augen eine innere Aufregung oder Erwartung.

Nach einigen Minuten festen Schweigens sprangen aus einer Haustür zwei Kellnerinnen hervor, jede mit einer stattlichen Zahl von schäumenden Biergläsern beladen, und stellten sich neben den jugendlichen Reihen prächtig auf, auch sie in einer nicht unkriegerischen Haltung.

Die Augen der Kinder zeigten ein verdächtiges Leuchten; eine kaum wahrnehmbare Unruhe zuckte durch ihre Glieder.

Ein Blick des Feldherrn streifte ruhevoll über ihre Häupter hin, und keine Wimper regte sich mehr; die kleinsten Knirpse standen wie Bleisoldaten. Selbst die Kellnerinnen verharrten in gezügelter Haltung.

Nach minutenlanger Pause endlich ein scharfer Befehlsruf:

»Rührt euch! – – Faßt die Gläser!«

Die Kellnerinnen besorgten ruhig die Verteilung.

»In Mundhöhe – – Setzt an!«

Alles ward mit untadeliger Pünktlichkeit ausgeführt. Jeder hielt sein Glas, der Höchstkommandierende nicht ausgeschlossen, und jeder hielt es gefährlich nahe dem durstigen Mund, die jungen roten Lippen lechzten, und die Augen funkelten von gesunder Begierde.

So mußten die tapfern Kerlchen stehen, bis ihnen die Arme erlahmten und langsam zu sinken begannen.

Nun endlich ein neues Kommando, ganz ruhig, ganz gelassen.

»Absetzen! – – Zurückgeben!«

Ohne einen Augenblick zu zögern, ließen die Jungen sich den ersehnten Labetrunk wieder aus den Händen nehmen. Freilich ging ein heimlich Stöhnen durch die Schar, und manch ein dickes Tränchen erglänzte, als gar der alte Gewaltmeister selbst sein Glas getrost an die Lippen setzte und vor aller Augen ohne Hast bis auf die Nagelprobe leerte.

12 »Ganzes Bataillon rechtsum kehrt!«

In der schwebenden Hitze ging es die Straße wieder hinab und noch einmal zum Tore hinaus.

Der zugewanderte Fremdling ward durch diesen Auftritt zu herbem Mitgefühl erregt.

»Die armen Büblein!« sprach er zu sich selber. – »Welch eine Barbarei! Mit wie scheußlicher Seelenruhe der alte Sünder seinen Begierden frönt und läßt die hilflosen Kleinen kaltherzig neben sich verschmachten! ›Lasset die Kindlein zu mir kommen!‹ Nie sah ich eine rohere Verkehrung des holden Liebesworts. Nun freilich merke ich es wohl, daß ich ins echte Preußenland gekommen bin, die letzten Grenzen westländischer Art und Anmut überschritten habe. Zeigt noch der Himmel nicht die verheißene Rauheit, so tut's desto mehr die Sitte der Menschen.

Welch eine Verwegenheit, vom Ilissos zum Eurotas zu reisen, vom Rheintal ins Weichselland! Dort Friede, Licht, Schönheit, Bildung, Heiterkeit, Sitte und sanfte Gesinnung: hier, auch da die Stürme schweigen und Friede sein könnte, spielt der Mensch noch frevelhaft mit dem Schein des Krieges und seiner gräßlichen Strenge! Und doch scheinen gerade an dieser schönen Stätte mehr als anderorts die Natur nicht allein, sondern gleicherweise auch die Werke der Ahnen selbst den süßen Frieden mit beredter Zunge zu predigen.«

Unter diesen traurigen Gedanken hatte er jenseits der Straße, an einen Pfeiler gelehnt, einen Offizier bemerkt, der mit spöttischen und doch auffallend finsteren, fast argwöhnisch bangen Blicken dem abrückenden Knabenheere nachblickte; derselbe wandte sich jetzt um und schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen die Straße hinab auf den Beobachter zu und nahe an ihm vorüber. Dieser erkannte die französische Uniform, und wie wenn jemand in wilder Fremde, der Türkei oder Persien, einem europäischen Landsmanne begegnet, erhob er unwillkürlich mit einer stillen Vertraulichkeit die Hand zum Hute. Der Franzose erwiderte den halben Gruß sehr artig und offenbar wirklich erfreut und schritt gemächlich vorüber. Und nun war allerdings zu bemerken, daß ihm andere 13 Grüße nicht zuteil wurden; wo er nahte, wandten die Bürger hastig die Gesichter von ihm ab und starrten ins Leere.

›Dieser Ärmste!‹ dachte der Zuschauer, ›wie häßlich muß sein westländisches Feingefühl die Fremdheit hier und die trotzige Abkehr der Leute empfinden! Wie anders mag ihm das Leben an unserem Main und Neckar gelächelt haben, ehe er nach Szythien verschleppt ward! Und was ist seine Schuld, als daß er seinem kaiserlichen Herrn die schuldige Treue leistet? Und was ist seines Kaisers Schuld, als daß ihn die Vorsehung wie einst den großen Alexander zu dem übermenschlich hohen Amt bestimmte, die hellenische Bildung über den Osten zu tragen und durch Blut und Kriegsschrecken zuletzt ein neues Reich des Friedens und der Freiheit auf Erden zu gründen? Wehe denen, welche, Alexanders Werk in Barbarenblindheit verkennend, gegen seine Größe züngeln und zischen – was bleibt ihm übrig, als der Schlange den Kopf zu zertreten? Oh, daß nur der Tag erst nahe wäre, da sein Ziel offenbar und der Friede vollendet wird!‹

Dieser menschenfreundliche Hoffnungstraum nahm seine Seele ganz gefangen und entrückte ihn der Außenwelt auf eine geraume Zeit, indessen er in sich gebückt stand und die regelmäßigen Steinfliesen des Fußbodens mit eindringlichem Forscherblick studierte.

Als er endlich wieder aus seinem Sinnen erwachte und den Blick erhob, sah er, wie hinten gegen den Ausgang der Straße über die träumerisch geneigten Köpfe eine mäßige Bewegung ging, ein Heben und Nicken, als wenn ein Sommerwind übers Kornfeld streicht, und daß dies ruhige Wogen sich langsam fortsetzte und ihm näher rückte, ohne daß er vorerst eine wirkende Ursache zu entdecken vermochte. Doch beobachtete er genauer, daß überall die erst noch lässig Hingelehnten sich plötzlich wie auf einen unhörbaren Straf- oder Warnruf strammer aufrichteten, die Rücken steiften und zugleich die Köpfe wie in grüßender Bescheidenheit ein wenig senkten. Nach all diesen Stücken machte er im stillen die Anmerkung, daß die Bürgerschaft sich im Augenblicke ziemlich genau so gebärde wie eine schläfrige Schülerschar während des 14 Nachmittagsunterrichts, wenn der Lehrer gelassen lauernd sein Gebiet durchschreitet.

Endlich trat, ganz nahe dem Beschauer, derjenige aus den Steinlauben ins breite Sonnenlicht, der solch seltsame Massenregung bewirkt haben mußte. Es war jener selbe aufrechte Mann mit dem bürstenhaften Haupthaar, der zuvor mit den Knaben sein Wesen getrieben hatte. Er trug auch jetzt keine Kopfbedeckung, hielt jedoch einen stattlichen Dreispitz in der Rechten, wohl zum Zweck eines anstandsvolleren Grüßens, wie er auch im übrigen keineswegs nachlässig gekleidet ging, sondern eher einen leidlichen Wert auf gutes Aussehen zu legen schien. Das bezeugte die Sauberkeit seines dunkelblauen Fracks mit den glänzenden Goldknöpfen, die festgeordnete Halsbinde, die wohl eine Hand breit steif unter dem Kinn saß, und das schöne gelbe Glanzleder der umgelegten Stiefelstulpen.

Dieser bemerkenswerte Alte trat jetzt in den nächsten der hölzernen Familienbehälter und ließ sich mit kurzem Kopfnicken neben einem jungen Frauenzimmer nieder, dessen Erscheinung dem Fremden bisher nicht besonders ins Auge gefallen war, weil es den blonden Kopf halb abgewendet und tief über eine Näharbeit gebeugt hielt. Nun sah er mit Freuden, es war ein Mädchen von einer schlichten, überaus anmutigen und rührenden Schönheit. Sie saß still und leicht in einer gleichsam schwebenden Haltung, und wie ihre Hände so emsig schafften und ihre Augen ohne Aufschlag und Umherfahren fest an das Zeug geheftet blieben, meinte er nie ein so vollkommenes Bild jener treuherzigen Züchtigkeit altdeutscher Jungfräulein gesehen zu haben, wie alte fromme Bildnisse der Einbildungskraft sie vorzustellen wissen.

Von einem so reizenden Gegenstande rasch angeregt, vergaß der junge Mensch in plötzlicher Wallung seine vorige Schamhaftigkeit vor den Blicken der Eingeborenen und tat wieder einen Schritt hinaus in den Bereich des vollen Sonnenlichts. Im selben Augenblick schlug das Mädchen, den Tritt vernehmend, die blauen Augen voll gegen ihn auf: und alsbald geschah etwas Unerwartetes und höchst Sonderbares.

Das zarte Wesen fuhr in einem starken, doch unverkennbar 15 freudigen Schreck zusammen, ein aufleuchtendes Rot verschönte ihr Antlitz, und indes sie die Hände wie kraftlos in den Schoß sinken ließ, starrte sie einige Sekunden lang mit großen, halb scheuen, halb glückstrahlenden Augen zu ihm herüber.

Das lief dem emsig Schauenden gar eigen übers Herz, denn der Anblick war so lieblich wie rätselhaft; allein es geschah noch mehr. Nach kurzem Besinnen sprang die Jungfrau auf, legte dem strengblickenden Weißkopf die Hand auf die Schulter und sprach ihm einige Worte zu; dann warf sie einen heimlichen, sehr verschämten Blick frohen Einverständnisses zu dem Fremdling hinüber, der schier alle Fassung verlor, und eilte, aus dem Verschlage zurücktretend, durch den Schatten des Bogengewölbes in das dahinterliegende Haus an der Gegenseite der Straße. Nach kurzer Zeit erschien sie wieder, eine rote Rosenknospe in der Rechten tragend; damit schmiegte sie sich dicht an den nächsten der dicken Pfeiler, so daß dieser sie den Blicken ihrer Mitbürger leidlich verbarg, und spähte, leise mit den Augen winkend und glückselig lächelnd, hinüber.

Der junge Mann ward im Innersten aufgerührt von süßem Schrecken und wußte längst nicht, wie sich benehmen in solchem Abenteuer; ein angstvoll lähmender Schwindel drückte ihm die Augenlider. In all dem Zaudern und Zagen aber war es ihm doch, als würden seine Füße von einer leisen Strömung fortgezogen, jeder überlegsame Verstand entwich aus seinem Haupte, und er wandelte vorwärts wie in einem wogenden Dunst, durch den nur die rote Rose gleich einer herrlichen Flamme leuchtete und lockte. Hochklopfenden Herzens drückte er sich von Pfeiler zu Pfeiler, im Schattendunkel der steinernen Lauben hin, überschritt die Straße an ihrem äußersten Ende und schlich auf der anderen Seite langsam und immer langsamer wieder die Wölbung hinauf.

Er sah jene zarte Gestalt mit der Rosenknospe jetzt zurückgewichen halb in einer offenen Tür stehen; ihr schimmerndes Kleid schien dem Beklommenen lustig zuzuwinken. Und als er trotz alles künstlichen Hemmens und Verkürzens seiner 16 Schritte doch endlich ganz in ihre Nähe gekommen war, schlüpfte sie hurtig in die dunkle Öffnung, nicht ohne noch dem Verstörten einen still bedeutsamen Hoffnungsblick zurückgeworfen zu haben.

Er aber hatte jetzt die Empfindung jähen Erstickens in seiner Kehle, als er dort stand, sah und zitterte.

›Allgütiger Himmel!‹ dachte er, ›was ist das? Was wird das werden? Was will dieses unselige Weib von mir? Wie ist es möglich, daß solch ein holdes Schrecknis gerade an mir ergeht? Wie konnte es geschehen, daß dies himmlische Geschöpf an meiner doch höchst mittelmäßigen Erscheinung ein so jähes und ausbündiges Wohlgefallen fand? Und wenn dem schon so ist, wo will das hinaus? Wie soll das werden? Was soll ich hier, und vor allem, was will ich hier? Wäre es nicht um vieles weiser, ich wiche noch jetzt zurück und versagte mich einem Wagnis, dessen Anfang mir so fremd ist wie sein Ende?‹

So fragte und sorgte der Bescheidene; und alles betrachtet, war ihm recht genau so zu Sinne wie einem Märchenprinzen, dem unverhofft das seligste Glück von der Hand der verzauberten Prinzessin winkt, der aber zuvor ein grausiges Abenteuer zu erdulden und den Zauber mit Gefahr des Leibes und der Seele zu lösen hat.

Nachdem er jedoch noch eine beträchtliche Weile lang alle Möglichkeiten und jedes Für und Wider der Flucht oder des Angriffs in seiner Seele hin und her geworfen und beides im Wechselspiel jeder erdenkbaren Beleuchtung redlich geprüft hatte, fand er zu guter Letzt, der Rückzug sei im Grunde noch ein wenig bedenklicher und verstrickender als das unverlegene Drangehen, und beschloß in sich, das Abenteuer zu bestehen.

In verzweifeltem Wagemut trat er in jene Tür und blickte in einen langen, dunklen, geheimnisvollen Gang hinein, in dessen rechter Seitenwand er jedoch bald eine heller schimmernde Glastür bemerkte, die nur angelehnt war und sogar sich leise zu bewegen schien. Er folgte dem Winke, wenn es ein solcher war, öffnete und schritt hindurch.

Da trat er in einen schön gewölbten, kapellenartigen Raum, 17 der von der Gegenwand her durch farbige gotische Fenster ein trauliches Dämmerlicht empfing. An den Wänden entlang standen derbe Tische, Bänke und Stühle von Eichenholz, neben dem Eingang ließ ein mächtiger Schrank mit gedrehten Säulen und viel anderem Schnitzwerk hinter einem Drahtgitter eine bewundernswerte Zahl von blinkenden Flaschen erkennen, daneben reihten sich auf tüchtigen Wandbrettern noch zahlreichere Gläser, Becher und Humpen von sehr mannigfaltiger Form und Größe: aus diesen und anderen ermutigenden Anzeichen war zu ersehen, daß dies würdige Gewölbe nichts Schlimmeres überdecke als eine Weinstube.

Doch fand der Gast nur kaum die Zeit, diese Tatsache in sich festzustellen, denn er hatte sogleich noch Wichtigeres zu sehen: vor ihm stand, leicht von dem rötlich einfallenden Gegenlicht umblendet, die wunderfeine Gestalt seiner verzauberten Prinzessin.

Sie sah so herzlich verschämt und ehrbar aus und blickte doch wieder so voll heiteren Vertrauens aus den lieben blauen Augen zu ihm auf, ganz wie wohl eine junge Braut dem lange Geliebten entgegentritt, nachdem dessen sittsame Werbung endlich der väterlichen Strenge das Jawort entwunden hat.

Der sonderbare Fremdling aber, weit entfernt davon, dem regelrechten Verfahren solches Bräutigams oder der klugen Königssöhne im Märchen zu folgen und die der Erlösung harrende Jungfrau herzhaft auf den Mund zu küssen, stand recht kümmerlich in trauriger Verwirrung und hätte weit lieber der scheußlichen Hexe so nahe ins Auge gesehen, als diesem reinen Bilde jungfräulicher Holdseligkeit.

Endlich aber, da die Qual des Schweigens unerträglich ward, riß er sich empor, warf den Hut mit leidenschaftlicher Tatkraft ein paarmal aus einer Hand in die andere, trocknete sich, um eine letzte Frist zu gewinnen, sehr sorgsam den Schweiß von der Stirn und stotterte dann aus der Tiefe seiner Beklommenheit heraus:

»Wenn . . . wenn . . . die wackere Jungfer mir eine Flasche Wein bringen wollte . . .«

Die wunderliche altfränkische Redeweise sollte keineswegs 18 einen Scherz vorstellen, denn ihm war nichts weniger als spaßhaft zumute, sondern sie kam ihm ganz absichtslos auf die Lippen; seine arme verzauberte Seele war in dem altertümlichen Raume auf den Flügeln der Verlegenheit geradeswegs ins vierzehnte Jahrhundert entrückt worden. Ja, in seiner Verträumtheit merkte er nicht einmal, daß mit der Jungfer sogleich nach seinen Worten eine seltsame Veränderung vor sich ging. Sie blickte ihm starr, stutzig, verstört, dann angstvoll prüfend ins Gesicht; mehr und mehr verfärbten und umwölkten sich ihre Züge, um zuletzt den Ausdruck des äußersten Entsetzens anzunehmen.

»Herr, mein Gott –« hauchte sie und schielte ängstlich spähend zur Seite, als ob sie die Entfernung zur Hintertür behufs eines Fluchtversuchs im stillen abmesse. Doch schnell mochte sie sich eines Besseren besinnen: ihr Auge blitzte entschlossen auf, indessen ein glühheißes Rot in ihre Wangen zurückkehrte, und mit einem seltsam zornigen und doch im Zorn noch weichen Stimmchen stieß sie hervor:

»Ja! Ja! Ja! Sie sollen Ihren Wein haben, mein Herr!«

Und damit glitt sie eilig jener Hintertür zu und hinaus, jedoch halb rückwärts schreitend und ihn fest und beinahe bedrohlich im Auge behaltend wie einen gezähmten Löwen, dem man doch nicht eine Sekunde lang den Rücken wenden darf.

Er freilich dachte an keinen tückischen Angriff von irgendeiner Seite, sondern stand, rieb sich die Augen und machte ein Gesicht wie einst als ein Ungelehrter, da er zum erstenmal ohne schonende Vorbereitung einen Blick in Kants Kritik der reinen Vernunft getan hatte.

›Was ist das?‹ dachte er abermals und seufzte es laut: »Wie geschieht mir? und wie soll das enden?«

Denn es lag auf ihm wie eine Schwüle vor dem Gewitter; und in ihm wallte etwas Ahnungsvolles, als ob ein Ungeheures sich vorbereite, sei es nun von draußen her oder vielleicht auch innen in ihm selber.

Nach einer längeren Weile aber trat die Jungfrau wieder 19 ein und trug ein Brettchen mit einer wundervoll bestaubten Rheinweinflasche und zwei grünen Römern auf den Händen; mit dieser köstlichen Last schritt sie vor den stumm Verwirrten hin, lud ihn durch eine leichte Verbeugung ein, ihr zu folgen, und führte ihn zu einer tiefen, ganz matt beleuchteten Nische, in der nicht mehr als ein Tischchen und zwei Stühle gegeneinander Raum hatte.

Hier setzte sie das Brettchen nieder und empfahl mit einer hübschen Handbewegung dem streng gehorchenden Gaste, Platz zu nehmen, wobei ihr Gesicht eine seltsame Mischung von kläglicher Angst und finsterer Tatbereitschaft zeigte. Jetzt füllte sie beide Gläser mit dem klaren Wein, hob an der anderen Seite des Tisches stehend das eine Glas ihm entgegen und hauchte mit fast versagender Stimme ein weinerliches »Willkommen!« –

Er aber saß, ließ wie im Traume schüchtern sein Glas an dem ihren erklingen, sog es aus lauter Pein und Bangigkeit mit einem langen Zuge leer und ließ auch das neugefüllte schnell genug dem ersten nachfolgen.

Da erkannte er alsbald, daß es ein wackerer alter Rheinwein war, den ihm die schöne Unbekannte kredenzte, und er empfand seine Wirkung so kräftig als angenehm. Die Beklommenheit seiner Seele begann sich zu lösen und vielmehr eine Stimmung gleich dem schattenhaften Widerschein einer fernen Keckheit in ihm sich vorzubereiten. Und nachdem er durch Mienenspiel und Gebärden die Absicht eines bedeutungsvollen und eingehenden Vortrags zu erkennen gegeben, sagte er demütig und errötend: »Danke!«

Und dazu dachte er im Herzen mit gehäufter Sorge: ›Gott im Himmel, was will die holdselige Person von mir?‹

Sie aber spürte nun doch allmählich mit sicherem Grundgefühl, daß die Verschüchterung des fremden jungen Menschen ihr eigenes Entsetzen noch um ein geringes überragte, und daraus schöpfte sie alsbald eine neue Munterkeit zuversichtlichen Trotzes.

»Ach Gottchen, ja«, sagte sie mit einem Versuch eines hochmütigen Naserümpfens, der beispiellos verunglückte, »ich 20 dachte mir's gleich, daß Sie hier fremd wären und irgendeiner Anleitung bedürften, und deshalb – – das heißt – nämlich – ich meinte eigentlich – wie gesagt – oder vielmehr – Sie müssen verzeihen, mein Herr – Sie kommen gewiß weither – und dann: ja! ja! Ihre Halsbinde saß nämlich so furchtbar schief, und darauf wollte ich Sie gern aufmerksam machen – – ja! ja! ja! Das wollte ich eben!«

Unter dieser Versicherung warf sie einen Blick zum Himmel wie eine heimliche Klage, daß ein grausames Geschick sie zum Lügen zwinge.

Zum Glück war er gar nicht mehr in der Gemütslage, auf die Seltsamkeit dieser Entschuldigung oder Erklärung groß zu achten oder eine solche nur zu verlangen; vielmehr erschien ihm nach dem dritten Glase Rheinwein das ganze Erlebnis auf einmal merkwürdig eben und natürlich, er entschlug sich alles Grübelns und schickte sich an, seine Seele vergnüglich und schon ein wenig plätschernd von dem Strome der Abenteuer tragen zu lassen.

»Ach ja«, sagte er mit recht munterem Ton, »ich bin sehr fremd in diesem Lande, das ich zum erstenmal betrete, und mehr noch unter den Menschen hier, deren Art ich nicht immer verstehe oder doch nicht teile; denn ich stamme weither aus dem deutschen Westen und reise in besonderen Angelegenheiten eben jetzt auf geradem Wege dorther –«

»Ei wirklich?« fiel ihm das Mädchen plötzlich mit sonderbarer Hast in die Rede und blickte ihm gespannt in die Augen, »aber sagen Sie, doch nicht etwa gar aus Frankfurt? – Ach Gott, verzeihen Sie nur!« unterbrach sie sich selbst, »das ist ja Unsinn, was ich da rede? Wie sollte denn das kommen?«

Der gute Fremdling aber blickte jetzt völlig überrascht und fast verstört auf die kühne Fragerin. ›Was ist das für eine Hexerei?‹ dachte er. ›Hier muß etwas nicht in Ordnung sein; wie kann jemand wissen –? Meine Schwester kann doch nicht –? Aber unmöglich! Das liefe ja schnurstracks gegen ihre eigensten Absichten. Es kann nur ein Zufall sein, ein lächerlicher Zufall des Erratens – oder vielleicht, daß meine 21 Aussprache mich verrät – so ist's im Grunde doch nichts Wunderbares!‹

Und laut antwortete er mit einer höflichen Verbeugung:

»In der Tat, gutes Fräulein, Sie sehen mich überrascht durch die Sicherheit Ihrer Kenntnis oder Ahnung, vollkommen überrascht; zur Zeit freilich bin ich Lehrer an der Universität Heidelberg, privatim docens, jedoch von Frankfurt am Main gebürtig: Hartmut Hammer, Doktor der Philosophie. – Sie sind ohne Zweifel schon Leuten aus meiner Heimat begegnet, so daß Ihnen die Klangfarbe des Dialekts bekannt ins Ohr fällt –«

»Nie im Leben! Bewahre!« rief sie verwundert, »und darauf verstehe ich mich auch gar nicht. Und übrigens sprechen Sie ganz ordentlich und nicht so Schwäbisch oder wie man's nennt. Höchstens ein bißchen, das will ich zugeben, aber nicht so sehr zum Erkennen. Nein, das ist's nicht – aber sagen Sie, das – nein, das ist doch zu wunderbar, daß Sie wirklich und wahrhaftig gerade aus Frankfurt kommen. Als ob ich Ihnen das angesehen hätte! – Nun aber, wenn das so ist, so sind Sie doch gewiß nicht allein gekommen?«

Sie stellte diese Frage mit einer leicht merkbaren Spannung und zugleich mit einem Anfluge von Schalkheit. Es war ersichtlich, daß sie irgendeine Vermutung im Hintergrunde hatte.

»Ja nun«, entgegnete der Herr Hartmut Hammer nach kurzem Bedenken, »allerdings bin ich heute allein hier angekommen und im ›König von Polen‹ abgestiegen –«

»Aber Sie hatten bis daher einen Begleiter?« fiel sie sehr lebhaft ein mit dem Ausdruck einer ganz bestimmten Erwartung.

›Was soll denn das heißen?‹ dachte er etwas verdutzt. ›Wie kann sie wissen? Ich bin doch kein reisender Fürst, dessen Schritte man belauert! Der Tausend! Wenn mich jemand für einen großen Herrn genommen und durch einen reitenden Boten einen Trugbericht vorausgesendet hätte? Man hat mich mit einer Dame gesehen, einer hübschen Dame – gewiß, hübsch ist meine Schwester, sehr hübsch, ich darf es sagen –, und man vermutet sogleich absonderliche Dinge; 22 und diese junge Dame ist also eine kleine Spionin, die mich ausholen soll. Irgend etwas der Art muß im Werke sein: warum sieht sie mich immer so sonderbar prüfend von der Seite an? Welchen Prinzen mag ich nur vorstellen sollen? Und ob sie für Napoleon spioniert oder für den Russenkaiser? – Doch es ist meine Pflicht, die arme Getäuschte aufzuklären!‹

Und nachdem er sich durch einen kräftigen Schluck gestärkt hatte, sagte er laut:

»Freilich hatte ich eine Begleiterin, nämlich meine Schwester, Fräulein Hildegard Hammer aus Frankfurt; ich ließ sie in Dirschau zurück, um hier für sie Quartier zu machen; man scheut sich in diesen Tagen der Truppendurchzüge, mit einem jungen Frauenzimmer so ohne weiteres eine fremde Stadt zu betreten; man weiß ja nicht, ob nicht vielleicht alle Räume von Soldaten und Offizieren eingenommen sind; die Dame könnte in peinliche Verlegenheiten kommen; jetzt freilich habe ich ihr schon geschrieben, daß hier alles in Ordnung ist.«

In den Augen des Mädchens hatte sich ein Schreck oder eine Enttäuschung gemalt – (›Aha!‹ dachte Herr Hartmut) –, jetzt aber sagte sie rasch:

»Gottlob, ja, die abscheulichen Franzosen sind nicht mehr hier, außer den wenigen vom Magazin und vom Lazarett und den Zollspionen und den anderen nichtswürdigen Spionen –«

Plötzlich brach sie mit leichtem Erschrecken ab und warf einen ganz mißtrauischen Blick auf den unbekannten Reisenden; doch dann schüttelte sie sogleich energisch den Kopf und fragte zutraulich:

»Ach, haben Sie eine Schwester? Ist sie älter als Sie?«

»O nein, mehrere Jahre jünger, sie hat eben erst die Zwanzig erreicht. Sie ist meine Halbschwester.«

»Ach, noch so jung? Und gewiß sehr hübsch? – Das ist komisch, ich denke mir Frankfurterinnen immer hübsch.«

Hartmut nickte mit Bescheidenheit.

»Aber sagen Sie, bitte«, fuhr sie fort, »was führt Sie und Ihre Schwester denn nur zu uns nach Altpreußen? – O Gott, verzeihen Sie die häßliche Neugier! Wir sind so wenig 23 gewöhnt an fremde Reisende aus dem Süden, ich meine friedliche und ordentliche Leute – als Feinde freilich haben wir ihrer genug im Lande gesehen, vor wenigen Wochen noch, Herrgott, war das ein Greuel! – und gerade Ihre Landsleute vom Rhein – oh, bitte, verzeihen Sie meine Unart –«

»Ei«, sagte er verwundert, »aber meine Landsleute sind doch als Freunde und Bundesgenossen hier durchgezogen?«

»Schöne Bundesgenossen!« fuhr sie ganz heftig auf, und ihre Augen blitzten ein wenig kriegerisch, so gut sie es vermochten, »aber lassen wir das! Ich meine nur, Sie sehen eigentlich nicht so aus, als ob Sie zum Heere gehörten, und dann Ihre Fräulein Schwester –«

›Aha!‹ dachte Herr Hartmut, ›die kleine Spionin! Aber ich werde mich hüten, von dem Geheimnis meiner Schwester etwas durchsickern zu lassen! Nicht umsonst will ich ihr Vorsicht versprochen haben!‹

Und bedächtig die Worte wägend, erklärte er:

»Ihre Vermutung ist durchaus zutreffend, ich hasse für meine Person jeden kriegerischen Lärm und reise ausschließlich zu den friedlichsten Zwecken der Bildung, meiner eigenen sowohl wie auch der Mitmenschen. Ich habe mich des Studiums der Philosophie beflissen und strebe danach, nicht nur selbst meine Erkenntnis täglich zu erweitern, sondern auch von dem wenigen, was ich gelernt und gedacht habe, möglichst vielen anderen mitzuteilen auch außerhalb der engen akademischen Kreise, und das suche ich zu erreichen durch öffentliche Vorträge, die ich in den von mir berührten Städten zu halten pflege. Ich selbst aber vermehre mein Wissen durch die neue Anschauung fremder Völker und Sitten, und ich gestehe, es lockte mich längst, das Vaterland des gewaltigen Immanuel Kant mit eigenen Augen zu sehen: denn nicht nur den Dichter, auch den Denker wird man nur aus der Art seines Landes und Volkes ganz verstehen lernen, auch er wurzelt mit seinem Besten in den geheimnisvollen Tiefen des Volksgemütes. – Nun wohl, und so gedachte ich auch hier, mit Erlaubnis der Behörden, anknüpfend an Kant, einen Vortrag zu halten 24 über die Siegkraft des menschlichen Willens im Kampf des Pflichtbewußtseins gegen die niederen Begehrungen.«

»O weh«, rief die junge Zuhörerin aus, »das ist gewiß wieder so eine Sache mit dem kategorischen Imperativ!«

»Ah, Sie verstehen!« sagte er freudig überrascht. »Doch natürlich! Wer sollte hierzulande des größten Landsmannes größten Gedanken nicht kennen!«

»Ach nun«, versetzte sie anmutig, »ich weiß doch nicht, ob ich je nur den Namen von diesem Kant und all dem Zeug, das er geschrieben hat, gehört haben würde, wenn nicht Onkel August – nämlich der alte Herr draußen ohne Hut mit dem verschnittenen Haar, der neben mir saß, er heißt Rittmeister von Jageteufel, aber jetzt außer Dienst, und ist meiner seligen Mutter Bruder; ich heiße Lisbeth Hellwig –, wenn der nicht diesen sogenannten kategorischen Imperativ beständig im Munde führte und alle Welt damit quälte, am meisten freilich sich selber. Ach, wissen Sie, wenn Sie doch auf den etwas Gutes wirken könnten, da Sie doch ein solcher gelernter Philosoph sind! Aber das muß ich sagen, wie man sich mit dieser Philosophie so den ganzen Tag über befassen und nachher noch damit herumreisen kann, das begreife ich nicht! Da hätte ich es doch lieber mit einer ordentlichen Wissenschaft gehalten, in der man etwas lernt und sich nicht bloß etwas ausdenkt.«

»Man nennt die Philosophie die Königin der Wissenschaften«, bemerkt Herr Hartmut ein wenig gekränkt.

»Das mag wohl sein«, entgegnete Fräulein Lisbeth tapfer, »aber die Königinnen sind noch lange nicht immer die besten Frauen, denn eine zweite wie unsere hochselige Luise war, gibt es doch nicht wieder. Wozu nützt denn überhaupt diese Philosophie, als den Leuten das Leben schwer zu machen wie dem Onkel Rittmeister und seinen Anhängern? Sehen Sie, mit den anderen Wissenschaften, die man so hat, da kann man doch etwas Vernünftiges zustande bringen, Kranke heilen, Prozesse gewinnen, trauen und taufen und so etwas, meine ich, oder auch Häuser bauen und Schlösser, wie die Herren Architekten, so zum Beispiel – ja, bitte, kennen Sie denn nicht unseren Ulrich Seybold, der doch zuletzt in Frankfurt wohnte? Ach, 25 verzeihen Sie, wenn ich etwas Dummes sage; ich habe öfters das Unglück: Frankfurt ist gewiß sehr groß, daß sich die Leute dort untereinander gar nicht kennen!«

Sie war auffallend stark errötet bei dieser Frage und erwartete die Antwort mit lebhafter Begierde; der junge Philosoph aber, der sich eben in Gedanken eine knappe Vorlesung zurechtlegte, mittels deren er der Übelberichteten hellere Lichter über seine Wissenschaft aufzustecken gedachte, ward seinerseits durch den vernommenen Namen stark berührt und seiner geistigen Vertiefung entrissen.

›Seybold?‹ dachte er. ›Ei, sieh doch, das ist ja gerade der gute Freund meiner Schwester, um dessentwillen sie mich in diese preußische Wildnisse geschleppt hat: da gilt es nur doppelt auf der Hut sein und seine Zunge wahren! Ein Glück, daß ich ohne Unwahrhaftigkeit sagen kann: Ich kenne ihn nicht, ich habe ihn nie gesehen!‹

»Seybold?« sagte er, als wenn er sich etwas mühsam besänne, »ei ja doch, richtig, das ist jener ostpreußische Architekt – das heißt, ich persönlich kenne ihn nicht, habe ihn nie gesehen; aber so groß ist Frankfurt nicht, daß man nicht gelegentlich den Namen tüchtiger Männer nennen hörte, selbst wenn man, wie ich, nicht mehr am Orte wohnhaft ist; allein meine Schwester – er soll ein sehr tüchtiger Baumeister sein, der Herr Seybold.«

»O überhaupt ein vortrefflicher Mensch!« versicherte Lisbeth eifrig, »nicht wahr, das haben Sie doch auch von ihm gehört?«

»Gewiß, o gewiß!« bestätigte Hartmut, »ich bin fest davon überzeugt, jedenfalls weiß ich – – es tut mir wahrhaftig leid, daß ich ihn nicht persönlich kennenlernte, wie gerne hätte ich Ihnen nähere Mitteilungen gemacht, denn ich merke, daß Sie Teilnahme für den Mann hegen, in irgendwelchen Beziehungen zu ihm stehen –«

»O bitte!« rief Lisbeth, indem sie das eine Glas ergriff und ihr hell errötendes Gesicht so tief darüber beugte, als ob sie den ganzen Kopf hineinstecken wollte. Sie nahm dabei auf einer Kante des Stuhles Platz, jedoch so leise und ängstlich wie 26 ein scheuer Vogel, der sich jeden Augenblick aufzufliegen bereithält. Und nur aus ihrem gläsernen Versteck heraus befragte sie ihn weiter mit etwas dumpfer Stimme:

»Also, Sie wissen wirklich nichts von ihm, ob er etwa die Absicht hat, die Heimat und seine Mutter wieder zu besuchen – ob er vielleicht gar – Sie wissen nichts davon? Wirklich gar nichts?«

Herr Hartmut wußte wirklich gar nichts, und er schüttelte langsam den Kopf, aber fast ganz gedankenlos; denn seine bewußte Seele war völlig hingenommen von dem Anblick des reizenden Köpfchens, das hinter dem grünen Glase hervorlugte wie eine Nixe aus ihrem klaren Gewässer.

Sie aber beobachtete ihn ebenso aufmerksam eine Zeitlang durch das grüne Geflimmer; und so ruhten beide ineinander versenkt, und es kam wie Feiertagsfriede über ihre Herzen in dieser Stille unter dem alten schönen Gewölbe. Und wie im Traum erhoben beide ihre Gläser gegeneinander, und es gab einen Ton, so leis, wie ein fernes Abendglöckchen; aber der goldige Wein erzitterte heftig geringelt in den Gläsern.

Doch wie über sich selbst erschreckend, sprang das Mädchen hastig von ihrem Stuhleckchen auf und fragte knapp und dringend:

»Also weiter haben Sie mir nichts mitzuteilen?«

Und als er sehr verwundert schwieg und nach einer schicklichen Gegenfrage suchte, erklärte sie mit rascher Bestimmtheit: »Ach, ich werde gerufen!« obgleich weder nah noch fern der zarteste Laut vernehmbar wurde, verabschiedete sie sich mit einem fast trotzigen und doch nicht übelwollenden Kopfnicken und entfernte sich langsam und wie zuvor halb rückwärtsschreitend, so daß sie ihm zuletzt durch die Hintertür entschwand wie ein luftiges Nebelbild, das ruhig gleitend ins Dunkel der Ferne taucht und unmerklich von ihm aufgesogen wird.

So fand sich der Betroffene, Verwunderte in der dämmernden Nische unter der Wölbung ganz allein mit seinem Rheinwein. Sein Geist blieb völlig umsponnen von dem Zauber der geheimnisvollen Begegnung, seine Gedanken schwankten verworren in wonnevoller Aufregung hin und her. Er vermochte 27 es nicht über sich, nach einer Erklärung des holden Rätsels auch nur zu suchen; vielmehr gab er sich in williger Gedankenlosigkeit dem Genusse des Märchenhaften hin, das ihm allgemach vertraut und fast behaglich zu werden begann. Es geschah ihm wie einem Menschen, dem im Traum eine reizvolle Gegend oder Gestalt vor Augen tritt, davon er schon einmal geträumt, aber auch nur geträumt zu haben sich erinnert, und der sich vergebens im Halbwachen bemüht, den alten Zusammenhang zurückzurufen: das Bild selbst erscheint ihm bekannt und immer bekannter, alles Umgebende zerfließt in bunt verwirrtem, wesenlosem Schattenspiel. Mit einem seltsamen Schauder löste sich wie aus dunkler Tiefe steigend der ahnungsvolle Glaube an ein körperloses Seelenwandern halblicht aus dem Banne strengerer Gedanken; er suchte vergebens die dunkle Empfindung abzuschütteln, er habe diese Stadt und diesen Raum und jenes Mädchen in dumpfer Vergangenheit schon einmal gesehen, und sie, die Liebliche, die Kluge, habe ihn wiedererkannt und in alter seliger Liebe begrüßt, und er nur vermöge in seiner nüchternen Gedankenhelle das wiederaufdämmernde Glück nicht mehr zu finden und zu fassen, wie man im grellen Tagesschein die Sterne nicht sieht, die über dem Glück vergangener Nächte glänzten.

So saß der Umsponnene lange, der Einsamkeit froh, und trank mit Begierde den herrlichen Wein, der seine Träume nährte. Noch stand das Glas der entschwundenen Gefährtin halb gefüllt an seinem Platze wie eine stumme Verheißung ihrer Wiederkunft; doch er wunderte sich nicht, daß sie fernblieb, ja, es regte sich nicht einmal der Wunsch in ihm, sie um sich zu sehen, denn die lichte Gestalt blieb ihm auch so in Wahrheit dauernd gegenwärtig.

Statt ihrer jedoch kamen nun allmählich andere Gäste. Es kamen zuerst etliche alte Herren, die langsam, aber mit Sicherheit auf bestimmte Plätze steuerten, sich feierlich niederließen, ihre grauen oder kahlen Häupter mit schwarzen Samtkäppchen bedeckten und ohne besonderen Auftrag ihre Schöppchen aus den Händen eines schnell aufgetauchten jungen Küfers empfingen. Diese alten Herren gerieten vorsichtig in eine stille 28 Unterhaltung und sahen dazu immer ehrwürdiger und altertümlicher aus.

An einem anderen Tische sammelte sich ebenso nicht lange danach eine Anzahl sehr junger Männer mit langen, schwarzen, zugeknöpften Röcken, langen, sanftgescheitelten Haaren und langen, blassen, schnurrbartlosen Gesichtern. Auch sie verrieten eine emsige und nicht erfolglose Strebsamkeit, ehrwürdig auszusehen und in ihren Gesprächen eine gemessene Lindigkeit walten zu lassen.

Dieser allgemeine Friedenszustand währte schon eine gute Weile, als auf einmal durch die Reihen der Anwesenden wieder jenes eigentümliche Neigen der Köpfe und Steifen der Rücken ging, das Herr Hartmut zuvor auf der Straße bemerkt hatte: und auch diesmal zeigte sich als wirkende Ursache alsbald jener aufrechte Alte, den das liebe Mädchen mit dem traulichen Namen Onkel August bezeichnet hatte. Hartmut, der unbeachtet in seiner Nische hockte, empfand plötzlich eine glühende Verehrung für diesen Mann, der jener Schönen so nahe verwandt war und vielleicht vor wenigen Minuten noch von ihrer schmeichelnden Hand berührt und geweiht worden, und die weißen Haarborsten schienen ihm einem leichten Heiligenscheine nicht unähnlich. Ein Verlangen ergriff ihn, sich dem Würdigen zutraulich zu nähern und um seine Freundschaft zu bitten, und er würde unzweifelhaft diesem Verlangen alsbald gefolgt sein, wenn er es irgend gewagt hätte.

So aber hielt er sich keusch zurück und bemerkte nun auch, daß jener nicht allein kam, sondern als seine Gefolgschaft einen Menschen brachte, der im Schreiten und Gebaren vollkommen als sein närrisches Gegenbild oder sein Affe erschien. Derselbe war zwar einen Schuh länger als sein Vorbild und hing dürr und schlottrig in seinen Gliedern, allein er quälte sich beständig, seinem Gange etwas Festes und seinen Gebärden etwas Martialisches und zugleich Gelenkiges zu geben, bei welchen Versuchen er nicht selten jählings zusammenknickte, als wenn ihm von unsichtbarer Hand die Sehnen durchschnitten wären; um so vollkommener glückte es ihm, einige kleine Gewohnheiten jenes Rittmeisters nachzuahmen, wie etwa sein starkes 29 Stirnrunzeln, den scharfen Laut seiner Stimme, eine Art, die linke Schulter kräftig zurückzupressen, ein jähes Auffunkeln seines Blickes, ein eigentümliches, heftiges Räuspern und dergleichen. Mit all diesen Nachbildungskünsten hielt er nicht etwa bedenklich zurück, sondern brachte sie in der ersten halben Minute seines Auftretens hierselbst mit überraschender Geschwindigkeit zur Geltung. Doch kam der Zuschauer dabei keineswegs auf die Vermutung, daß es mit diesem Spiel auf eine Verspottung des anderen abgesehen sei, sondern im Gegenteil, es trug alles die einzige Absicht zur Schau, ihm auf diese sonderbare Weise die allertiefste Ehrfurcht zu beweisen, wie denn überhaupt das angenommene Kraftwesen nur schlecht eine scheue und schreckhafte Schmiegsamkeit überdecken konnte.

Dieses eingetretene Paar gab nun sogleich ein neues und nicht gewöhnliches Schauspiel. Sie setzten sich abseits von den übrigen Gästen an einen besonderen Tisch in einer Ecke; der Rittmeister nahm den jungen Küfer heran und hielt mit diesem eine lange und nach allem Anschein sehr ernsthafte Beratung.

Das Ergebnis derselben zeigte sich nach einer beträchtlichen Weile in Gestalt eines umfangreichen Kredenzbrettes mit den erlesensten Leckereien, das der Kellner mit artiger Beflissenheit und doch mit einem gewissen spöttelnden Zuge um den Mund herbeitrug. Da gab es eine gewürzte Brühe, die den ganzen Raum mit ihrem starken Duft erfüllte; ein Dutzend sehr großer Krebse leuchtete neben dem zarten rötlichen Fleisch des Lachses; labsame Gemüse schlossen sich daran, als deren Beilage sich eingewälzte Würstchen mit geräucherter Ochsenzunge um den Vorzug stritten; eine Geflügelpastete bahnte den Übergang zu einem saftig auf englische Art zubereiteten Hammelrücken; die geringeren Neben- und Nachgerichte verloren sich neben solcher Fülle mehr ins Unbedeutende. Vier ungleich gestaltete Weinflaschen nebeneinander ragend vollendeten den Eindruck.

Dem Philosophen ward im Zuschauen merkbar wohlig ums Herz, er empfand in der Stille ein sanftes Begehren nach dem anderen; und ob sich gleich keines derselben zu einem 30 eigenen Entschlusse verdichtete, wehrte er seinen Blicken nicht, gleich sommerlichen Fliegen scharf um jene aufgestapelten Hochgenüsse zu kreisen.

Eines fiel ihm bald auf: die wohlberatenen Feinschmecker hielten sich denn doch etwas sehr lange mit dem – zwar unverächtlichen – Vorgenusse der reinen Betrachtung auf. Gut, die Suppe mochte zu heiß sein. Der Lachs war sauer eingelegt, er konnte warten, natürlich. Die Krebse ja allenfalls auch. Aber den Gemüsen geschah ein Unrecht: wie darf man Blumenkohl kalt werden lassen!

Der teilnahmslose Beobachter rückte auf seinem Stuhle immer unruhiger hin und her und schoß jenen Toren heimlich vorwurfsvolle und mahnende Blicke hinüber.

»Der Blumenkohl, meine Herren, der Blumenkohl! – Ja, und was sagt man? Der Hammelbraten! Ist es erhört, Hammel so lange stehen zu lassen?«

So dachte er, und so murmelte er in zürnender Leidenschaft vor sich hin; seine Unruhe wuchs zur Qual.

Das Benehmen dieser Sonderlinge aber ward immer unbegreiflicher. Der alte als Rittmeister Genannte saß da wie in Stein gehauen, beide Arme platt auf die Schenkel gelegt nach der Art ägyptischer Könige, und faßte die verführerischen Schüsseln mit einem finster drohenden Ausdruck ins Auge. Dabei schien sich sein kurzes Haar noch starrer in die Höhe zu sträuben und seine Augenbrauen wuchtige Befehle zu winken. Sein Gegenüber bemühte sich zwar redlich, die gleiche herrische Gelassenheit zur Schau zu tragen, doch gelang ihm das nur zum geringeren Teile; seine Blicke glühten gar zu sichtlich von schmerzvoller Begierde.

Plötzlich machte der Meister eine heftige Bewegung und führte den Löffel voll Suppe langsam bis dicht an seine Lippen.

Der Zuschauer atmete erleichtert auf, gab aber sogleich einen leisen Ton des Schreckens von sich: jener entsetzliche Alte ließ die Hand mit einem verächtlichen Siegerlächeln wieder sinken und schob den unberührten Teller schnell von sich ab, um dasselbe hochmütige Spiel mit den anderen 31 Gerichten und zuletzt mit jedem einzelnen der vier gefüllten Gläser zu treiben: er sog den Duft mit langem, verständnisvollem Prüfen ein und setzte alles, ohne die Lippen zu netzen, mit herber Entsagungsmiene wieder vor sich auf den Tisch.

Der andere folgte auch in allen diesen Stücken getreulich dem Beispiel; doch bemerkte der Zuschauer mit einem Verwundern und halber Mißbilligung, daß er es verstand, hinter einem aufgehobenen Teller unglaublich behende sämtlichen Krebsen die Schwänze auszureißen und sachte in seine Taschen zu stopfen, worauf er die verstümmelten Tiere so untereinander zu wirren und zum Teil mit dem beigegebenen Grünzeug zu bedecken wußte, daß der Verlust nur einem mißtrauischen oder schon eingeweihten Auge sichtbar werden konnte. Ähnliche Kunststücke vollbrachte er unter dem Tische mittelst bereit gehaltener Papierfetzen auch an zahlreichen Bratenscheiben, wogegen er allerdings den flüssigen Speisen und den Getränken nichts anzuhaben vermochte.

Endlich, nachdem die aufgesetzten Gerichte alle so weit erkaltet waren, daß sie auf die Begierde keinen allzu großen Reiz mehr üben konnten, wischte der Beherrschende der beiden platonischen Schlemmer sich den Mund, stand mit einem hörbaren Seufzer auf, warf noch einen grimmigen Blick auf die vereinsamte Tafel und nahm bedächtig an einem Nebentische Platz. Der andere folgte ihm auch dorthin, jedoch nicht ohne wenigstens die eine der fast noch vollen Flaschen hinterrücks in seiner langen Rocktasche verschwinden zu lassen.

An dem neuen Sitze wurden ihnen sogleich ein dünnes Bierchen und etliche Käsestullen aufgetragen, und sie machten sich mit großer Kraft daran, zu essen und zu trinken.

Als nun der Küfer das schöne Abendbrot abräumte und mit dem beladenen Brette an dem jungen Philosophen vorüberstrich, hielt ihn dieser, jede Fassung verlierend, am Rockzipfel fest und flüsterte:

»Lasse Er doch sogleich diese Gerichte für mich ein wenig aufwärmen; nur die Krebse müssen durch neue ersetzt werden; vor allem aber lasse Er mich nicht lange warten. Ich habe sehr starken Hunger.«

32 »Wenn der Herr ein halbes Stündchen sich gedulden wollte«, versetzte der Kellner, »können wir dieselben Schüsseln frisch besorgen; diese hier sind vom Herrn Rittmeister für einige Kranke bestimmt –«

»So bringe Er den Kranken die frischen Gerichte und mir die gewärmten; ich habe vor allem Eile«, sagte Hartmut ungeduldig; »übrigens sage Er, wer ist der Begleiter des Herrn Rittmeisters? Und was bedeutet diese wunderliche Mahlzeit der beiden? Handelt es sich etwa um eine schnurrige Wette oder dergleichen?«

»O nein«, erklärte der Küfer mit einem gewissen Lächeln, »der Herr Rittmeister üben sich nur in der Enthaltsamkeit, und der andere übt sich mit, weil – es ist der Küster Reff; Anton Reff.«

»So? Ein Küster. Er hat in der Tat etwas von dem halbgeistlichen Wesen, das diesen Beamten anzuhaften pflegt.«

»Nur gewesener Küster«, ergänzte jener seine Mitteilung, »er wurde entlassen, weil – nun hat ihn der Herr Rittmeister von Jageteufel in seinen Dienst genommen und bessert ihn.«

»So! Er bessert ihn!«

Der Küfer lächelte wieder auf jene besondere Art und entfernte sich mit seinen Schüsseln. Als er sie nach einer geringen Weile wieder brachte, versenkte sich Hartmut sogleich mit vollkommener Hingebung in die endlich nahegerückten Freuden des Mahles.

›Welch eine trübselige Barbarei‹, so dachte er, ›und welch eine Qual für jene Unglücklichen, sich solch ein Labsal mit eigener Hand dicht vor dem Munde wegzureißen!‹

Allein ihm blieb kein ungetrübtes Genießen vorbehalten. Er bemerkte, daß der seltsame Rittmeister einen langen, festen Blick voll tiefer Mißbilligung über ihn hingleiten ließ; und dieser Blick erfüllte ihn mit einem unklaren, aber sehr starken Unbehagen und zerstörte ihm mehr und mehr die Freude an den herrlichen Dingen. »Es ist der Oheim des schönen Mädchens!« sagte er sich, »und du hast dir jetzt seine volle Ungnade zugezogen!«

Er fühlte nun plötzlich eine große Entsagungskraft in sich 33 erwachsen, kostete nur verdrossen noch dieses und jenes und schob bald den letzten Teller mit einem gewaltsamen Ruck zur Seite. Dann zog er sich noch tiefer in seine beschattete Nische zurück, nicht mehr beachtet und kaum gesehen von den übrigen Gästen.

Er begann sich ängstlich beklommen zu fühlen, als wäre er in eine fremde, unwohnliche Welt und in eine Zeit versetzt, die ihn nicht kennen mochte und in die er nicht hineingehörte. Sein Gedanke vom vierzehnten Jahrhundert wollte ihm fast wie eine unheimliche Wirklichkeit erscheinen. Es überkam ihn das geheime Bedürfnis, nur ein Lebenszeichen von sich zu geben und seine eigene Stimme zu hören. Er leerte deshalb schnell sein letztes Glas, rief den Küfer und bestellte eine zweite Flasche von demselben Wein.

Der Bursche besah die Flasche, schüttelte den Kopf, machte ein verwundertes und fragendes Gesicht, besah sie nochmals und trug sie endlich davon. Nach einiger Zeit brachte er sie zurück und sagte kurz und streng:

»Aber die Marke führen wir ja gar nicht.«

Der Fremdling fühlte sich von einem sonderbaren Grauen überlaufen, machte ein ebenso verwundertes und ebenso fragendes Gesicht als jener zuvor und bestellte errötend und stotternd die Allerweltsmarke Liebfrauenmilch. Diese war selbstverständlich vorhanden, und der Kellner brachte sie ihm mit einem eigentümlichen Seitenblick.

Der einsame Zecher füllte sein Glas, und indem er es aufhob, stieß er aus Versehen gegen das halb noch volle seiner entschwundenen Partnerin; es gab einen tiefen, schönen Klang, der ihn mit einem lieblichen Schreck berührte wie ein zauberhafter Gruß der fremdartigen Jungfrau. Da griff er nach diesem Glase und trank es mit scheuer Wonne aus und füllte es wieder; der feurige Rheinwein wirkte mächtiger; er hatte mit diesem einen Zuge eine tiefere Sehnsucht nach der Entfernten in sein Herz getrunken.

An den Wänden und an der Decke malte die tiefer sinkende Sonne jetzt krause und vielfarbige Lichtbilder, die 34 ganze phantastische Halle mit den sich kreuzenden und wirr verschlingenden Gewölberippen war von den bunten Fenstern her durchwogt von einem zitternden Dämmerlicht; die ehrwürdigen Männer mit den Silberbärten saßen nun wieder so still, wie früher die Menschen draußen auf der grasbewucherten Straße mit den Giebeln und Bogen und dem gotischen Rathause in dem dunstig schwebenden Sonnenlicht; sie nickten nur leise mit den Köpfen bei ihrem einst fließenden Gespräch und sahen aus wie lauter halb erst zum Leben auferwachte uraltväterische Ratsherren. Die bartlosen Jünglinge mit den frommen Locken hingegen hatten ein scharfes Disputieren angehoben über die tiefsinnigsten Mysterien altersgrauer Kirchenweisheit: das klang und schwirrte von Homusie und Homöusie, von Heterodoxie und Häresie, von Prädestination und Inkarnation und Konzeption und Purifikation und Transsubstantiation und vielen ähnlichen mystischen Prachtklängen, und so vermochten sie mit ihrem lärmvollen Predigen und Zanken fast noch eindringlicher den Geist dahingeschwundener Jahrhunderte heraufzubeschwören als selbst die weltferne Ruhe, die überall sonst alles Leben unter der ernsthaften Wölbung wie ein feines, festes Spinngewebe überdeckte. Immer traumhafter, verschwimmender fügten und lösten sich Bilder und Töne vor seinen befangenen Sinnen; verworren gleitend rann ihm das Sichtbare und das zuvor Gesehene und Eingebildetes ineinander.

In den zwei vollen Gläsern spiegelte sich leise zitternd das Gewölbe und zerdehnte sich vor seinem starrenden Blick zu schnörkelhaften Giebeln und Erkern und Steinlauben; und aus einem kreisrunden, blanken, grüngoldigen Fenster nickte ein zierlicher Mädchenkopf herüber und fragte mit sanfter, trauriger Stimme:

»Ei, Herr Hartmut, warum seid Ihr solange nicht bei uns im Städtchen gewesen?«

In einem Erker aber stand als auf einer Kanzel ein junger, gewaltiger Prediger dem Mädchen gegenüber und hielt ihr eine prächtige Rede über die Verderblichkeit weltlicher Philosophie und die Gefahren der Logik für jüngere Personen 35 weiblichen Geschlechts, und schloß mit dem Spruche: Wissen blähet auf, aber die Liebe bessert.

»Ja«, sagte sie betrübt, »aber er ist nun fünfhundert Jahre nicht im Städtchen gewesen, und da ist er doch zu alt zur Liebe geworden und hat mich auch längst vergessen, obgleich ich ihn doch gleich erkannte und ihm mit der Rose winkte.«

»Das Wissen hat ihn aufgebläht«, sagte der Prediger mit furchtbarer Stimme, »und er hat den Bauch zu seinem Gott gemacht.«

Darauf stießen beide über die Straße hinweg kräftig mit den Römern aneinander, daß ein klarer Ton an dem gerippten Himmelsgewölbe hinschallte; und der Ton war zugleich ein wunderbarer Duft von einer Rose, die aus dem Busentuch der Jungfrau auf einen Rasenplatz hinabfiel und dort von einem barhäuptigen Ratsherrn aufgenommen wurde, der in voller Amtstracht unter einem steinernen Bogen darauf gewartet hatte. Eine ganze Schar anderer Ratsherren schloß sich an und schritt in feierlicher Ordnung, genau nach der Größe abgeteilt, unter drohendem Kommandoruf ihres Hauptmanns gerade auf Hartmut zu. Sie überreichten ihm demütig mit tränenden Augen ihre vollen Biergläser und erklärten laut durcheinanderschreiend, er sei durch Prädestination zum ersten Rittmeister der Stadt gewählt, um fortan fern dem kriegerischen Treiben der Außenwelt ein geruhiges und stilles Leben zu führen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Als Amtssiegel ward ihm ein Hammelrücken umgehängt, der wie eine ägyptische Sphinx gestaltet und eigentlich ein Trinkhorn aus grünem Glase war, bis zum Rande mit perlendem Rheinwein gefüllt. Er setzte es hastig an die Lippen, denn er spürte plötzlich einen brennenden Durst; doch so kräftig er auch sog, er fühlte keinen Tropfen auf der Zunge, und sein Durst ward so unerträglich, daß er empört ausrief: »Aber, meine Herren, wie darf man denn Rheinwein kalt werden lassen?«

Da reckte sich die Sphinx sehr aufrecht mit weißen borstigen Haaren in die Höhe, klopfte ihm mit einem grimmigen Lächeln 36 auf die Schulter und sagte: »Der Transsubstantiation halber führen wir diese Marke ja gar nicht.«

Da stieß Hartmut vor Wut zitternd in das Horn, das einen dumpf schnarrenden Ton vernehmen ließ, der ihm durch Mark und Bein erdröhnte, daß er entsetzt auffahren wollte; doch im selben Augenblick beugte sich das schöne Mädchen leise zu ihm nieder, um ihn zu küssen, und ein herrliches, unendlich ruhevolles Orgelspiel hallte beschwichtigend durch zahllose Reihen goldschimmernder Wölbungen hin. 37

 


 


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