Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Der Rittmeister auf dem Folterbette.

Der Rittmeister August von Jageteufel hatte in Wahrheit ein merkwürdiges Erwachen.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er nach längerem Zwinkern mühsam die Augen aufsperrte und verworren um sich blickte. Er fühlte heftige Kopfschmerzen, ein sonderbares Brennen auf der Brust und mehr noch ein allgemeines, tiefinnerliches Unbehagen, halb körperlich, halb geistig, wie ein dumpfes, angstvolles Sichbesinnen auf ein nebelhaft auftauchendes und jäh wieder verdämmerndes Schrecknis.

Sein erster scheuer Blick fiel auf Anton Reff, der in einem alten Erblehnstuhl wonnig hingegossen mit dem Ausdruck einer unbeschreiblichen Glückseligkeit schlummerte; neben ihm stand auf einem Tischchen ein Vierteldutzend leerer Burgunderflaschen, von derem Inhalt ein sehr geringer Teil verschüttet die Platte rötlich überströmte.

Der Alte, der selbst jenen Sessel aus Ehrfurcht niemals benutzte, geriet aus dem tiefsten Erstaunen in einen schnell wachsenden Zorn vornehmlich über die freche Glückseligkeit des Menschen und tastete nach der Reitpeitsche, die nebst zwei Pistolen über seinem Bette hing. Doch indem er solcherart sich ein wenig in die Höhe richtete, empfand er an seinen Füßen ein Hindernis wie eine Fessel. Er ruckte kräftiger und gab einen Laut des Schmerzes von sich. Er hob das Deckbett in die Höhe und mußte sich überzeugen, daß er in einem regelrechten Gipsverbande lag. Erschrocken betrachtete und befühlte er sich am ganzen Leibe und entdeckte das breite Pflaster auf der Brust, das sich ohnehin durch sein Brennen bemerkbar genug machte sowie die kleineren Verbandstreifen im Gesicht.

»Himmelsackerment«, rief er erschrocken und verblüfft. »Was bedeutet dies? Anton! Anton Reff! Aufwachen! Reff! Reff! 319 Reff! Unverschämter! Wie kommt Er in mein Schlafzimmer und in meinen Lehnstuhl? Wie kommt Er zu meinem Rotwein? Und was ist mit mir geschehen? Anton! Anton!«

Sein Rufen steigerte sich zum Brüllen, ohne daß der Küster sich regte oder den Gesichtsausdruck im geringsten veränderte. Diese aufdringliche und unzerstörbare Glückseligkeit brachte den Alten nach und nach in eine wahre Raserei, die durch den Druck auf seine Beine und durch das Brennen des Senfteigs keineswegs vermindert wurde.

Anton aber lächelte im Schlummer immerfort voll Milde und träumerischer Süßigkeit, und seine Verzückung schien sich stetig nur zu vertiefen, als ob soeben die Herrlichkeit aller Himmel zu ihm niedersteige.

Da riß der Rittmeister zuletzt mit einem Wutschrei seine Pistole vom Nagel, drückte ab und schoß eine der Weinflaschen in Scherben.

Jetzt fuhr der Küster aus dem Schlaf und blickte mit einem wüsten Staunen um sich.

»Mensch!« schrie der Alte ihn mit heiserer Stimme an, »in des Teufels Namen, sage Er mir, was ist es, das Ihn so respektwidrig lächeln macht? Was erzeugt in seinem Gemüte diese unverschämte Seligkeit?«

»Es ist das Blut des Lammes«, versetzte Anton, mit der herabfallenden Hand in den vergossenen Rotwein patschend, schloß die Augen und lächelte weiter.

Jetzt verlor der Rittmeister selbst zur Wut die Kraft; er knirschte eine Weile mit den Zähnen und sagte dann in einem kühlen, knapp befehlenden Tone: »Anton!«

Das erweckte den Diener, und mit überraschender Schnelligkeit kam er zur vollen Besinnung.

»Ja, ja, da haben wir die Bescherung«, sagte er gemütlich.

»Verdammter Halunke«, schrie der Alte, »was heißt dies alles?«

Anton Reff senkte bescheiden das Haupt und sprach:

»Meint der gnädige Herr das mit dem schönen Rotwein? Gebet starkes Getränk denen, die umkommen sollen, und den Wein den betrübten Seelen, daß sie trinken und ihres Elends 320 vergessen, sagt Salomo, und ferner: Wenn ein Böser sündiget, verstrickt er sich selbst, aber ein Gerechter freuet sich und hat Wonne. Ach, gnädiger Herr, denken Sie doch, wie Sie gestern so furchtbar betrunken waren und so wütend, und der junge Herr Philosophikus war auch so wütend und also gewiß ebenso betrunken, und der Herr Physikus wird doch mit seiner schwachen Leiblichkeit erst recht nicht geradegestanden haben – wie ich da so in meinem Elend der einzig Nüchterne von der ganzen Gesellschaft war, da mußte ich in meiner geistlichen Demut bei mir denken: Ist es auch recht, daß du dich in Gedanken heimlich über den öffentlich angestellten Herrn Stadtphysikus setzen willst und über einen studierten Menschen, der vor den Völkern laute Reden halten kann, und sogar über deinen eigenen hochedlen Herrn, der Gewalt über dich hat? Ist es auch recht, daß du tugendhafter sein willst als diese hochansehnlichen Leute alle drei, und es obendrein nicht bloß sein willst, sondern auch wirklich bist? Da schämte ich mich, denn das mußte ich Tugendstolz nennen, und beschloß, ihn abzutun und mich auch zu betrinken. Und gewissermaßen tat ich das auch. Und da fand ich so ein paar Fläschchen gerade wie expreß für mich hingesetzt, wie geschrieben steht: Der Herr gibt ihnen ihre Speise zu ihrer Zeit; und ich muß nun auch nach meinem Gewissen sagen: dieser Wein ist geradezu gut, gnädiger Herr, geradezu gut.«

Er blickte seinem Herrn mit so unwiderstehlicher Unschuld ins Gesicht, daß dessen Zorn ein wenig entwaffnet wurde, und er gelassener fragte:

»Anton Reff! Sage Er mir die genaue Wahrheit: was ist vorgefallen gestern abend? Ich merke, daß mein Gedächtnis mich im Stich läßt. Wie komme ich zu diesen verfluchten Pflastern und Binden?«

Der Küster legte beide Hände über die Augen und fing an, leise zu schluchzen.

»Erbarm dich!« jammerte er, »der gnädige Herr erinnert mich an die schrecklichste Stunde meines Lebens. Grausam war es anzusehen, wie Sie und der Herr Philosophikus sich zu Leibe gingen mit nackenden Schwerteen und nachher sogar mit 321 Pistolen schossen, daß es nur so knallte. Und wenn Sie Kanonen gehabt hätten, dann hätten Sie gewiß auch noch mit Kanonen geschossen. Denn der fremde junge Mensch war ja ganz außer Rand und Band und wollte sich durchaus nicht zufrieden geben, bis er Sie umgebracht hätte oder Sie ihn. Überhaupt, ein wütender Mensch muß das sein von Natur aus; Augen hat er gemacht, gar nicht wie ein ordentlicher menschlicher Untertan und Einwohner, sondern richtig wie so eine wilde Völkerschaft dahinten in den Weltteilen. Und um sich gehauen hat er, daß die Funken stoben, und da kriegten Sie denn Ihre Schmisse übers Gesicht und über den Busen, daß Ihr Blut nur so die Dielen lang plätscherte wie ausgelaufener Rotwein und ich in meines Herzens Mitleidigkeit dachte, jetzt hätten Sie von Rechts wegen gerade genug. Und ich wollte den furchtbaren Menschen festhalten, daß er Ihnen nichts mehr tun sollte, aber er ließ nicht locker, sondern schrie bloß immer nach Pistolen, mit den Säbeln, das wäre ja die reine Kinderspielerei. Gott sei mir Sünder gnädig! Als ob bei uns zulande die Kinder mit Blut und Rotwein quadderten! Sie aber wollten sich nicht lumpen lassen, gnädiger Herr, und holten die Pistolen, und das verfluchte Schießen ging los, daß man nicht wußte, wo man mit seinen Beinen bleiben sollte vor Angst. Aber der Meinung bin ich nun doch, gnädiger Herr, wenn Sie ein klein bißchen nüchtern gewesen wären, dann hätten Sie ja wohl im Handumdrehen ein Sieb aus ihm gemacht; in Ihrem verderblichen Zustande aber knallten Sie mitten durch die Luft und er mitten durch Ihre Beine, daß Sie gleich zusammenknickten und in Gips gepackt werden mußten, damit Sie nicht ganz und gar auseinandergingen. Und ein Segen Gottes war es, daß Sie sich den Herrn Physikus gleich mitgebracht hatten, denn der sagt selbst, sonst hätten Sie sich auf den Fleck die Seele aus dem Leibe geblutet; und wenn die Verbände nicht ganz fest liegenblieben, gäb es so noch ein Unglück, und darum hat er mich hierher gesetzt, daß ich Sie beaufsichtigen soll, bis er selber kommt und nach dem Rechten sieht.«

Der Rittmeister lauschte mit ungemischtem Staunen der 322 abenteuerlichen Erzählung und harrte nun tief nachdenkend vor sich hin.

»Anton Reff«, sagte er endlich mit merkwürdig weicher Stimme, »ich weiß, daß Er nicht lügen kann; Er hat zu lange schon bei mir in der Zucht des kategorischen Imperativs gestanden. Und zudem, eine deutliche Erinnerung steigt mir auf, ich sehe den jungen Menschen vor mir stehen, mit rollenden Augen, das Schwert gezückt; ich höre auch Pistolenknallen und Säbelklirren, doch alles nur undeutlich, gleichsam im dunkeln wie in einem wirren Traum; und alles andere ist tot, ganz tot in meinem Gedächtnis. Sage Er mir: was hat den friedlichen Mann so gewaltsam aufgereizt, daß er seine Natur verleugnend sogar freiwillig zu den Waffen greifen konnte? Denn gerade das ist völlig aus meiner Erinnerung ausgelöscht.«

Der Küster blickte ihm treuherzig und nicht ohne eine gutmütige Schelmerei ins Gesicht.

»Na, gnädiger Herr«, sagte er, »wissen Sie, das muß ich nu selber sagen: ein bißchen stramm sind Sie mit dem armen Menschen ins Zeug gegangen, und wundern tat es mich gerade nicht, daß er sich endlich auf die Hinterbeine setzte. Warum Sie sich nu eigentlich zuerst mit ihm verhäkelt haben, das weiß ich nicht, denn ich hüte mich als ein getreuer Knecht allezeit, auf fremde Reden zu hören, die mich nichts angehen; und erst saß der Herr Philosophikus in einem angenehmen und friedlichen Dusel und hat nicht gemuckst, bis Sie ihn sachte beim Fell nahmen und ein bißchen schüttelten. Und was Sie ihm gesagt haben, das ziemt mir nicht zu wiederholen: aber glupsch war es. Und nachher fing er ja auch an und räsonierte; und das war Unrecht. Denn es steht geschrieben: vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren. Eine gelinde Antwort stillet den Zorn, aber ein hart Wort richtet Grimm an. Der Wein macht lose Leute, und starkes Getränk macht wild. Torheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht wird sie fern von ihm treiben.«

»Unglaublich!« brummte der Rittmeister. »Unglaublich! Dieser Mensch! – Aber freilich, das Reden hätte ich ihm auch 323 nicht zugetraut. Es steckt ein Kern in ihm, wahrhaftig! Ich habe ihn unterschätzt, den zahmen Jüngling. Will sagen: Er, Anton, hat recht mit seinem letzten wackern Spruch: Feigheit saß dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht hat sie ferne von ihm getrieben. Freut mich wahrlich für ihn, freut mich ehrlich. Tut gar nichts, daß ich habe daran glauben müssen. Hätte mir getrost den alten Schädel spalten sollen; war nichts daran verloren. Bin ich nicht gestern ein Feigling gewesen, der vor Kohlköpfen zittert? Und ein kindlicher Narr hinterdrein, daß ich die plumpen, verlogenen Schmeichelreden dieser Schlange von Physikus auch nur mit anhören konnte, ohne ihn aus dem Hause zu jagen? Und danach ist es schlimmer geworden mit mir und schlimmer. Ein zuchtloser Geselle bin ich geworden, ein Säufer, der sich um Verstand und Sinne bringt, ein Zänker und ein Raufbold und ein Lästermaul, kurz, ein Schwächling, der keine seiner Begierden mehr im Zaum zu halten vermag, sondern ihnen willenlos folgt wie ein schnell gereizter Knabe. Oh! – Und dieser armselige Wicht bin ich, der Rittmeister August von Jageteufel! Anton Reff, Er hat recht getan, sich zu besaufen und damit sich selbst zu erniedrigen wie sein Herr: aber Er hätte auch schimpfen sollen wie ein Waschweib und sich balgen ohne Ursache, alles wie sein Herr, und hätte zu alledem auch noch lügen sollen, um die Rechnung vollzumachen – – aber nein! Das nicht, dieses eine nicht! Nein, Anton, unwahrhaftig sind wir nie gewesen. Diesen letzten, einzigen Rest der Menschenwürde wenigstens haben wir noch nicht verloren. Ehrlich sind wir immerdar gewesen gegen alle Welt und am meisten gegen uns selber. Das ist die letzte Planke, an die wir uns klammern dürfen in diesem Schiffbruch. Und mehr noch: wir sind auch treu und fest gewesen in dem, was wir uns selbst hatten als unsere schwerste und strengste Pflicht für unseren Lebensabend: diesen Jüngling Ulrich zu retten aus dem Sumpf der Zuchtlosigkeit und eigenwilligen Glücksucht und ihn seiner Mutter wiederzugeben als eine gefestigte Seele. Wir sind stark geblieben, und ich vertraue, wir werden das Ziel noch erreichen: er wird zur Besinnung gekommen sein in diesen schweren Stunden 324 einsamen Nachdenkens, die ich ihm bereitet habe: es ist ein letztes Aufflackern begehrlicher Leidenschaft in ihm gewesen: begreiflich, verzeihlich; er wird nun zurückkehren zu seiner Pflicht; denn er muß besser und stärker sein als wir Alten, über deren Jugend das Licht des kategorischen Imperativs noch nicht leuchtete. Ich vertraue, daß ich ihn noch heute seiner Mutter geben kann. Und Frau Doris – sage Er, Anton«, unterbrach sich der Alte, »weiß die Frau Geheimrätin schon von meinem Unfall?«

Anton Reff besann sich einen Augenblick, welche Antwort ihm auf die unerwartete Frage etwa vorgeschrieben sein möge. Da ihm nichts dergleichen einfiel, so begann er unsicher:

»Die Frau Geheimrätin? – Ach so, die Frau Geheimrätin! – Ja, ja, die Frau Geheimrätin! – Oh! Oh! – Nun, nun, gnädiger Herr, wie wird denn die Frau Geheimrätin das nicht wissen?«

»Wie?« rief der Rittmeister fast heftig, »und es fällt ihr nicht ein, sich nach mir umzusehen? Sie hat keinerlei Sorge um mich? Das ist doch fast seltsam – ich hätte geglaubt –«

»Aber natürlich, gnädiger Herr«, fiel Anton hastig ein, »das hat sie ja. Und sie hat ja schon gestern immer geschickt. Das heißt, und sie war auch selber hier. Das heißt, der Herr Physikus war bei ihr –«

Er war immer noch nicht mit sich im reinen, welche Erklärung dieses Falles die klügste sein möchte; eine derartige Verlegenheit aber war bei ihm etwas so Seltenes, daß sogar der Rittmeister aufmerksam wurde und bedenklich fragte:

»Der Physikus bei ihr? So ist sie selber krank? Etwa gar ernstlich krank?«

Der Küster wiegte den Kopf in so sonderbarer Weise hin und her und machte dazu so erstaunlich vielsagende Augen, daß jeder daraus entnehmen konnte, was er wollte. Infolgedessen entnahm sich der Alte das Schlimmste.

»Also ernstlich, schwer, gefährlich krank?« rief er, jedes folgende Wort mit größter Bestimmtheit betonend, »Mensch, und das verheimlicht man mir? Anton Reff, schämt Er sich nicht?«

325 Dieser machte ein jammervoll gnadeflehendes Gesicht und lispelte:

»Ich wußte ja nicht, ob – der Herr Physikus –«

»Himmelsackerment«, fuhr der Rittmeister dazwischen, »ich muß zu ihr. Auf der Stelle. Helfe er mir beim Anziehen. Hört Er denn nicht, daß ich muß?«

Er versuchte sich im Bette aufzuheben, wurde aber von Anton halb mit Gewalt zurückgehalten.

»Aber gnädiger Herr!« rief er erschrocken, »denken Sie doch an Ihre Knochen. Das ist rein unmöglich, Sie krachen ja zusammen. Und Sie verbluten sich ohne Umstände, wenn ein Pflaster abgeht.«

Der Alte sank mit einem tiefen Seufzer auf sein Lager zurück. Bald raffte er sich wieder empor.

»Dann trage Er mich«, sagte er befehlend, »hole Er sich jemand zu Hilfe und mache Er eine Bahre oder was Er will. Ich muß hin. Ich ahne Schlimmes dort.«

Anton erschrak noch mehr, als er den leidenschaftlichen Ernst seines Herrn erkannte, und hauchte mit geheimnisvoller Miene:

»Sie müssen entschuldigen, gnädiger Herr, der Herr Physikus hat's verboten. Es darf niemand zu der Frau Geheimrätin, auch Sie nicht. Das wäre eine Aufregung, sagt er, und die wäre sehr gefährlich.«

Der Alte starrte ihn mit dem Ausdruck des höchsten Entsetzens an.

»So steht es? So?« fragte er dumpf, »o Doris, liebe Doris! – Mensch«, schrie er plötzlich den Diener an, »was untersteht Er sich, hier herumzulungern? Warum holt Er nicht den Physikus? Auf der Stelle bringt Er ihn mir, und müßte Er ihn mit Gewalt herschleppen. Ich will hören, wie es steht, und wenn es schlimm steht, muß ich zu ihr, und sollte ich auf dem Bauche kriechen, heute und nachher all mein Leben lang.«

»Ach Gott, ach Gottchen, gnädiger Herr«, klagte Anton, »das will ich ja gerne tun, so gut wie ich kann; und ich will ihn 326 schon finden. Bloß müssen Sie mir zuerst schwören, daß Sie sich bis dahin nicht von der Stelle rühren, sondern stilliegen wie ein Lämmchen. Bedenken Sie, daß Sie mich sonst zu Ihrem Mörder machen würden! Wer die Frommen verführet auf bösem Wege, der wird in seine Grube fallen; aber die Frommen werden Gutes ererben.«

»Mein Ehrenwort«, schrie der Alte ungeduldig, »daß ich liegenbleibe, bis der Physikus kommt. Und nun fort mit Ihm, zum Donnerwetter oder –«

Der Küster, dem die verzweifelnde Angst seines Herrn unheimlich wurde, machte sich mit bereitwilliger Eile von dannen. Draußen mäßigte er seine Schritte erheblich und fand unterwegs noch behäbige Zeit, in einer Butike ein Schnäpschen zu genießen. »Auf den vielen Rotwein immer eine gediegene Abwechslung«, sprach er erklärend zu sich selber.

Vor dem Hause des Physikus fand er eine stattliche Kutsche bespannt und reisefertig, diesen selbst beschäftigt, die letzten Anordnungen zu treffen.

»Der Herr Physikus will verreisen?« fragte er etwas befremdet.

»Nicht eher, mein Lieber«, entgegnete dieser, »als bis ich mein Geschäft mit seinem Herrn beendet, wozu nunmehr die Stunde gekommen ist. Ich will doch hoffen, daß alles bisher nach Wunsch ergangen ist? Sein munteres Aussehen läßt mich Gutes erwarten.«

»Ein fröhliches Herz macht das Leben lustig, aber ein betrübter Mut vertrocknet das Gebein«, bemerkte Anton und stattete gewissenhaft seinen Krankenbericht ab.

Der Physikus nickte mit befriedigtem Lachen.

»Das Netz ist zu, der Fisch sitzt drin«, murmelte er, »Anton Reff, Er hat seine Sache gut gemacht. Und wo finde ich den Schlüssel zu dem Kerkerloche des jungen Herrn Seybold?«

»Gerade mitten auf dem Tische am Bett«, berichtete jener, »und daß er es bloß sieht, wenn Sie ihn nehmen, Herr Physikus! Wie schrecklich wäre es für mich, in falschen Verdacht zu kommen, o wie schrecklich! Es ist mir so schon höllisch angst um die Seele herum. Wenn er am Ende doch was 327 merkt – Herr Physikus, es war nicht recht von mir, meinen Herrn zu verraten für dreißig Silberlinge.«

»Ich denke, es waren gediegene Goldfüchse«, bemerkte dieser kühl, »und übrigens sei Er ohne Sorge; die Gefahr der Entdeckung ist vorüber, verlasse Er sich darauf, sein Herr rührt jetzt kein Glied ohne meine Erlaubnis, ich kenne ihn, er ist der geduldigste Kranke, der mir vorgekommen. Und nun kann Er sich noch um mich verdient machen, wenn Er den Herrn Doktor aus Frankfurt im ›König von Polen‹ aufsucht und ihn bittet, sich in einer Stunde zur Fahrt bereit zu halten. Es gilt einen kurzen Ausflug; morgen bin ich wieder hier und sehe nach unserem Kranken.«

Anton gehorchte, und der Physikus wandte sich allein dem Hause des Rittmeisters zu, nachdem ihm jener den Schlüssel zu der Mauerpforte eingehändigt.

Eingetreten, begab er sich zunächst zu Frau Doris und ward von ihr sogleich mit großer Lebhaftigkeit empfangen.

»Ich habe schon lange heimlich nach Ihnen ausgeblickt«, sagte sie, »in der unbestimmten Hoffnung, etwas Neues zu erfahren. Es ist schrecklich, so weltabgeschieden zu leben mit solcher Erwartung im Herzen. Und doch wagte ich nicht auszugehen, aus Furcht, etwas zu verraten und zu verderben. Den Rittmeister habe ich gestern vergebens noch einmal erwartet; doch das war vielleicht am besten so; ich weiß nicht, ob ich mich ganz hätte beherrschen können ihm gegenüber. Und nicht wahr, Sie haben ihn nun in Ruhe gelassen, den Alten, nachdem Sie meinen Brief bekommen? Aber sagen Sie, begreifen Sie etwas davon, daß er, gerade er selbst mir die junge Dame aus Frankfurt ins Haus brachte? Sprach er sich doch gleichzeitig mit größerer Heftigkeit als je gegen Liebesheiraten aus. Also er ahnt nicht, wer sie ist: welcher rätselhafte Zufall ließ ihn nun mit ihr zusammentreffen? Kaum vermag ich noch so recht an einen so wunderbaren Glücksfall zu glauben. Wenn jetzt nur Ulrich erst hier wäre; ich habe natürlich sofort nach Danzig geschrieben; heute abend vielleicht schon könnte er hier sein, und dann, so hoffe ich, wird sich alles 328 leicht und glücklich lösen; nur darf der Alte nichts von dieser Liebe erfahren –«

»Da wird ihm, fürchte ich, nichts mehr zu verbergen sein«, fiel der Physikus ein, »und was in dieser Sache zu verderben war, hat seine plumpe Faust auch schon in aller Eile verdorben. Das Fräulein ist in vollem Zorn von hier geschieden, entflohen gleichsam, und zwar im Zorn gegen Herrn Ulrich selbst –«

»Wie!« rief Frau Doris erschrocken, »das kann nicht möglich sein. Das ist ein Irrtum. Wie wollen Sie das erklären –?«

»Da müssen Sie schon Ihren getreuen Rittmeister fragen, durch welche Satanskünste er das zustande gebracht hat. Ich weiß nichts als die nackte Tatsache zu melden. Aber die ist sicher.«

»Oh, der Abscheuliche!« klagte Doris, »auch das noch! Und ich hoffte schon so sicher, am Ziele zu sein. Oh, das werde ich ihm nie verzeihen –«

»Um so leichter, meine Gnädige, werden Sie mir verzeihen, daß ich gegen Ihren ausdrücklichen Befehl gehandelt und den gefährlichen Störenfried dennoch dingfest gemacht habe.«

»O mein Gott«, rief Doris ängstlich, »Sie haben ihm den Schlaftrunk gegeben?«

»Das war nicht einmal nötig. Er hat ihn in anderer Gestalt von selbst genommen. Er hat sich betrunken.«

»Herr Physikus!«

»Leider, meine Gnädige. Ganz kunstgerecht betrunken wie ein Sackträger. Eine recht traurige Verirrung, nicht wahr? Da werden Sie es nur gerecht und natürlich finden, wenn ich mir mit diesem wüsten Gesellen einen kleinen Spaß erlaubte. Sie werden ihn zur Zeit in seinem Bette finden, ganz wohl und munter im übrigen, auf mein Wort; erschrecken Sie also nicht, wenn Sie sein Antlitz mit gewissen Schönpflästerchen verziert sehen, die ich ihm aufgeklebt habe; und vor allem bitte ich dringend, ihn nicht merken zu lassen, daß Sie diese, auf meine Aussage gestützt, nur für scherzhafte Attrappen halten.«

329 »Wie soll ich das verstehen?« fragte sie verwirrt. »Sie reden so sonderbar.«

»Ich wollte schonend vorbereiten. Die Sache ist die, daß der seltsame Herr sich einbildet, gestern abend in der Trunkenheit bei einer Rauferei schwer verwundet zu sein. Einige tüchtige Bandagen und Pflaster bestärken ihn in dieser Voraussetzung; und ich denke, wir lassen ihn bei dem Glauben.«

Frau Doris trat entrüstet einen Schritt zurück.

»Aber, Herr Physikus«, rief sie, »was haben Sie getan? Das ist nicht schön von Ihnen. Das ist ein häßlicher, ein roher Spaß, von dem ich nichts wissen mag. Bis aufs Blut muß es ihn kränken, wenn er es erfährt.«

»Drum eben ist es besser, er erfährt es nicht«, versetzte der Physikus ruhig; »ich erlaubte mir schon den Rat, ihn bei dem Glauben zu lassen. Wirklich, ich hoffe bestimmt von Ihrem weichen Herzen, Sie werden nicht die Bosheit haben, ihn durch eine Aufklärung bis aufs Blut zu kränken. Nein, meine verehrte Gönnerin, ich weiß, Sie werden schweigen, wie das Grab, und werden vorläufig auch vermeiden, ihm gerade ins Gesicht zu lachen.«

»Oh, pfui doch«, rief sie lebhaft, »wie könnte ich? Ich finde das Ganze abscheulich.«

»Das Lachen machen wir beide heimlich ab«, fuhr er unbeirrt fort, »und pflücken inzwischen die Früchte meiner klugen Veranstaltung. Der Unhold liegt auf Tage oder Wochen, ganz nach unserem Bedarf, gefesselt in seinem Bette, und wir betreiben in Frieden unsere Angelegenheiten, ich gewisse Kolonialgeschäfte auf der Nehrung und Sie die Befreiung Ihres Herrn Sohnes aus der babylonischen Gefangenschaft.«

Sie stutzte ein wenig. »Gefangenschaft? Befreiung?« fragte sie unsicher. »Wie meinen Sie das?«

»Ganz einfach im wörtlichsten Sinne«, versicherte er; »nach Aussage sicherer Zeugen sitzt Herr Ulrich Seybold seit gestern mittag gefangen im Turm des Rittmeisters August von Jageteufel, oberstes Stockwerk, erste Tür links.«

Frau Doris stieß einen lauten Ruf des Schreckens zugleich und der Freude aus.

330 »Allgütiger Himmel«, rief sie mit Tränen in den Augen, »mein Sohn ist schon hier? Wie ist das möglich? Und ich weiß nichts davon! Und er so mißhandelt! Mein Sohn! Mein Sohn! – O der Abscheuliche! – Und Sie, warum befreiten Sie ihn nicht, warum führten Sie ihn nicht zu mir –«

»Meine Gnädige, ich gestehe, ich finde Ihr Verlangen, mich diesem Raufbold in offenem Ringkampf entgegenzustellen, fast ein wenig herzlos. Überdies auch ein wenig unpraktisch. Ich konnte doch unterliegen – nicht wahr, die Möglichkeit geben Sie zu? Thersites gegen Achill! Und wer blieb dann, Ihnen auch nur Nachricht und guten Rat zu geben? Was konnte ich also tun, Ihren Dank zu verdienen? Mir blieb nichts übrig als ein gewisser häßlicher, roher Spaß –«

»Verzeihen Sie mir«, sagte sie kleinlaut, »dies wußte ich ja nicht! Und dies ist zuviel! Gefangen, eingeschlossen – mit welchem Recht? Das ist ein unerhörter Übergriff, der mich jeder Rücksicht entbindet. Ja, Sie haben recht, man kann nicht anders verfahren mit einem solchen Menschen –«

»Verfahren wir also weiter«, unterbrach er sie kühl. »Sie haben die Güte, mich in den Garten bis an den Turm Ihres untadeligen Ritters zu begleiten und daselbst unter dem Fenster seiner Schlafkammer eine zuwartende Aufstellung zu nehmen. Binnen fünf oder zehn Minuten wird ein Schlüssel an ein schneeweißes Schnupftuch gebunden zu Ihren Füßen niedersinken; vielleicht geben Sie sich die Mühe, ihn aufzuheben und bis an die Tür des ersten Zimmers linker Hand im obersten Stockwerk hinaufzuschleppen –«

»Oh, Herr Physikus«, rief Doris in großer Bewegung und streckte ihm beide Hände entgegen, »was sind Sie für ein sonderbarer Mensch! Wie soll ich arme Frau jemals aus Ihnen klug werden? Oh, wie soll ich Ihnen danken –«

»Gar nicht, meine Gnädige, wenn ich bitten darf; ich habe viel zu hohe Achtung vor meinen wahren Verdiensten, um unverdiente Lorbeeren einzuheimsen. Oder Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte Ihnen zu Gefallen den alten Sünder in den Stock gelegt? Nichts weniger als das; ich hatte bessere 331 Gründe. Vor allem mein Vergnügen – das kennen Sie schon; dann aber noch einen Nebenzweck. Sehen Sie, ich erfuhr durch einen Zufall, daß der Mann gerade heute einen Abstecher übers Haff nach der Nehrung machen wollte; ich aber hege die gleiche Absicht; nun liegt mir auf der Welt nichts daran, mit seinen höchst unreinlichen Geschäften daselbst in Berührung zu kommen, ehe ich die meinigen besorgt habe. Es könnte sonst unter Umständen heißen: ›Mitgefangen, mitgehangen‹, und ich wünsche mir ein friedlicheres Ende. Waffen einzuschmuggeln ist ein häßliches Handwerk; ich halte es mit den harmlosen Kolonialwaren. In solchen Sachen liebe ich gutes Gewissen. Sie sehen, Sie haben keine Ursache, zu danken, wenn nicht dafür, daß ich Ihren Ritter von einem halsbrecherischen Landesverrat zurückhalte. – Mir scheint also, wir könnten nun gehen.«

Frau Doris war schnell bereit, und beide schritten durch den Garten auf das Turmgebäude zu. Der Physikus trat hinein und stieg im Innern die Treppe hinan. Kaum hatte er den Kopf durch die Tür des Schlafzimmers gesteckt, als ihm der Rittmeister entgegenschrie:

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Physikus, wie geht es Frau Doris? Die Wahrheit will ich wissen, die volle Wahrheit. Wenn Gefahr vorhanden ist, muß ich zu ihr, ich muß –«

»Nur daß Sie nicht können, Verehrtester«, unterbrach ihn der Physikus bedächtig herantretend, »wenn nicht anders Ihr Kant den Selbstmord zu den erlaubten Vergnügungen zählt. Im übrigen dürfen Sie sich beruhigen: mit Frau Doris, das war diesmal nur ein Schreckschuß – gestern freilich befürchtete ich ein Nervenfieber; sie muß starke seelische Erregungen gehabt haben in diesen Tagen; darüber werden Sie besser unterrichtet sein als ich – heute fand ich sie wohl und munter im Garten spazierend, sie muß eine ungemein zähe Natur besitzen; ich wollte nur, ich könnte Ihretwegen ebenso außer Sorge sein, mein geschätzter Gönner, allein gegen Schuß- und Hiebwunden hilft keine Moralphilosophie, sondern einzig ein kunstgerechter Verband – ganz 332 neue Methode aber, versichere ich Sie, von ausgezeichneter Wirkung, hinterläßt häufig nicht die geringste Narbe, geduldiges Ausharren des Kranken vorausgesetzt; ein glänzender Fortschritt der Wissenschaft! – So, noch sind alle Bandagen in Ordnung; halten Sie sich ferner so ruhig! Ein unvorsichtiges Verrücken der Verbände, zumal hier auf der Brust und an den Füßen, würde unfehlbar eine tödliche Blutung zur Folge haben – wie urteilt Ihr Kant über den Selbstmord aus Leichtsinn oder Ungeduld? Auch innere Aufregungen müssen Sie strengstens vermeiden; Erhitzung des Blutes durch Zorn oder Ärger läßt die Wunden wieder aufbrechen – also ruhig, immer recht ruhig! – Dagegen dürfen wir das Fenster öffnen, die frische Luft kann Ihnen nur wohltätig sein. So, das wäre gemacht. Sehen Sie, welch ein prächtiges Wetter?«

Unter diesen Reden hatte er den Alten an allen verbundenen Teile betastet und nicht selten so kräftig gepreßt, daß der leise stöhnte; dazwischen aber griff er mit der linken Hand unvermerkt nach dem bereitgelegten Schlüssel und warf diesen zuletzt, durch sein Schnupftuch gekennzeichnet, zu dem geöffneten Fenster hinaus. Nun setzte er sich breit und gemütlich in den alten Großvaterstuhl und schlug zurückgelehnt die Arme übereinander.

Nach einer Pause begann der Rittmeister fast schüchtern:

»Im Garten spaziert sie? Sagten Sie nicht so, Herr Physikus? Ganz gesund? – Aber dann, bitte, erklären Sie mir, hm, hm, hat sie denn gar nicht den Wunsch geäußert, mich – mich – sich nach meinem Befinden zu erkundigen?«

Plötzlich bohrten sich die kleinen, häßlichen Augen des Arztes mit einem ganz sonderbaren Funkeln in die wehmütig fragenden seines Patienten, und er sprach mit höhnischer Gemütsruhe:

»Was? Nach so einem alten Narren und Prahlhans soll sie sich auch noch erkundigen? Sie reibt sich die Hände vor Vergnügen, daß sie für ein paar Wochen des Überlästigen ledig ist! Oder soll sie etwa Staat machen mit einem Kerl, der sich vermißt, als öffentlicher Schulmeister unberufen 333 aufzutreten, und sich in aller Öffentlichkeit wie ein kindisches Knäblein benimmt, nicht zehn Worte im Zusammenhang herzubeten weiß? Und hinterher gar seiner täppischen Eitelkeit von einem alten Spötter vorflunkern läßt, er habe mit solcher Tölpelei noch ein rechtes Kunststück vollbracht und die wahre Redekunst erfunden? Und läßt sich von demselben süßen Dusel befriedigter Eitelkeit zu unbedachter Saufseligkeit und Unmäßigkeit verführen? Betrinkt sich, schreit, prahlt, schimpft, rauft, schlägt, schießt, schläft ein, kurz, treibt in allen Stücken das, was ein erwachsener und anständiger Mensch recht sorglich zu vermeiden pflegt, ohne darum gleich von Pflichten und Imperativen zu schwatzen und zu posaunen – und nun frage ich Sie nochmals, guter Freund, für so einen ungehobelten Gesellen soll eine ordentliche Frau irgendwelche Teilnahme hegen und sich vielleicht gar untertänigst nach den Größenverhältnissen seines Katzenjammers erkundigen? Oh, teurer Junker August von Jageteufel, was seid Ihr für ein Esel gewesen, daß Ihr Euch die herrliche Heuchlermaske, die Euch so gut stand, mit plumpen Händen selbst vom Gesicht gerissen habt! Hielten Euch nicht alle Menschen außer mir bis gestern für einen Ausbund aller Tugend, Zucht, Tapferkeit und Uneigennützigkeit, für den rechten Ritter ohne Furcht und Tadel? Waret Ihr nicht hier im Städtchen einem kleinen Könige gleichgeachtet? Und nun habt Ihr durch eine einzige Unvorsichtigkeit Euer eigenes kluges, mühseliges Gespinst zerrissen und stehet da vor Euren Mitbürgern in Eurer ganzen greulichen Nacktheit! Nun lachen sie alle über Euch und tuscheln auf den Gassen miteinander und reiben sich grinsend die Hände, daß sie ihren hochmütigen Zuchtmeister losgeworden sind mit samt seinem kategorischen Imperativ und freudestrahlend zu ihm sprechen können: Alter Schwindler!«

Während all dieser hohnvollen Reden, die der Physikus mit immer gleichmäßiger kalter Behaglichkeit hervorsprudelte, lag der alte Rittmeister regungslos auf seinem Bette, hielt die Augen starr an die Zimmerdecke geheftet und stöhnte nur unterweilen: »Er hat recht! Es ist alles richtig so! Er ist ein Schuft, aber ich bin ein Feigling und ein eitler Geck und ein 334 zuchtloser Schlemmer! Ich bin nicht wert, die Lehre Kants vernommen zu haben!«

Zuallerletzt aber hob er sich plötzlich mit dem Oberkörper heftig in die Höhe, stützte sich auf den Ellbogen, faßte den Beleidiger fest ins Auge und sagte mit starker Stimme:

»Das ist nicht wahr! Dies eine wird keiner von mir sagen und keiner sagen dürfen, daß ich Heuchelei getrieben und jemals zu irgendwem die Unwahrheit geredet hätte! Sondern allezeit habe ich treu und ehrlich an meiner Pflicht und meiner Lehre gehangen und habe nie und nirgends ein Wort vor den Leuten gesprochen, das nicht meines Herzens ernste Meinung war. Mögen sie lachen und spotten, soviel sie wollen; ja, zum Narren bin ich geworden vor ihnen, aber gelogen habe ich niemals. – Und auch das andere ist nicht wahr, daß Frau Doris sich von mir wenden sollte um meiner neuen Sünden willen, daß sie kaltherzig an mir vorübergehen könnte, wenn sie wüßte, was mit mir geschehen ist. Aber das ist's. Sie weiß es nicht, Ihr habt es ihr verheimlicht! – Anton Reff! Wo steckt der Halunke? Ich will ihn zu ihr schicken, aus meinem eigenen Munde soll sie alles erfahren. Reff! Anton! Nichtsnutziger Säufer!«

»Bemühen Sie sich nicht, verehrter Freund«, unterbrach ihn der Physikus mit einem unheimlichen Lächeln, »er ist nicht vorrätig. Für jetzt sind Sie völlig in meine Macht gegeben, und Ihre wütenden Blicke ändern gar nichts daran. Ich ermahne Sie aber ernstlich, sich nicht aufzuregen; wenn Sie einen Selbstmord beabsichtigen, so tun Sie's wenigstens geradeaus und ehrlich, um Ihre tapfere Selbstverteidigung nicht allzu deutlich Lügen zu strafen.«

Der Rittmeister streckte sich gehorsam wieder auf sein Lager zurück und kehrte wie vorher die Augen zur Decke.

Der Physikus ließ ein leises, boshaftes Lachen hören und fuhr mit seinem gleichmütigen Tone fort:

»Übrigens vermag ich durchaus nicht einzusehen, warum wir zwei unter uns nicht wirklich und wahrhaft ehrlich miteinander verfahren wollen. Reden Sie doch den Leuten draußen vor, was Ihnen beliebt, mein edler Freund, doch 335 geben Sie es auf, mir etwas weismachen zu können. Ich bitte Sie, zwei Seher untereinander! Ich bin ja vollkommen Ihrer Meinung, für den Pöbel sind diese anmutigen Redensarten von Pflicht und Tugend und Uneigennützigkeit durchaus am Platze, ja geradezu unentbehrlich; allein noch einmal: wir sind hier unter uns! – Dem Pöbel natürlich, dem hohen und geringen, muß man mit allem Pathos deutlich machen: Ich tue dies und das aus reinem, nacktem Pflichtgefühl! Warum aber soll man nicht wahrhaft und ehrlich sein gegen seinesgleichen und ganz besonders gegen sich selbst? Zu sich selbst aber werden Sie bei Ihrer ausgemachten Wahrheitsliebe in Betrachtung Ihrer Lebensführung doch schwerlich etwas anderes sagen können als etwa dieses: Ich, August von Jageteufel, bin von Hause aus ein richtiger Ostpreuße, also ein Kerl mit einem stocksteifen Nacken, ein Kerl, der Essen und Trinken ungeheuer viel verträgt, Zwang aber und Gehorsam und anderer Leute Herrschaft über mich möglichst wenig. Und weil ich obendrein von Anbeginn ein gewaltiger Krakeeler bin, so war nichts in der Welt natürlicher, als daß ich mich schon in meiner Jugend mit meinen Vorgesetzten verzweifelt schlecht vertragen konnte, denn diese Leute waren so sonderbar einseitig, immer das zu tun, was ihnen recht schien oder beliebte, und niemals das, was ich als richtig erkannte, während ich doch niemals zweifelte, daß einzig das, was ich für richtig hielt, das Richtige sei. Das ärgerte mich auf die Länge so sehr, daß ich nicht einmal mehr Lob und Lohn von ihnen annehmen mochte: denn sobald ich ihnen das Recht gab, mich zu loben, hatten sie auch das Recht, mich zu tadeln; und das konnte ich doch auch nicht zugeben, daß ihre Meinung beim Loben vielleicht die richtige sei. – Als ich nun infolge dieser Verschiedenheiten der Auffassung meinen Abschied mit Hallo empfing, da machte mein Gewissen auf einmal ein paar ganz kleine sonderbare Bocksprünge, und um es zu beruhigen, gab ich ihm etwas Zucker zu fressen und redete ihm allerlei prächtige Zaubersprüche vor von freier Pflichterfüllung ohne Zwang und ohne Lohn – und so begann ich flott und vergnügt nur meine eigenen Pflichten zurechtzubrauen nach den bewährten 336 Rezept, nämlich wie sie mir gerade in meinen innersten Seelenwinkeln heimlich den meisten Spaß machten. So legte ich mich mit aller Gewalt auf die Welt- und Menschenverbesserung, und das gab ein Hauptvergnügen! Nun konnte ich krakeelen und schwadronieren nach Herzenslust, kein Vorgesetzter stand mir im Wege, sondern meine Meinung war ein für allemal die richtige, und wer daran zweifelte, den sollte ein Donnerwetter regieren! Und damit auch der Aufsässigste nicht zu zweifeln wagte, hängte ich aus meinem Hause eine großmächtige Fahne heraus mit der Aufschrift: Immanuel Kant; denn den verstanden die anderen beinahe noch weniger als ich, und also mußten sie ihm und mir doch glauben. So ward ich im Handumdrehen aller Welt Vorgesetzter, und weil es für jegliches Menschenkind immerdar der köstlichste Erdengenuß ist, auf seine Vorgesetzten zu schimpfen, so hatte ich dabei noch den Extragenuß, mich als einen tragischen Märtyrer ihres Undanks empfinden zu dürfen. – Und dann gab es da eine arme verlassene Frau, gegen die ich auch irgendeine Kleinigkeit auf dem Gewissen hatte, und diese Kleinigkeit ärgerte mich und verwirrte mir die Zirkel meiner kategorischen Selbstgenügsamkeit: und darum beschloß ich, mich ihrer mit rührender Selbstlosigkeit anzunehmen und ihren erhabenen Beschützer zu spielen, ohne irgendwelchen geringsten Lohn zu begehren. Es ist allerdings zehn gegen eins zu wetten, daß mir diese Spielerei sehr bald langweilig geworden wäre und ich mich lieber größeren und stattlicheren Pflichten gewidmet hätte: da geschah es mir zum Glück, daß ich mich trotz meiner vorrückenden Jahre in besagte Dame ganz unmerklich bis über die Ohren verliebte, und zwar so recht schön schwärmerisch und wolkenselig, mit so einer stillen, unterseeischen, jüngferlichen Liebe, von der alle Welt mehr weiß als der glückliche Besitzer selbst – nun, und da weiß der liebe Himmel, wie leicht mir nun diese hübsche Pflicht wurde, und wie reizvoll sie mit meiner heimlichen Neigung stimmte! Es war eine Quelle unerschöpflicher Freuden für mich, ob die schöne Frau nun lächelte oder schmollte, ob sie bat oder dankte: und ich kam niemals in Versuchung, meine schwere, selbstlose, ewig unbelohnte 337 Pflicht zu versäumen – niemals, ich schwöre es! Ich bin der Rittmeister August von Jageteufel. – So habe ich meine Rolle als Tugendbold viele Jahre lang mit unvergleichlichem Glücke vor den dummen Leuten gespielt: doch warum sollte ich meinem weisen Freunde Gugelmann oder gar mir selbst etwas vorlügen wollen? O nein, sich selbst betrügen, das ist Sache der Kinder und Narren und unausgegorener Philosophen, denen ich nicht gesonnen bin mich zuzurechnen.

Nicht wahr, Rittmeisterchen, so ungefähr wird Ihre lachende Beichte lauten – unter uns, versteht sich, unter uns. – Doch ich sehe dabei nicht den leisesten Grund, o trefflicher Mann, die Augen so wunderlich zu verdrehen, mit den Händen zu zappeln, nach Luft zu schnappen und sonst Ihrer inneren Heiterkeit einen so überschwenglichen Ausdruck zu verleihen. Es ist ja wahr, Sie haben sich ein bißchen sehr lächerlich gemacht vor diesem Pöbel – aber was kann einem Geiste wie Sie der Pöbel sein? Freilich auch vor der Dame, die Sie lieben – aber beruhigen Sie sich, es ist nicht wahr, daß jede Lächerlichkeit gleich den Tod der Liebe einer Frau bedeute: da tritt ein lächelndes Mitleid oft versöhnend ein. Oder ärgert es Sie, daß gerade ich, der Ihnen zum Tod verhaßte Egoist und Epikureer Gugelmann, der nächste Zeuge Ihrer Niederlage war? Nun, lieber Freund, da lassen Sie mich neben Ihre Beichte gleich die meine nicht minder offene, nicht minder ehrliche setzen: Sie wissen, daß im allgemeinen der wohlbewußte Zweck all meines Handelns stets der eigene Vorteil ist – ganz wie bei Ihnen. Dagegen muß ich allerdings mit Ernst betonen, daß in dieser einen schönen Stunde mich in meinem Tun eine reinere Absicht leitet, ja eine völlig selbstlose, dem eigenen Nutzen fremde, ganz dem Dienst des reinen Gedankens hingegebene Absicht: nämlich ganz ausschließlich die fromme Lust, Sie alten windigen Esel nach allen Kräften zu ärgern, zu foltern, bis aufs Blut zu beschämen, Ihnen Ihre ganze aufgeblähte Gedankenlumperei in ihrer fadenscheinigen Schäbigkeit unter die Nase zu reiben und Ihnen endlich aus heiligster Überzeugung unter Ihrem 338 eigenen notgedrungenen Zugeständnis den huldigenden Jubelruf darzubringen: Alter Schwindler!

Und nun denke ich, kann ich Sie getrosten Mutes Ihren eigenen tröstlichen Gedanken überlassen – nur immer ruhig Blut, mein werter Freund, denken Sie an Ihre Verbände und die sittliche Verwerflichkeit fahrlässigen Selbstmords! – Sollten Ihnen im Laufe der nächsten Stunden oder Tage noch einige andere freudige Überraschungen zuteil werden, so sprechen Sie bei jeder von ihnen in segnendem Gedanken: auch die hat mir mein uneigennütziger Gönner, der fröhliche Physikus Gugelmann, bereitet! – Leben Sie wohl, alter Esel!«

Der wunderliche Redner war schon längst aus seinem Sessel aufgesprungen, schob seine sonderbare Ungestalt unter äffischen Gebärden in dem Zimmer schlängelnd hin und wider und steigerte seine Stimme mehr und mehr zu einem gellenden Pfeifen und Kreischen. Der Rittmeister lag währenddessen ungeregt in schweigender Sanftmut, und auch als sein Peiniger ihn verlassen hatte, blieb er in geduldiger Fassung liegen, die Augen aufwärts gerichtet und ganz verloren in schmerzliches Brüten. »Er hat recht«, murmelten seine Lippen zuckend, »hundertmal recht. Nur einmal will ich noch Doris wiedersehen, nur einmal; denn wie sollte ich diese Stunde überleben?«

Nach wenigen Minuten ward ihm die hilflose Einsamkeit unerträglich; er begann laut nach seinem Diener zu rufen und zu schellen; doch niemand hörte. Er knirschte mit den Zähnen vor Grimm und Qual und machte mehrmals Miene, das Lager zu verlassen; doch immer bezwang er sich mit gewaltsamer Anstrengung, drückte sich krampfhaft in die Kissen und seufzte: »Erst muß ich noch Doris wiedersehen – oder Ulrich, daß er ihr meine letzten Grüße bringe. O Doris, liebe Doris!«

Indem er in solcher Verlassenheit mit sich selber rang, bewegte sich die angelehnte Tür ganz leise mit einem kaum vernehmbaren Knarren; er blickte freudig horchend auf, und siehe, durch den Spalt schob sich ein weißes Köpfchen mit zwei großen, grünen, fragenden Augen. Ein zartes Miau erklang wie eine mitleidvolle Begrüßung.

339 Der Alte erschauderte und schüttelte sich vor Widerwillen und heimlicher Angst.

»O du schändliche Bestie!« rief er und griff nach seinem Kopfkissen, um es dem verhaßten Geschöpfe entgegenzuschleudern. Doch das Kätzchen blickte ihn vertrauensvoll mit den runden Augen an und kam auf weichen Pfötchen langsam näher herangestrichen. Da ließ er plötzlich das erhobene Kissen sinken, faßte das weiße Tierchen gerade ins Auge und sprach:

»Du hättest zuerst mich lehren können, daß ich von Hause aus ein Feigling bin. Du bist ein harmlos-trauliches Geschöpf, und doch vermochte ich den furchtsamen Ekel vor deiner Berührung nie zu überwinden. Jetzt aber will ich's dennoch; jetzt, gerade jetzt will ich mir zeigen, daß ich ganz Herr sein kann über mich selbst. Die verhaßteste Kreatur ist nun das einzige Wesen, das mich hier aufsucht und mir Mitleid zeigt; ich will dein Mitleid nicht verstoßen. Komm; ich will mir denken, du seiest eine Botin von Doris.«

Die Katze schmiegte sich schlängelnd mit aufgerichtetem Schweif an der Bettstelle hin; der Alte streichelte ihr ängstlich hertastend den biegsamen Rücken. Seine Augen standen voll Tränen. 340

 


 


 << zurück weiter >>