Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Hildegards Zwiegespräch mit dem eisernen Rittmeister über die Tugend im allgemeinen und Ulrich Seybold im besonderen.

Fräulein Hildegard hatte ihren Anzug vollendet und tat einen letzten Blick in den Spiegel. Sie war nicht so unehrlich, sich vorzureden, daß sie häßlich aussehe. Der antikisierende Schnitt des feierlich fließenden Gewandes brachte die Jugendfülle ihres edlen Wuchses vortrefflich zur Geltung, und der lockere Fluß der dunkelbraunen Stirnlocken belebte das frohe Gesicht mit doppelter Anmut.

Sie verließ das Schlafgemach und trat eben in das Vor- oder Empfangszimmer, das wie jenes mit nüchterner, doch nicht unbehaglicher Einfachheit ausgestattet war, als es klopfte und der Hausknecht mit einer neuen Meldung hereintrat.

»Fräulein, es ist wieder einer da!« sagte er ganz aufgeregt, »diesmal kann ich ihn aber nicht 'rausschmeißen: denn es sind der Herr Rittmeister von Jageteufel selbst.«

»Aber nicht möglich!« rief sie sehr überrascht, »das wäre denn doch seltsam! Gerade der und gerade jetzt! Ist Er denn auch sicher, daß der Herr Rittmeister gerade nach mir gefragt hat? Vielleicht sind noch andere Damen hier im Quartier –«

»Nicht eine halbe!« versicherte der Hausknecht, »und er will gerade des Fräulein sehen, das den tugendhaften Preis ausgehängt hat, und das sollen Sie doch sein.«

»Nun, dann ist's freilich die rechte Adresse!« sagte Hildegard kopfschüttelnd. – »Ich hätte nie geglaubt, daß auch dieser Mann sich zu solcher Bewerbung erniedrigen würde. Merkwürdig, wie man durch einen schlechten Spaß zum Menschenkenner werden kann. – Lasse Er den Herrn eintreten!«

87 Sie blieb auf ihrem Platze stehen und erwartete den Besuch mit großer Spannung.

Der Rittmeister trat mit kräftigem Tritt herein, grüßte sehr höflich und unterwarf die vor ihm Stehende einer kurzen, scharfen Musterung mit der Miene eines Sachkenners, wobei er den Arm leicht bewegte, als ob er ein Pferd auf und ab traben ließe.

»Hat Rasse!« brummte er endlich mit unverhohlener Bewunderung. »Guter Stand. Gerader Blick. Blut. Feuer. Muß was zu machen sein!« Und nach einer neuen tiefen Verbeugung sagte er laut:

»Mein schönes Fräulein, muß um Verzeihung bitten wegen Belästigung. Soll nicht lange dauern. Rittmeister August von Jageteufel, Ritter keines Ordens und Inhaber keiner Auszeichnung. Hatte gestern Gelegenheit, Sie zu bewundern – alle Hochachtung! Prachtvoller Griff das! Ein Staat, wie Sie die Gäule herumrissen und den alten Sünder, den Physikus, in den Sand setzten –«

»Ich meine nichts Sonderliches damit getan zu haben«, versetzte Hildegard kühl. »Wenn ich Ihnen sonst in etwas zu Diensten sein kann –«

»Das können Sie, schönes Fräulein«, rief er lebhaft, »und ich hoffe, das werden Sie. Aber – nichts Sonderliches, sagten Sie? Freilich, was Sie taten, das war nichts Sonderliches, das war Ihre elendige Schuldigkeit, da Sie zu Pferde saßen und meine Jungen nicht: aber wie Sie's taten, mein Kind, das war's! Wie Sie im Sattel saßen! Wie Sie den Racker von Gaul niederkriegten und in Gang setzten! Und dann der prachtvolle Griff in die Zügel! Wer das kann so ohne Besinnen und Schlenkern, der kann noch viel anderes. Aber natürlich, ich hab' es ja immer gesagt: reiten kann, wer stehen und sehen kann. Und das können Sie beides: Sie haben einen festen Stand und einen richtigen Blick. Das gibt Zutrauen. Ich habe Zutrauen zu Ihnen, mein schönes Fräulein.«

»Wie schmeichelhaft!« sagte sie mit einer kalten Verbeugung und dachte: ›Der fängt es schlau an. Wie der Knecht, 88 so der Herr. Aber der Herr ist noch feiner, er denkt mich mit Schmeicheleien zu fangen!‹

»Ich bitte mich daher nicht mißzuverstehen«, fuhr der Alte ruhig fort, »wenn ich in einer anderen Sache, die mir wichtig ist, mit einiger Offenheit zu Ihnen rede. Ich erbitte mir ausdrücklich das Recht, offen zu sein. Denn ich nehme von Ihnen an, daß Sie einen Hieb vertragen können.«

»Ich habe jederzeit auch eine derbe Wahrheit absichtsvollem Schmeicheln vorgezogen«, bemerkte sie mit scharfer Betonung.

»Vortrefflich, mein wackeres Fräulein!« rief er unbeirrt, »sehr vortrefflich! Ich sage ja: Stand und Blick! Das heißt, beim Menschen. Beim Gaul auch noch Fesselgelenk, Brustkorb, Tritt und manches andere. Alles natürlich beim Menschen auch, aber in zweiter Linie. Also, frisch von der Leber: Sie sind die landfremde Person, welche die kolossale Dummheit begangen hat, hierorts einen sogenannten Tugendpreis auszusetzen?«

Hildegard trat einen Schritt zurück: »Sie sind unglaublich aufrichtig, Herr Rittmeister von Jageteufel!«

»Ich hatte mir das Recht der Offenheit vorher erbeten.«

»Ah so, das ist allerdings richtig.«

»Übrigens sehen Sie: Sie haben auch Tritt. Sogar rückwärts. Aber wenn Sie die Güte haben wollen, Platz zu nehmen; wir könnten dann wohl mit größerer Ruhe zueinander reden.«

Sie gehorchte mit einiger Verwunderung und ließ sich auf einen Stuhl an dem runden Tische nieder, das Kinn mit einem leichten Trotz in die Hand stützend.

Er setzte sich ihr gegenüber und redete weiter:

»Sie sollen mich nicht mißverstehen. Ich traue Ihnen durchaus die beste Absicht zu. Nur ein kleiner Mißgriff, begreiflich, verzeihlich. Nur Mangel an Kantischer Schulung. Sagen Sie selbst: Ist Ihre wahre Meinung, der Mensch solle sich der Tugend befleißigen zu dem Zwecke, dafür eine bare Belohnung zu erhalten?«

Sie blickte überrascht und angeregt auf.

89 »Das wohl gerade nicht«, entgegnete sie, »ganz gewiß nicht. Im Gegenteil –«

»Vortrefflich! Oh, bitte, halten Sie dieses wackere ›Im Gegenteil‹ mit beiden Händen fest! Also, was meinen Sie für ein Gegenteil?«

Sie besann sich einen Augenblick, dann versetzte sie mit einem feinen, etwas lauernden Lächeln:

»Nun, wenn ich denn so streng katechisiert werden soll, so meine ich: Man soll die Tugend um der Tugend willen lieben, einzig um dem kategorischen Imperativ zu gehorchen –«

»Wie? Sie kennen den kategorischen Imperativ?« rief der Alte in hellem Entzücken und reichte ihr begeistert die Hand über den Tisch hinweg. »Wundervoll! Ganz wundervoll! Da läßt sich erst ernsthaft mit Ihnen reden. Aber natürlich, wer den Imperativ Kants nicht kennt, hat nicht solchen Blick wie Sie! Das hätte ich im voraus wissen können. Und Sie verstehen also völlig, was dies erhabene Wort bedeutet?«

Sie unterdrückte ein verschmitztes Lächeln und deklamierte feierlich und etwas schwerfällig:

»Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft lautet: Handle so, daß die – Ma – Maxime deines Willens zugleich als – als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«

»O herrlich! herrlich! herrlich!« rief er in staunender Bewunderung. »Glauben Sie mir, Fräulein, ich habe noch nie vor Ihnen ein Weib kennengelernt, das so den kategorischen Imperativ im Kopfe trug – und auch im Herzen, so hoffe ich zuversichtlich. Erklären Sie mir, woher kommt Ihnen diese Kenntnis?«

Mit unschuldsvoller Miene entgegnete sie:

»Ist nicht das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein ursprüngliches Faktum der reinen Vernunft? Ein Gebot, das aus der Auto – Autonomie des Willens fließt –«

Hier stockte sie und begann ein eifriges Husten. Der alte Herr aber merkte nichts von dem Versagen ihrer Weisheit, sondern drückte ihr in seiner Herzensfreude noch einmal die Hand so kräftig, daß sie leicht aufschrie, und rief:

90 »Fräulein, Sie sind mein Mann! Merken Sie wohl, was ich sage: Mein Mann! Ich meine: Sie verdienten ein Mann zu sein! Nicht, daß ich das Weib als solches geringschätze –«

»Aber es ist doch mehr zum Kochen und Braten als zum Philosophieren zu gebrauchen«, fiel sie lachend ein. »Oh, ihr armen Männer, daß ihr in der weiten Welt zum Heiraten nichts anderes findet als immer nur Weiber!«

Der Alte sah sie auf einmal sehr nachdenklich und prüfend an.

»Und allerdings ist es die Pflicht des Mannes, ein Weib zu nehmen«, sagte er nach einer Pause langsam, »und –«

»Doch nicht auch des Weibes, einen Mann zu nehmen? Das wäre doch eine gar zu grausame Pflicht –«

»Gerade auch das! Gerade auch das!« betonte er eifrig, und wieder nach einer Pause murmelte er für sich selbst, doch laut genug:

»Ei der Tausend, wenn ich dieses Fräulein ein paar Wochen früher gekannt hätte! Wer weiß! Wer weiß!«

›Herr des Himmels!‹ dachte Hildegard, ›der alte Herr wird mich doch nicht gar heiraten wollen?‹ Und um ihn auf etwas Vernünftigeres abzulenken, fragte sie schnell:

»Aber ich weiß nun immer noch nicht, welche Art Dummheit ich gemacht haben soll mit meinem Tugendpreise? Wenn Sie meiner Unwissenheit freundlichst zu Hilfe kommen wollten –«

»Soll geschehen, schönes Fräulein, soll geschehen. Ich weiß nun, daß Sie die Fähigkeit haben, das zu begreifen. Merken Sie auf: Sie glauben an eine vernünftige Weltregierung. Schön. Das müssen Sie. Denn sonst wäre mit Ihnen überhaupt nicht zu reden. Es gibt aber unter allen vernünftigen Einrichtungen dieser Weltregierung keine so weise und vernünftige als diese, daß in unserer irdischen Welt die Tugend so selten belohnt wird, und das Laster so selten seine Strafe findet. Wenn es um ein Haarbreit anders wäre, wenn die Tugend der Regel nach auch nur eine mäßig sichere Aussicht hätte, ihren Lohn zu erhalten, oder wenn das Laster wirklich häufiger sich selbst zugrunde richtete, wer, glauben Sie 91 wohl, würde dann den Weg der Pflicht am freudigsten schreiten, wer die Sünde am eifrigsten fliehen? Offenbar doch eben dieselben, die auch jetzt dem Lohn und Gewinn nachjagen, die Betrüger, Schurken, Verbrecher, Fälscher, Verräter und alle anderen Selbstlinge! Denn alle diese würden den Gewinn da suchen, wo sie ihn am sichersten finden, nämlich auf dem Wege der Tugend. Und was bliebe nachher dem anständigen Menschen übrig, als sich aus Verzweiflung dem Laster in die Arme zu werfen, bloß um sich von dieser greulichen Gesellschaft zu scheiden? Begreifen Sie nun, wie vernünftig es in dieser erhabenen Gotteswelt hergeht, und daß wir mit aufgehobenen Händen jedesmal Gott danken sollen, wenn irgendein niederträchtiger Hallunke sich so recht vor aller Augen im Wohlsein, Glück und Herrlichkeit mästet, lustig lebt und in Frieden unangefochten dahin stirbt? Und wiederum nicht minder dann, wenn ein ordentlicher Kerl, der die Tugend vor Augen und die Pflicht im Herzen hat, sich jammervoll durchs Leben krüppelt und zuletzt durch die Niedertracht eben jenes Hallunken elendiglich unter hundert Schmerzen zugrunde geht? Das, mein Kind, ist der wahre Triumph des kategorischen Imperativs unter den Menschen! Bonaparte muß von Sieg zu Sieg schreiten, und die Königin Luise muß mit gebrochenem Herzen in die Grube fahren: so ist's recht! Nichts von Lohn der Tugend, nichts von Bestrafung des Lasters! Umgekehrt geschehe es, je öfter, je besser!

Und jetzt begreifen Sie auch, welche merkwürdige Torheit, ja welchen Frevel sie begehen wollten mit Ihrem unsinnigen Tugendpreise. Eingreifen wollten Sie dreist und hochmütig in die allweisen Satzungen der göttlichen Weltregierung, verkehren wollten Sie die ewige Vernünftigkeit ihrer Ordnungen in stümperhafte Unvernunft. So steht es, meine Tochter, mit Ihren Absichten, die Sie in kindischer Gedankenlosigkeit wohl gar für sonderlich schön und preisenswert hielten. Verstehen Sie nun meine Meinung, und werden Sie mir allenfalls recht geben?«

Hildegard war ernstlich betroffen und verwirrt und machte große verwunderte Augen wie ein Kind vor dem 92 Zauberwerk eines Taschenspielers. »Was sind das für wunderbare Reden?« dachte sie, »das scheint alles so klar und vernünftig und ist doch offenbar die schrecklichste Narrheit von der Welt? Aber was kann ich dagegen sagen? Was hat der Mensch für furchtbare Gedanken und was für feurige Augen!«

»Ja«, sagte sie endlich, ihre Gedanken zusammenraffend, »von dieser Seite hatte ich die Sache allerdings noch nicht angesehen. Ich meinte, so ein bißchen Hoffnung auf einen greifbaren Lohn könnte der Tugendhaftigkeit Ihrer Mitbürger auf keinen Fall einen Abbruch tun. Ich erinnere mich doch aus meinen Kindertagen (das ist schrecklich lange her, Herr Rittmeister!), daß wir nie so fromm und artig waren, als wenn uns ein Kuchen oder Plätzchen oder gar eine neue Puppe in einige Aussicht gestellt waren. Und in der Bibel steht doch auch: Auf daß dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden. Ist das nicht auch ein richtiger Tugendpreis für gehorsame Kinder?«

»Ganz recht, ganz recht, mein schönes Kind«, rief der Alte eifrig, »aber merken Sie wohl: für Kinder! für Kinder! Wir aber sollen keine Kinder bleiben, sondern Männer werden! Darauf kommt's an, das ist die Aufgabe. Männer, für die es weder Rohrstock gibt noch Zuckerplätzchen, sondern einzig das ewige Sittengesetz, das unser Kant uns aufgeschlossen hat – uns Preußen wenigstens; ob die dahinten im Reich es je begreifen werden, ist freilich eine andere Frage. Aus welcher Gegend kommen Sie, mein Fräulein? Nach Ihrer Sprache müssen Sie von jenseits der Elbe sein.«

»Aus . . . aus Heidelberg«, erklärte Hildegard nach kurzem Besinnen.

»Oh, oh!« sagte der Rittmeister, die Stirn runzelnd, »dorther! Sie! Schade! Schade! Wirklich, Ihnen hätte ich das nicht zugetraut.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr von Jageteufel. Das kann doch kein Vorwurf für mich sein? Wir sind doch keine Verbrecher am Rhein und Neckar!«

»Verbrecher?« versetzte er gelassen, »schlimmer, mein Kind, leider noch schlimmer! Rheinbündler seid ihr!«

93 »Ei, wahrhaftig«, sagte sie gekränkt, »ich habe das doch immer für etwas Besseres gehalten als so ein stocksteifer, sauertöpfischer, freudenloser Preuße zu sein.«

»Sehen Sie! Sehen Sie! Den Preußen haßt ihr, weil ihr ihn fürchtet, wie der Teufel das Weihwasser. Daß er über euch komme und euch aufrüttle aus eurem Sündenschlummer, das fürchtet ihr! Ja, ja, ihr habt Grund uns zu fürchten und zu hassen! Und wir werden über euch kommen, wie Simson über die Philister! Zusammenschmeißen werden wir euch mitsamt eurem Bonaparte, der Teufel Obersten. Ein Hagelwetter wird euch in die Fensterscheiben fahren, daß euch Hören und Sehen vergeht. Lernen sollt ihr, was verfluchte Pflicht und Schuldigkeit sagen will, und verlernen sollt ihr, euch den Hals auszurenken nach den Gnadenbrocken, die euch der korsische Beelzebub vorwirft! – – Doch lassen Sie gut sein, Kind, Sie sind nicht gemeint. Es gibt räudige Schafe bei uns, und es gibt ehrliche Seelen bei euch –«

»Ich sollte wohl meinen«, bemerkte sie scharf und stolz, »wir nennen Goethe unseren Landsmann und doch auch den Freiherrn von Stein –«

»Gehen Sie mir mit diesem Goethe!« fuhr der Alte auf, »das ist der Hauptsünder! Ich habe das Zeug gelesen. Einmal und nicht wieder! Alles Verweichlichung, Glücksucht, Honigkuchen, Schlaftrunk für die schläfrige Menschheit und Schlimmeres! Als Gott unseren Kant schuf, hatte der Teufel keine Ruhe, bis er diesen Goethe daneben gesetzt hatte. Schleckerei für Rheinbündler sind seine Bücher, Gift für preußische Mägen. Liebesgesäusel, Liederlichkeit, Friedseligkeit, Selbstsucht, Glücksduselei! Ja, der Freiherr von Stein, das ist etwas anderes! Aber der ist auch nur aus Versehen hinten im Reich geboren worden! Der ist von Rechts wegen geborener Ostpreuße – denn die Märker taugen auch nicht viel und die Pommern nur wenig mehr und die anderen schon gar nichts – der Freiherr von Stein hätte verdient ein Landsmann Kants zu heißen!«

Hildegard hatte während dieser langen Rede ihre Fassung und Munterkeit wiedergewonnen.

94 »Ach Gott, ja«, seufzte sie in schalkhafter Niedergeschlagenheit, »aber was kann unsereiner dafür, daß er als rheinbündisches Mädchen geboren wurde und keine Hoffnung hat, jemals preußischer Offizier zu werden! Denn das sind doch wohl die einzigen Menschen, die in der Welt allenfalls ihre Pflicht erfüllen und von Selbstsucht frei sind!«

»Halten Sie ein, mein Fräulein!« rief der Rittmeister ganz ernst, »Sie sind abermals auf einem Irrwege. Ich will Sie auf die rechte Straße führen. Sehen Sie mich an: ich bin nicht Offizier.«

»Aber Sie nennen sich doch Rittmeister –«

»Ganz recht. Von den Husaren. Aber ich habe längst meinen Abschied genommen.«

»Ich weiß nicht, ob man das bei uns zulande für die richtigste Art halten würde, seine Pflicht zu erfüllen«, bemerkte sie spitz.

»Sehen Sie«, rief er vergnügt, »da haben wir Sie auf dem Punkt, von dem wir ausgehen können. Also merken Sie auf. Warum konnte ich Offizier nicht bleiben, nachdem ich Kant gelesen hatte, und mir der Sinn seiner gewaltigen Lehre aufgegangen war? Darum nicht, weil ich in diesem Stande von außenher gezwungen wurde, um meines Vorteils willen meine Pflicht zu tun, die ich um ihrer selbst willen und aus freier Wahl tun sollte und wollte. Begreifen Sie etwas? – Glauben Sie nicht, daß ich etwas gegen den Offizierstand sage. Das Gegenteil: er ist der tüchtigste, ehrenhafteste in unserem Staate. Der Stand nämlich, ja! Der einzelne Offizier? Wer kann's wissen? Das ist's. Der Offizier tut seine Pflicht zu allermeist um seiner eigenen Ehre willen. Das ist, um seines eigenen Vorteils willen, denn seine Ehre ist sein Vorteil. Jede ausgezeichnete Tat, ja jede gute Führung im Kriege wie im Frieden findet dort unmittelbar ihren äußeren Lohn, jedes Vergehen seine Strafe; eine Niedrigkeit, Ehrlosigkeit führt alsbald zur Vernichtung. Sehen Sie, mein Kind, und wo das Handeln in so feste Schranken eingeengt ist durch Drang und Zwang, wie kann da einer von sich sagen: ›Ich folge dem reinen Pflichtgefühl, ich tue das Recht um 95 seiner selbst willen, weil ich den kategorischen Imperativ in mir habe.‹ Keiner kann es, denn alles, was er tut, bringt ihm eigene Ehre, eigene Schande, eigenen Gewinn, eigenen Verlust. Vielleicht ist dieser untadlige Ritter, jener glänzende Held nichts als ein erbärmlicher Selbstsüchtler, der nur dem eigenen Glücke dient und über Pflicht, Sitte und Vaterland schlau hinweglächelt. Denn der Schuft hat dort das gleiche Streben wie der Edelste: sich auszuzeichnen, keinen Fehler zu machen. Da ist's schon anders, wenn unter den Kaufleuten etwa und anderen Zöllnern und Sündern, wenn an der Börse, wo die reichen Betrüger mit Lohn und Ehre überschüttet werden, und der wackere Mann als ein Dummkopf kümmerlich zur Seite trabt: wenn da einer etwas Echtes vollbringt, eine große Ehrlichkeit übt – von dem mag man schon glauben, daß er wirklich ein Mann sei nach dem Herzen Kants. – Sehen Sie, darum verließ ich den Dienst und suchte als ein freier Mann auf schwerem Wege das Rechte zu tun.«

Hildegard fühlte sich seltsam bewegt von diesen Reden und mehr und mehr unter dem Banne derselben. »Wenn das so fort geht«, dachte sie, »glaube ich dem Menschen alles und kehre als eingefleischte Preußin nach Hause zurück. Und es ist doch so schrecklicher Unsinn! Wenn ich nur endlich etwas für mich Brauchbares aus ihm herauslocken könnte!«

Laut aber entgegnete sie mit großer Tapferkeit:

»Das ist alles so vornehm und gewaltig gedacht, daß eine arme Rheinbündlerin wie ich da kaum ganz nachfolgen kann. Eines aber möchte ich wohl wissen, Herr von Jageteufel: haben Sie nachher irgendwo eine Stelle in der Welt gefunden, wo es für Ihre Tugend gar keinen Lohn gab, und Ihre Irrtümer sich gar nicht bestraften? Mir nämlich ist's im ganzen doch immer noch so gegangen, obgleich ich niemals Offizier oder Ähnliches war, daß es mir meistens gut erging unter den Menschen, wenn ich recht brav war; wenn aber nicht, so klopften sie mir auf die Finger, daß mir's weh tat und ich mir vornahm, mich lieber zu bessern. Aber das mag ja hier in Preußen alles anders sein.«

»Ei, ei, ei, sehen Sie, Sie Prachtmarjellchen!« rief der 96 Rittmeister in neuer Begeisterung, »hab' ich's nicht gesagt! Wie Sie ihn wieder erwischt haben, den Punkt, auf den es ankommt! Wie Sie zupacken können und mich herumreißen wie einen alten Gaul! Jawohl, jawohl, das habe ich nachher bald gemerkt, daß es nicht so leicht ist, wie man denken sollte, dem armseligen Lohn der Tugend aus dem Wege zu gehen. Man mag Gutes tun, wo man will und so geheim man will, immer kommt ein Stück Dank oder Lob oder Glück hinterdrein gewutscht wie der Schwanz hinter der Katze, und man kann's nicht abschütteln; und so ist das reine Pflichtbewußtsein verdorben, als wenn ein Tropfen Sirup in einen guten Essig fällt. Wenn ich nur einem Armen einen Pfennig gebe, es sei denn bei stockdunkler Nacht, so schreit er schon mein Lob mit Hallo in die Welt hinaus und versudelt mir meinen klaren Essig. Als ich gar in Polen mein Gut hatte und mir deutsche Arbeiter holte und mit ihnen wirtschaftete, daß es freilich eine Pracht war, da lief der Segen mir gleich klumpendick in alle Schüsseln, bar Geld wie Heu und noch alles mögliche Rühmen, Lobsingen, Himmeln und Bimmeln obendrein, daß ich zuletzt Reißaus nahm und nichts mehr von solchem Rechttun wissen wollte. Lächeln Sie nicht, mein Kindchen, es war und ist mir ernster, als Sie glauben. Und wenn Ihr Lächeln auch gut und herzlich ist, ist's doch hier nicht an seiner Stelle.«

Hildegard errötete, als wenn sie wirklich bei einem Unrecht ertappt worden wäre.

»Verzeihen Sie«, sagte sie leise, »ich bin nur noch nicht ganz sicher, ob ich nicht anfangen soll, Sie zu bewundern.«

»Das sollen Sie gar nicht«, rief er schnell, »das würde wieder ein Tropfen Sirup sein, den ich nicht haben will! Doch nichts für ungut: ich sehe daraus immerhin, daß Sie zu folgen und aufzufassen wissen. Ich sage ja: Ihr Stand! Ihr Tritt! Ihr Blick! – Also schön: zuletzt hab' ich's nun doch gezwungen und zweierlei Dienste, die gar keinen Lohn geben und nur Mühe und Ärger machen.«

»Ei, und die wären?« fragte sie ernstlich gespannt.

»Der Dienst bei der Menge und der Dienst bei einer launischen Frau«, antwortete er gelassen.

97 »Oh, Herr Rittmeister«, lachte sie, »wie wäre es, wenn sie nun auch in meine Dienste träten? Da könnten Sie aber etwas erleben!«

»Spaßen Sie nicht!« sagte er ruhig, »Sie sind nicht launisch, denn Sie wissen, was Sie wollen. Sie stehen fest und treten fest. Dafür habe ich den Blick. Aber hören Sie: ich habe mein Lebtag niemanden so schlecht leiden mögen als Schulmeister und Pfaffen: darum habe ich mir's nun vorgesetzt, beides zu spielen. Meine selbstgewählte Pflicht ist, anderen immerfort auf den Hacken zu sitzen, sie aus ihrem Gedankensumpf, ihrer Sündenträgheit aufzukitzeln, sie zu rütteln, zu zwicken, zu stoßen, zu ärgern und zu peinigen, sie unaufhörlich an ihre Schuldigkeit festzunageln und aus ihrer Nichtsnutzigkeit herauszuziehen, wenn's sein muß, an beiden Ohren: das ist mein Dienst bei der Menge. Und nun stellen Sie sich vor, wie mir der gelohnt wird! Die Freunde mache ich mir zu Feinden und die Feinde zu Verächtern, die über mich lachen; doch lassen Sie gut sein: die am lautesten lachen, fürchten mich am allermeisten. Und das sollen sie. Durchgeschüttelt werden sollen sie bis ins Mark, bis sie erkennen, daß sie allesamt krank sind an der Glücksucht und keine Ahnung haben von der heiligen Strenge des kategorischen Imperativs. Und das ist's eben: Kant hatte uns längst den Weg gewiesen, aber wir hatten uns nicht darum gekümmert: darum ist Jena über uns gekommen und Friedland und Tilsit und all die andere Schmach, bis zu der letzten scheußlichsten, dem offenbaren Bündnis mit Bonaparte, das unsere Gewissen verwirrt und in noch unbekannte Unruhen stürzt. Das ist aber darum auf uns gelegt, daß wir lernen sollen uns inbrünstig zurückzusehnen nach unserer klaren Pflicht und nach nichts anderem. Und dann erst, wenn wir diese herbe Pflicht ganz allein ohne Nebenblicke ins Auge fassen, dann kann Preußen wieder auferstehen. Und Preußen muß wieder auferstehen, denn es ist in der Welt so notwendig wie die Lehre Kants. Sehen Sie, mein Kind, und schon begannen nun diesem und jenem auch unter unseren Bürgern die Augen aufzugehen für das, was uns not tut – und da kommen Sie und werfen mir Ihren 98 verdammten Tugendpreis als einen neuen Giftköder in die armen Lumpenseelen! Und wie es anbeißt, das Gesindel, das müßten Sie sehen! Wie es aufgeregt herumrennt, seine lausigen Tugenden bei Heller und Pfennig zusammenrechnet, jeder schadenfroh nach den Sünden seines Nachbars schielt, um seinen eigenen, goldgierigen Dünkel daran groß zu päppeln, jeder prahlt, sich bläht, verdächtigt, schmäht, verleumdet, lügt und heuchelt – sehen Sie, das ist's, was Sie angerichtet haben, mein Fräulein!«

Der eifrige Redner hielt inne und sah das Opfer seiner Redekunst fragend an. Hildegard aber fühlte sich jetzt wirklich ergriffen und beschämt und sagte mit aufrichtigem Bedauern:

»An solche Folgen eines törichten Streiches habe ich freilich nicht gedacht; wie recht Sie aber haben, erfuhr ich selber schon an wunderlichen Proben. Meine Unbesonnenheit tut mir von Herzen leid, und ich will tun, was ich kann, sie wieder gutzumachen. Ich will Ihnen noch eines gestehen. Ich bin hierher gekommen keineswegs mit einer großen Liebe zu Ihrem Preußen. Warum sollten wir dies Preußen auch lieben, das uns niemals etwas Gutes getan hat und nicht einmal von unserem Goethe etwas wissen will? Napoleon hat diesem doch die Ehre erwiesen, die ihm gebührt, ihr Preußen aber niemals. Ihr seid uns fremder, als die Franzosen es sind; ihr redet halbwegs dieselbe Sprache, doch eure Gedanken sind andere. Ihr versteht unsere Heiterkeit nicht und wir eure Tugend nicht. Aber das eine habe ich nun doch gelernt aus manchem, was ich hier sehe und nicht am wenigsten von Ihnen, Herr Rittmeister: nämlich, es muß wohl ein gewaltiges Ding sein um dieses Preußen, daß die Leute seinethalb so große Dinge tun und sich so wunderlich gebärden, als gebe es auf der Welt kein köstlicheres Glück, als in diesem armseligen Lande zu wohnen und seinen trüben Gesetzen zu gehorchen.

Dies wollte ich Ihnen gestehen zu Ihrer Genugtuung und dann –«

»Bravo!« rief der Alte mit leuchtenden Augen und griff über den Tisch hinweg nach ihren beiden Händen. »Sehen 99 Sie: Sie werden! Aber was Bravo? Ich wußte es ja. Sie sind wie Stein nur aus Versehen im Reiche geboren. Oder vielleicht seid ihr im Reiche auch gar nicht ganz so schlimm, als ihr euch anstellt. Wenn man euch nur das Sattelzeug hübsch festschnallt und euch stramm auf Kandare reitet! Wer weiß! Sie jedenfalls – alle Achtung! Erstens lachen Sie nicht, wenn ich Ihnen die Wahrheit geige, zweitens werden Sie nicht grob und drittens machen Sie kein dummes Gesicht dazu – und eins von den dreien hat hierzulande noch jeder getan! Potztausend, ja, wenn Sie ein paar Wochen früher gekommen wären! Wer weiß, was wir dann – da habe ich eine Nichte, die lacht auch nicht und schimpft nicht, das ist wahr: aber ein dummes Gesicht macht sie doch! Schade, schade, Sie sind die erste ganz vernünftige Person, die ich kennenlerne. Und dabei sind Sie ein Frauenzimmer! – Mohrenelement, und warum könnte nicht auch jetzt noch –«

Er brach plötzlich ab und unterzog sein Gegenüber einer neuen aufmerksamen und sehr nachdenklichen Musterung. Seine Mienen strahlten immer befriedigter.

»Was führt Sie überhaupt hier zu uns nach Alt-Preußen?« fragte er endlich unvermittelt im Ton eines milden Untersuchungsrichters.

»Ich begleite meinen Bruder«, antwortete sie nach einem kurzen Besinnen, »und von ihm gerade wollte ich mit Ihnen reden – und er soll mein Unrecht wieder gutmachen, und kann es, wie ich hoffe.«

Der Alte sah sie fragend an.

»Er ist nämlich von Beruf Philosoph, Dozent zu Heidelberg – und nun können Sie erfahren, daß wir im Reich euch Preußen doch noch besser zu schätzen wissen als ihr uns: mein Bruder ist ein begeisterter Verehrer Ihres Kant.«

»Das muß er«, bemerkte der Rittmeister kurz.

»Mit manchen Einzelheiten ist er wohl nicht ganz einverstanden«, fuhr sie fort, »so ist da so eine Geschichte von Raum und Zeit, die ihm sehr zu schaffen macht, wie es scheint: er redet da immer von einer Realität des Raumes, und Herr Kant, glaube ich, von einer Idealität oder so etwas. Ich 100 verstehe davon weiter nichts und sage ihm immer, wenn er sich so schrecklich darum aufregt, man hätte doch wahrhaftig allen Grund, den Raum sehr ideal zu finden, namentlich bei schönem Wetter, und mit der Zeit kann man ja im ganzen auch zufrieden sein, wenn sie auch an guten Tagen ein bißchen zu schnell und an bösen zu langsam vergeht; warum soll man also dem Kant nicht recht geben? Mein Bruder schüttelt dann aber den Kopf und behauptet, ich rede den reinsten Unsinn, was ich eben durchaus nicht finde.«

»Ei, was Tausend«, fuhr der Alte in ihre Rede, »da muß Ihr Bruder ja ein recht naseweiser Schwerenöter sein, wenn er unserem Altmeister Kant seine Idealität des Raumes bestreiten will! Zwar verstehe ich von diesen Schnurrpfeifereien auch nicht viel und kümmere mich nicht darum; aber Kant hat es so gelehrt, und das genügt.«

»Das finde ich eigentlich auch«, bemerkte Hildegard, »mein Bruder könnte sich getrost dabei beruhigen. Nun, aber dafür schwört er desto fester auf diesen kategorischen Imperativ, von dem wir schon geredet haben.«

»Der Teufel sollt ihn regieren, wenn er's nicht täte!« schrie der Alte, »aber gut, gut! Ganz brav. Für so einen Seichtbeutel von Rheinbündler ist's immer schon etwas. Nun also, und was die Hauptsache ist, Ihr Bruder handelt also auch danach?«

»Ja, das ist eben nun so eine eigene Sache. Er handelt schon danach, soweit er kann: aber das ist nicht immer sehr weit. Es geschieht ihm so oft, daß er den Vorsatz hat, morgens um sechs Uhr aufzustehen, und doch bis zehn Uhr schläft. Oder er will seinen verdorbenen Magen durch Fasten kurieren und fällt eine Viertelstunde nach diesem Entschluß einem Plumpudding oder Hummersalat zum Opfer. Oder er will ein Buch schreiben und bereitet sich auf diese Anstrengung durch Spazierengehen und Durstlöschen so gründlich und so lange vor, bis er seine Gedanken wieder vergessen oder auch als irrtümlich erkannt hat. Wahrhaftig, er hat noch nie ein ordentliches Buch zustande gebracht, obgleich er so viele Zettelchen vollgeschrieben hat, um gewiß zehn Bände zu füllen. 101 Oder er will im Interesse der Wahrheit und Wissenschaft einem dreisten Lügner die Maske vom Gesicht reißen, kommt aber nie dazu, aus Furcht, er könne dem Ärmsten doch vielleicht in irgendeinem kleinen Punkte Unrecht tun. Alle diese Stücke und viele andere gleicher Art hat er schon einmal oder auch zehnmal in der Wirklichkeit aufgeführt –«

»Kurz, der Mensch ist ein Schwächling und ein Feigling!« rief der Alte zornig. »Und das wagt sich einen Schüler Kants zu nennen!«

»Wenn Sie die Härte dieser Ausdrücke um ein gutes Teil mildern wollten«, erwiderte sie ruhig, »so würden Sie der Wahrheit wohl ziemlich nahe kommen. Er ist wirklich ein wenig furchtsam und ein bißchen sehr unentschlossen und auch allzu nachgiebig gegen allerlei Reizungen, die seinen Sinnen aufstoßen. Aber das hindert nicht, daß er allezeit den redlichen Willen hat, das Gute zu tun und seiner Pflicht zu genügen.«

»Das ist nichts«, sagte der Rittmeister rauh, »guter Wille ist nichts, starker Wille ist alles. Schwäche, Zuchtlosigkeit, Feigheit gerade sind die Kardinalsünden wider den kategorischen Imperativ neben der Unwahrhaftigkeit.«

»Nun, die letztere Sünde wenigstens ist die seine nicht. Ich weiß, daß Sie ihn durch keine Gewalt oder Folter dahin bringen könnten, seine Überzeugung zu verleugnen. Ich habe den Glauben, daß er in barbarischen Zeiten so mutig wie irgendeiner den Märtyrertod hätte sterben können. Dazu ist er so ehrlich gegen sich selbst, daß er sich mit dem traurigen Brüten über seine Schwäche und mit unerbittlicher Selbstverachtung beständig das Leben verbittert. Da meine ich am Ende doch, daß bei einem solchen Menschen Mitleid mehr angebracht sei als strenge Verurteilung.«

»Nein! Gar nicht!« rief er laut, »Strenge, sage ich, Strenge und nochmals Strenge! Was meinen Sie dazu, wenn ich den jungen Herrn mir einmal vorzunehmen und ein bißchen zuzureiten versuchte? Ein Kerl, der seinen Kant im Kopfe trägt, kann doch nicht ganz verloren sein. Vielleicht, wenn er eine kräftige Faust im Nacken fühlt – es ist mir wenigstens 102 schon einmal so etwas mit einem wilden Füllen gelungen, das jetzt ein lenksames, gutes Roß geworden ist –«

Hildegard wurde aufmerksam und sah ihn eifriger lauschend an. Der Alte aber brach plötzlich ab, sprang von seinem Stuhle auf und wanderte mit heftigen Bewegungen in dem Zimmer hin und her. Endlich schien er einen starken Entschluß zur Reife gebracht zu haben; er stand vor dem Tische still, stemmte beide Arme darauf und sagte eindringlich:

»Mein Kind, ich werde Ihnen die Geschichte erzählen. Sie ist noch nicht ganz zu Ende, und es ist nicht unmöglich, daß ich sogar Sie selbst noch zur Mitwirkung darin aufrufe. Denn noch einmal: gerade heraus: Sie gefallen mir, ganz und gar, ganz und gar! Und darum habe ich auch das Vertrauen zu Ihnen, daß Sie das Geheimnis nicht mißbrauchen werden. Denn es ist ein Familiengeheimnis – nun, Namen tun einstweilen nichts zur Sache. Würden Sie auch gleichgültig lassen, da Sie hier fremd sind.

»Ich sprach Ihnen schon von meinem zweiten Dienst, dem schwersten: dem Dienst bei einer launischen Frau. Das ist die Mutter meines Füllens. Nun hören Sie weiter. Diese Person war einst vor mehr als fünfundzwanzig Jahren meine Braut.«

»Ihre Braut? Ah!« rief Hildegard überrascht aus.

»Ganz recht, meine Braut. Sie hatte das Unglück gehabt, sich aus irgendeiner schwachen Laune gerade in mich zu verlieben; ich erfuhr das aus guter Quelle und hielt es für anständig, mich ihrer zu erbarmen.«

»Ohne sie zu lieben?«

»Natürlich, was Schwärmer und Kindsköpfe lieben nennen. Ich selbst damals auch noch. Bildete mir ein, für ein Frauenzimmer wenigstens sei so ein Liebeszustand eine ganz ernste Sache, etwas Schönes und Hohes. Jetzt weiß ich's ja anders; diese Leidenschaft ist nicht um ein Haar besser als jedes andere Begehren: Glücksucht, Selbstsucht: also geringer Beachtung wert. Damals wußt ich's noch nicht. Hielt es also für eine Art Pflicht, mich mit ihr zu verloben. Keine schwere Pflicht. Sie war eine feine, brave Person, und ich hatte nichts gegen sie. Gerade in den Tagen aber, ehe die Sache noch 103 öffentlich gemacht war, wurde ich in Montierungsgeschäften nach Masuren geschickt. Daselbst gewann die Dummheit Macht über mich: ich verliebte mich mit pudelnärrischer Leidenschaft in ein schönes Weibsbild, eine Polin. Natürlich blieb ich meiner Braut treu, aber das Weibsbild setzte mir mächtig zu, und es ward eine schwere Bedrängnis, gegen mich selbst aufzukommen. Damals lernte ich's kennen, welch ein nichtsnutzig begehrliches, pflichtvergessenes Ding diese Art Liebe ist. Aber zum Glück hielt ich aus.

Da schreibt mir meine Braut eines Tages sehr traurig, ihre Eltern hätten anders über sie beschlossen, ihr Vater sei in schlechte Verhältnisse geraten und müsse einem sehr begüterten Herrn, einem Assessor, den Vorzug geben. Sie selbst halte für richtig, vor allem ihrer Kindespflicht zu genügen. – Das schrieb sie nicht so kurz und glatt, sondern mit vielen ängstlich gewundenen Reden, aus denen ihr Kummer und ihr gutes Herz heraussah.

»Da saß ich arg in der Klemme. Sie tat recht, wenn sie gehorchte, das mußte ich mir sagen. Also hätte ich ihr auch danach zureden müssen. Nun stimmte das aber gar zu schön mit meiner eigenen selbstischen Lust und Begierde: also konnt' ich's doch wieder nicht rein vor mir selbst vertreten, ihr solchen Gehorsam anzuraten. Darum schrieb ich ihr bloß ernstlich, sie müsse sich selbst prüfen, ob sie stark genug sei, ihre erste Liebe zu unterdrücken und mit dem fremden Manne eine ehrliche Ehe zu führen. An mich solle sie dabei nicht denken: ich sei ein Mann und fühle die Kraft, das Härteste zu ertragen. Das war auch wieder halb unwahr. Aber sollte ich ihr den Schmerz antun, ihr auch meine Untreue zu offenbaren oder gar, daß es mit meiner Leidenschaft für sie niemals weit her gewesen war? Nein, das hieß ihr nur den guten Pflichtkampf vergiften und diente überdies zu klärlich meinen eigenen ungetreuen Wünschen. Ich ließ ihr den Trost, sich von mir geliebt zu wissen.

So schrieben wir hin und her. Doch ehe es noch zu einer weiteren Antwort von ihrer Seite kam, hatte die Hochzeit schon stattgefunden. Sie hatte ihre Neigung der Pflicht 104 geopfert; ich achtete sie um so höher. Ist auch eine gute Ehe geworden, wie jede Ehe, die auf Pflicht gegründet ist.

Mir ging's schlechter. Selbstverständlich, weil ich der blinden Glückssucht folgte. Ich heiratete die Polin. Wir paßten nicht zusammen. Kinder hatten wir nicht, uns fester zu binden. Zuletzt lief sie mir fort und starb nicht lange danach an einer Erkältung, die sie sich bei einer lustigen Schlittenfahrt zugezogen. Ist mir damals doch verflucht nahe gegangen, liebes Kind. Zum Verzweifeln. Aber im selben Jahre erschien Kants Kritik der praktischen Vernunft; da fand ich meinen Trost.

Aber auch Doris ward früh Witwe; ihr blieb ein junger, gefährlich hoffnungsvoller Sohn. Sie fand sich in großer Trauer und Hilflosigkeit, obwohl sie in guter Vermögenslage war; hilflos und ängstlich war sie allezeit, hilflos vor allem auch ihrem Kinde gegenüber. Da wußte ich, wohin ich gehörte; es war meine Pflicht, einem Frauenzimmer, das um meinetwillen Kummer gelitten, nach Kräften einigen Ersatz zu bieten. Als Freund stand ich ihr zur Seite, ordnete ihre Geschäfte und besuchte sie oft von meinem Gute her, bis ich am Ende ganz in diese unsere gemeinsame Vaterstadt übersiedelte.

Denn ich merkte immer deutlicher, wie sehr ich ihr nötig war, wie sehr es galt, ihr gegen ihren Sohn zu helfen. Es ist wahr, der Ulrich war ein Prachtjunge, schön, stark, frisch, feurig, wild, ein edles Füllen, Rasse vom Wirbel bis zur Zehe.«

Der Rittmeister hielt einen Augenblick inne; die Augen seiner Zuhörerin begannen seltsam zu leuchten; er merkte es und nickte ihr freundlich zu.

»Ja, ja, das muß Ihnen Freude machen«, sagte er, »weil Sie selbst Rasse haben. Allein Vollblutpferde brauchen besondere Zucht: die Zucht fehlte. Das Füllen wurde immer unbändiger, schlug vorn und hinten aus. Die arme Mutter konnte nichts als den Sohn bewundern, ihm nachgeben und ihm schmeicheln. Es ist wahr, alle Welt bewunderte ihn ebenso, nicht die Basen und Gevatterinnen allein, auch die 105 Kameraden; er war ihr Held im Kampf mit den Rangen der Klippschule, im Kampf mit den Spießbürgern und im Kampf mit den Lehrern. Und diese Lehrer selbst, die Narren, bewunderten und verhätschelten ihn: er war ein gar zu liebenswürdiger Bengel, gerade, frei, stolz, log nie, dazu heiter und seltsam begabt. So hatten auch sie ihre törichte Lust an ihm, bis er ihnen allen über den Kopf wuchs, Tollheit über Tollheit beging, durch Güte selten, durch Strenge gar nicht mehr zu bändigen war. Die Mutter weinte und fuhr fort, ihn zu bewundern.

Und doch half manchmal noch die Liebe zu dieser Mutter. Er liebte sie aufrichtig, leidenschaftlich; aber er liebte sie so trotzig verschämt, wie andere Knaben ein Mädchen lieben, nie vermochte er es einzugestehen oder nur merken zu lassen; und doch war diese Liebe das einzige Mittel, auf seinen Willen zu wirken.

Darum redete ich schonungslos mit der Mutter, zeigte ihr den Abgrund, in den er versinken wollte, und gebot ihr Festigkeit und Selbstbeherrschung; ich weckte mit lautem Ruf ihr Gewissen; sie sah alles ein, weinte kläglich und versprach, ihre Pflicht zu tun.

Sie tat, was sie konnte. Sie vermochte es über sich, ihre kindische Freude an seinem Übermut zu verbergen, ihm ein gemessenes, leidendes Gesicht zu zeigen; und dann begann er einzulenken, ganz leise, nur für ein scharfes Auge bemerkbar, aber man sah doch voll Hoffnung, daß ein anderer Geist verschämt in seinem Herzen wirkte. Es galt nur, ihm Zeit zu lassen, daß dieser Geist sich heimlich entwickelte und den trotzigen Dämon in ihm unterkriegte.

Allein solange hielt es die Mutter nicht aus; die sinnlose Zärtlichkeit brach sich neue Bahn wie ein eingedämmter Fluß und ergoß sich zur unrechten Zeit in heiße Freudenbezeugungen. Da war es wieder aus: er witterte die Freiheit, er fühlte die Dehnbarkeit des zarten Zügels, der ihn gehalten, er ahnte, wie künstlich gemacht und wie flüchtig der Gram seiner Mutter war, und er riß sich los von ihrem Bande und trieb es ärger denn je.

106 Sie aber ward dann übermannt von einem bitteren Gefühle der eigenen Ohnmacht und einem Zorn – einem Zorn im tiefsten Grunde wider sich selbst; doch sie ließ ihn aus an ihrem Sohne. Sie war eine jähe Natur, nur gemildert durch weibliche Weichheit und Schwäche. Damit verdarb sie es erst ganz. Es gab Auftritte voll Trotz und Heftigkeit zwischen beiden – dann eine stürmische Versöhnung –, und dann blieb alles beim alten. Nur wurde es schlimmer.

Ich selbst vermochte immer weniger über ihn. Er lernte mich hassen als den einzigen, der ihm mit Strenge entgegentrat. Und seine Mutter, ich weiß es, beschützte sein Gewissen heimlich wider mich. Ich ward ausgeschlossen aus ihrem heimlichen Bunde; die Mutter fürchtete mich fast noch mehr als der Sohn. So stand ich beiseite.

Bald glaubte ich an keine Zukunft mehr für ihn. Er war schon zu groß geworden, ein richtig erwachsener Kerl, und ich sah, wie er Schritt für Schritt sich tiefer in den Sumpf verlor. Noch war er nicht böse, noch nicht verdorben von Herzen, kaum ganz in seinen Sitten, doch er mußte mit Sicherheit verdorben werden. Ich spreche nicht zumeist von seinen wilden Streichen: die mochten verziehen werden, ob zwar nicht gar heimlich gepriesen, wie manche Narren taten. Er spielte einmal Krieg gegen die Franzosen auf eigene Faust im Jahre sieben: das fanden sie wacker und kühn. Dummheit! Eine nichtsnutzig frevelhafte Spielerei war's, das Vaterland war ihm im Grunde so gleichgültig dabei wie die eigene Ehre; rohe Tatenwut war's, weiter nichts; er wäre wohl ebensogut unter Seeräuber gegangen. Mit Schills tapferen Taten und edelsinniger Tollheit hatte das nichts gemein.

Denn das war's: er kannte kein Pflichtgefühl. Er kannte nur plötzliche Triebe, nur Neigungen, die sich zwar gelegentlich auch zum Guten wandten: und dann täuschte er eine Zeitlang mit dem Schein von Besserung: danach aber kam ein anderer Trieb, und alles war vorbei. Das schlimmste Unheil war, daß er das Arbeiten ganz und gar verlernte. Zuweilen machte ihm ja auch die Arbeit Spaß, und er leistete dann Gutes, ja Glänzendes; doch auch das war ihm nur Spiel wie 107 alles in der Welt, eine lustige Laune: und die Laune kam je länger, je seltener. Zuletzt konnte er nicht mehr arbeiten, auch mit dieser Laune nicht. Er war verrostet. Mit dem besten Herzen von der Welt, mit einem Überschuß von herrlicher Kraft versank er rettungslos in den Sumpf langsamen Vermoderns aus Schwäche und innerer Fäulnis. Bloß weil er das Wörtchen: Du sollst! nicht konnte. – Er wäre nicht der erste liebe, gute Kerl gewesen, den ich an meiner Seite zum Teufel gehen sah, weil seine Seele vom kategorischen Imperativ nichts wußte.

Da kam eine Krisis. Eine furchtbare Krisis. Aber die rettende.

Der Jüngling kommt von einer lärmenden Nacht nach Hause. Er hat zum Beschluß einen rohen Streich gemacht, der ihm eine schwere Strafe, seiner Mutter bittere Tränen bringen wird – einem Lehrer von offener Straße her die Fenster eingeworfen. Im Bewußtsein des begangenen Unrechts ist er weich gestimmt, zur Reue geneigt; er sehnt sich heimlich, vor seiner Mutter das Herz zu erleichtern, von ihr ein Wort der Vergebung zu empfangen. Er schleicht an die Tür ihres Schlafzimmers, zu horchen, ob sie vielleicht noch wache. Allein zum Unglück strauchelt er, halbtrunken wie er ist, stößt in der Dunkelheit gegen ein bepacktes Flurtischchen, das mit jähem Gepolter zusammenstürzt. Die Mutter eilt mit Licht heraus, sieht den Sohn in seinem zweifelhaften Zustande, wird von überwallendem Zorne hingerissen. Wie alle Frauen verabscheut sie die Ausschweifungen des Trunkes sogar im Übermaß, ohne Billigkeit, da sie doch ärgere Sünden leicht verzeiht: sie fährt auf den Erschreckten, nun doppelt Reuevollen mit Vorwürfen ein, überstürzt sich in Leidenschaft, schleudert ihm seine Vergehungen gehäuft ins Gesicht, vergiftet nach ihrer Art den gerechten Tadel durch törichte Übertreibung, reizt gedankenlos die unsichere Seele zum Widerspruch. Die Hauptsache: sie trifft die unglücklichste Stunde: ein Herz, das eben freiwillig sich ergeben will, darf nicht noch mit Gewalt zur Demütigung gezwungen werden. Sein Gemüt verstockt sich auf einmal, er entgegnet trotzig, höhnisch, die 108 Leidenschaften erhitzen sich gegeneinander, sie kennen sich selbst nicht mehr. Was den Sohn zum äußersten reizt, ich weiß es nicht, sie wissen es beide nicht – er hebt die Hand gegen die eigene Mutter! Vielleicht, vielleicht nicht mit der Absicht zu schlagen, nicht sie zurückzustoßen– allein er hebt die Hand. Mit einem Schrei fällt die Mutter zu Boden. Er sieht Blut an ihrer Stirn. –

In tiefer Nacht kommt der Junge in mein Haus gestürmt, wirr, entstellt, totenbleich, und treibt mich aus dem Bett zu seiner Mutter. Er selbst sinkt auf mein Kanapee und bleibt dort liegen. Ich fort zum Arzt, mit diesem zu Frau Doris; wir wecken sie aus ohnmachtähnlicher Erstarrung; ich überlasse sie dem Arzt und eile zurück in mein Haus: der Sohn flößt mir größere Angst ein als sie. Mit Recht: ich finde ihn bemüht, das Schloß meines Pistolenkastens zu sprengen.

Er starrte mich an wie im Wahnsinn, ich packe seine Arme, er wehrt sich, ich ringe mit ihm; er beginnt zu toben. Noch halte ich ihn gefesselt, doch meine Kraft erlahmt allmählich; seine jungen Glieder sind stärker. Der Kasten poltert dabei zur Erde, das Schloß kracht auseinander, die Pistolen rollen heraus, der Drücker der einen berührt meinen Fuß, der Schuß geht los; die Kugel fährt durch die Fensterscheibe. Blitz und Knall und das Klirren des Glases lassen ihn aufhorchen, wecken ihn zu halber Besinnung aus seiner Raserei. Ich rufe laut den Namen seiner Mutter: und plötzlich lösen sich seine Glieder, aufweinend sinkt er zurück in meine Arme.

Jetzt hatte ich gewonnen Spiel. Jetzt war seine trotzige Seele gebrochen. Jetzt donnerte ich ihm meinen kategorischen Imperativ in das sündige Herz, bis es zerknirscht und mürbe war bis in seine Tiefen.

Ich habe ihn nicht geschont in jener Stunde. Mit aller Grausamkeit gab ich ihm zu glauben, daß seine Mutter ihn ganz aus ihrem Herzen gerissen, ihn ganz verstoßen habe. Sie wolle von keiner Verzeihung, keiner Gnade wissen; sie weigere sich vor allem unbedingt ihn noch zu sehen. Aber noch mehr: ich ließ ihn tagelang dunkel hindeutend in dem schrecklichen Wahn, daß jene Stirnwunde ernsthaft, bedenklich, 109 vielleicht nicht ungefährlich sei – ich führte ihn bis hart an die Grenze der Ahnung, daß er ihr Mörder könne geworden sein. –

So zerstörte ich den letzten Trieb zur Selbstverteidigung bis auf die Wurzel. Nicht umsonst hat er, in meiner Wohnung eingeschlossen, drei lange Nächte hindurch im Traum und jähem Erwachen die blutige Stirn der Mutter vor Augen gesehen.

Allein es galt nicht bloß zu zerstören, es galt aufzurichten und aufrecht festzuhalten. Der junge Baum mußte wieder anwachsen und stark werden nach dem Sturm.

In weiter Ferne zeigte ich ihm eine dämmernde Hoffnung: nur einen winzigen Zufluchtsort, da seine arme Seele sich heimlich bergen könnte vor der Verzweiflung. Jakob habe sieben Jahre um die Braut gedient: er solle zusehen, wie lange er dienen müsse um die Gnade seiner Mutter.

Ich stieß ihn hinaus in die Welt, wie er war, unerzogen, halb verdorben, mit wenig Mitteln und wenig Kenntnissen. Ich sprach zu ihm: So schlage dich durch und ringe um die Gnade, indem du ein Mann wirst. Und damit du das werdest, sollst du fortan in allem, was du tun wirst und reden, dir diesen einen Imperativ vor Augen halten: ›Handle in allen Stücken so, daß die einzige Maxime deiner Handlung das Wohlgefallen deiner Mutter sei.‹ Ein anderes Gebot kann es für dich nun nicht mehr geben.

Damit entließ ich ihn. Ich habe ihn seitdem noch nicht wieder gesehen. Es sind nun fünf Jahre darüber vergangen.«

»Und er ist ein Mann geworden in diesen Jahren!« rief das junge Mädchen in voller Begeisterung, indem es mit glühenden Wangen aufstand und dem Alten beide Hände reichte. »Sie haben Großes, Herrliches an ihm getan, Herr Rittmeister!«

Seine Blicke strahlten; er machte eine Bewegung, als wenn er sie umarmen wollte.

»Das wollte ich hören von Ihnen«, sagte er, »einzig um das zu hören, habe ich Ihnen die schwere Geschichte erzählt. Und nun brauche ich Sie nicht mehr zu fragen: Empfinden 110 Sie einige Teilnahme für diesen Unbekannten? Und zweitens: Meinen Sie, daß es recht war, ihn so unerbittlich anzufassen? – Das haben Sie mir nun beides schon beantwortet. Weiter brauche ich für heute nichts mehr. Ich kenne Sie jetzt und weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, wenn ich vielleicht Ihrer Hilfe bedürfen sollte. Doch davon ein andermal. Für jetzt –«

»Nur eines noch«, unterbrach ihn Hildegard in großer Bewegung, »nur eine Frage gestatten Sie mir noch! Diese Mutter – ich will Ihnen gestehen, ich bewundere sie mit Staunen, die Seelenkraft, die es vermochte, den einzigen Sohn die langen Jahre hindurch in ewiger Ferne und unter dem härtesten Seelendruck zu halten – eine gewaltige Frau muß das sein – aber was hinderte sie –, warum zögert sie jetzt noch, ihm die ersehnte Gnade zu gewähren? Unmöglich kann ein Mutterherz doch in Wahrheit unerbittlich sein.«

»Das ist es nicht! Wahrhaftig nicht!« entgegnete er lächelnd, »nun, ich hoffe, Sie sollen sie noch kennenlernen, diese gewaltige Frau! Ja, das war eine Aufgabe, sage ich Ihnen, die bei der Stange zu halten! Mit dem Jungen, das war ein Kinderspiel, aber die Alte zu bändigen, das war das Kunststück! Gleich am zweiten Tage hätte sie ihm alles vergeben, ihm selber abgebeten, ihn von neuem bewundert – und dann alle Tage, die Gott werden ließ, so weiter. Und gegen diese Sinnlosigkeit anzukämpfen, immerfort, immerfort, immerfort, fünfmal dreihundertfünfundsechzig Tage lang und noch zwei Schalttage und etliche andere dazu, das war ein Vergnügen! Einsperren mußte ich sie, geradezu einsperren, sonst hätte sie alles verdorben. Denn das ist klar: das kleinste Nachlassen, verfrüht, zur unrechten Stunde, und der Junge war für Zeit und Ewigkeit verpfuscht. Aber ich habe sie festgehalten mit der eisernen Zange meines kategorischen Imperativs, daß sie nicht den winzigsten Seitensprung machen konnte. Klagen durfte sie und sich satt weinen nach Herzenslust – doch darüber hinaus keinen Schritt. Mit der Zeit ist sie auch ein wenig vernünftig geworden, sitzt friedlich in ihrem Garten oder ihrem Museum – sie hat sich da nämlich eine absonderliche 111 Schatzkammer eingerichtet: lauter Reliquien von ihrem Jungen, als wenn er gestorben und vom Papst kanonisiert wäre; Sie können den Schlingel da kennenlernen, von den Windeln an in Bildern und Spielsachen und hunderterlei Krimskrams. Und mit dem Schnurrmurr treibt sie eine Abgötterei genau wie eine gute Katholikin mit einem ausgeputzten Heiligenknochen. Aber das gönne ich ihr, das ist unschädlich; wenn der Heilige in Person wiederkommt, hört der Fetischdienst von selber auf, dafür stehe ich! Aber – warum er noch nicht wiederkommt, fragen Sie? Ja, verzeihen Sie, liebes Kind: die Antwort ist eben das, was ich meinte mit meinem: Davon ein andermal! Glauben Sie mir, ich habe vernünftige Gründe, es Ihnen heute noch zu verschweigen.

Vielleicht aber sind Sie selbst höflicher als ich, wenn ich dagegen frage: Wie lange Zeit gedenken Sie noch hier am Orte zu bleiben?«

Sie errötete und besann sich eine Weile.

»Das käme darauf an«, sagte sie endlich, »das hängt nämlich von meinem Bruder ab. Er beabsichtigte hier einen öffentlichen Vortrag zu halten.«

»So! So! Ein kleiner Fichte oder Schleiermacher.«

»Ein wenig wohl nach diesen Mustern, nur daß er die Politik aufs sorglichste vermeidet. Und wirklich, er redet gut, sobald er einmal in Gang gekommen ist und die schreckliche Bangigkeit überwunden hat, die ihn allerdings jedesmal vor dem Beginnen befällt. Trotzdem ist es seine Leidenschaft, öffentlich zu sprechen: denn er meint, das sei der einzige Weg, auf dem er in der Welt vielleicht etwas Gutes stiften könne, und diese Fähigkeit die einzige, von der er sich eine Daseinsberechtigung herleiten dürfe. – Ich denke, er wird auch diesmal irgendwie über seinen Kant handeln, das ist ja so sein Steckenpferd«, fügte sie mit Betonung hinzu. »Wenn er sich nur erst nach der Gelegenheit umgetan hätte! Er ist in solchen Sachen so ungeschickt.«

»Ah, vortrefflich«, rief der Rittmeister voll lebhaften Anteils, »in diesem Falle verdient der junge Mann alle Unterstützung. Und die soll ihm werden. Verlassen Sie sich auf 112 mich: ich bin in solchen Sachen gar nicht ungeschickt und werde für alles sorgen, Lokal, polizeiliche Erlaubnis und was sonst noch nötig ist – schon um Ihnen gefällig zu sein! Das ist mein Vergnügen dabei. – Und nun leben Sie wohl, schönes Fräulein; hoffentlich nicht auf lange. Es ist mir wertvoll, Sie kennengelernt zu haben, ich versichere Sie, sehr wertvoll. – Wie wunderbar, daß Sie noch keine Preußin sind!«

Er küßte ihr sehr artig die Hand und ging mit seinen kräftigen Schritten zur Türe hinaus.

Hildegard sah ihm gedankenvoll nach, und nun erst begann sie eine rechte Verwirrung zu überkommen über all die Dinge, die sie gehört und doch nur zum Teil verstanden hatte. 113

 


 


 << zurück weiter >>