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6. Kapitel.
Künftige Aufgaben der Biographik.

Schon mehrfach im Laufe der Untersuchung, namentlich als auf die Fragwürdigkeit des Urteils der Nachwelt hingewiesen wurde, wollte sich eine gewisse Skepsis breit machen. Es erschien nämlich zweifelhaft, ob es überhaupt möglich sei, das »Individuum an sich« zu erkennen, also das, was der jeweiligen Erscheinungsform zugrunde liegt. Aber eine solche radikale Skepsis wäre grundlos. Ein naheliegendes Bild aus [274] der Natur, das uns alsbald noch weitere Dienste leisten wird, mag das des näheren erweisen.

Vom hohen Berge bröckelt ein Stein ab. Er stößt beim Fallen auf eine Schneeschicht, schiebt sie vor sich her und verschwindet in ihr, nachdem sie sich beim Gleiten mehr und mehr vergrößert hat. Die Lawine wird immer gewaltiger, reißt Erdmassen, Felsblöcke, vor allem aber Schnee im weitesten Umfange mit sich fort und hat schließlich eine – als historisch anzusehende – Wirkung: sie zerstört ein Dorf. Auf die Frage, wodurch das Dorf zerstört wurde, dürfte man natürlich nicht etwa antworten: durch den Stein. Die wirkliche Zerstörerin war die Lawine, in der der Stein zwar eine gewisse Bedeutung hat, nämlich die des zeitlich primären und richtunggebenden Faktors, die aber aus ganz anderen, vom Stein völlig verschiedenen Bestandteilen, vor allem aus dem Schnee, besteht. Derjenige nun, der Interesse daran hätte, die Form jenes Steines zu untersuchen, stünde vor einer Aufgabe, deren Lösung theoretisch sehr wohl denkbar ist. Er müßte die Schneemassen beiseite schaffen und, auch wenn er auf einen fest scheinenden Kern stößt, diesen solange bearbeiten, bis das Gesuchte ohne jeden fremden Bestandteil vor ihm liegt. Der Stein wird das eine Mal winzig klein, das andere Mal von beträchtlichem Umfang sein: über seine Größe läßt sich aus dem zunächst Vorliegenden, der Lawine, nichts aussagen. Ob eine solche Arbeit praktisch durchführbar ist, kommt hier nicht in Betracht. Aber völlig evident ist ihre außerordentliche Schwierigkeit und ihre lange Dauer.

Bei der Anwendung dieses Bildes auf unser Problem ist – wie bei der Anwendung jedes Bildes – eine gewisse Vorsicht vonnöten. Man wird bestreiten, daß in der schließlich vorliegenden Erscheinungsform das Individuum an sich oder – was hier gleichzusetzen ist – seine Eminenz nur von so geringer Bedeutung sei wie der Stein in der Lawine. Aber zunächst – und das ist mit allem Nachdruck zu betonen – sind wir jetzt imstande, die große Anzahl und die gewaltige Macht der ruhmbildenden Faktoren zu überschauen – die also dem Schnee, den Erdmassen usw. entsprechen würden –, und sodann wurde bereits oben darauf hingewiesen, daß die Größe des Steines als von Fall zu Fall verschieden zu denken [275] ist. Nehmen wir die Eminenz selbst als bedeutend an, so ist doch zum allermindesten nicht zu bestreiten, daß ebensowenig wie man die Lawine mit dem Stein, man die jeweilig vorliegende Erscheinungsform mit der Eminenz identifizieren darf. Was wir bei der Lawine Shakespeare zunächst haben, ist eine Mischung aus einem Urbestandteil auf der einen und einer großen Anzahl ihm völlig heterogener Elemente auf der anderen Seite. Fragen wir uns nun, wie man zu jenem Urbestandteil vordringen, d. h. wie man die Schneemassen beiseite schaffen kann, so kommen wir auf sehr wichtige Forderungen, die an alle historisch-biographische Wissenschaft zu stellen sind.

Theoretisch ist die Lösung wiederum verhältnismäßig leicht vorstellbar. Bevor der Biograph eines »berühmten« Individuums an die Arbeit geht, sucht er festzustellen, wie die Erscheinungsform, die gerade er mit sich herumträgt, in ihm selbst entstanden ist. Er vermindert sie um die wichtigen ruhmverstärkenden Faktoren, verstärkt sie um die weniger wichtigen ruhmvermindernden und hat dann in dem, was übrig bleibt, das »Individuum an sich«. Von diesem ausgehend, kann er nun die Biographie verfassen. Aber es bedarf kaum eines Wortes darüber, daß die Subtraktions- und Additionsarbeit, von der hier gesprochen ist, sich in Wirklichkeit nicht durchführen läßt.

Praktisch durchführbar und, wie sich später noch zeigen wird, auch aus anderen Gründen von der größten Wichtigkeit, ist aber eine andere Form. Den ersten Teil einer solchen Biographie kann man nicht mehr gut sagen, aber vielleicht »Biophänographie« müßte die eigentliche vita des Individuums bilden: sie dürfte nur darstellende Aussagen enthalten – also Mitteilungen über den Verlauf des Lebens, über persönliche Beziehungen, über Art sowie Inhalt, Quellen usw. der Werke – und müßte einen etwa gleichgroßen Raum einnehmen, ob es sich nun um Shakespeare oder um seinen Zeitgenossen John Ford, d. h. um ein eminent oder um ein nicht eminent scheinendes Individuum, handelt. Von einer vorangestellten Gesamtanschauung wäre völlig, von Werturteilen, die später noch ihre Stelle finden, zunächst nach Möglichkeit abzusehen. Bereits dieser erste Teil wäre entweder zu durchsetzen oder zu ergänzen durch eine Darstellung der Ruhmanfänge, [276] d. h. durch eine Schilderung der Art, wie die Werke bei den Zeitgenossen gewirkt haben, wie sie ihnen erschienen sind. Aber das Werk dürfte mit dem Tode des Individuums nicht aufhören, nicht einmal das über John Ford. Denn auch bei ihm bedeutet der Tod nicht etwa das Ende der Entwicklung der Erscheinungsform. Aber aus zwei Gründen wäre gerade für ihn jetzt nur noch wenig zu tun: er gehört einer ziemlich fernen Vergangenheit an, und sein Bild ist über die Grenzen der historisch-biographischen Wissenschaft, hier also der Literaturgeschichte, kaum je hinausgelangt. Die irrationalen ruhmvermindernden, vor allem aber die ruhmfördernden Faktoren hatten also nur wenig Gelegenheit, es zu transformieren. Eine ganz geringe Transformierung wird höchstens dadurch zustande gekommen sein, daß, wie wir gesehen haben, auch die strenge Wissenschaft bereits irrationale Tendenzen in sich hat.

Völlig anders liegen die Verhältnisse bei Shakespeare. Hier würde nach dem Tode erst der bei weitem umfangreichste und wichtigste Teil der Arbeit beginnen. Je größere historische Wirkung ein Individuum gehabt hat und je länger die seit seinem Tode verflossene Zeit ist, desto eingehender muß die Entwicklung seiner Erscheinungsform untersucht werden. Bei Shakespeare würde das Verhältnis des eigentlich biographischen Teils, in dem also über Leben und Werke zu handeln wäre, zu dem phänographischen etwa das von 1:10 sein, falls ein zahlenmäßiger Ausdruck hier möglich und verstattet ist. Erst der Forscher, der diesen – freilich sehr mühsamen und langwierigen – Weg zurückgelegt hat, wird imstande sein, das Individuum an sich zu erkennen, d. h. über seine größere oder geringere Eminenz ein einigermaßen sicheres Urteil abzugeben. Er wird es freilich auch dann nur unter sehr großen Einschränkungen tun können. Denn wenn er schon die rein sozialen Faktoren in die Rechnung stellt, wird ihm das mit den psychischen kaum oder nur mit äußerster Mühe möglich sein. Verhältnismäßig leicht erforschbar wird also der Einfluß sein, den Zeittendenzen, Schule, Presse, Populärwissenschaft, Theater, Verlagshandel usw. auf die Entwicklung der Erscheinungsform gehabt haben. Aber die Schwierigkeiten [277] beginnen, wenn man feststellen will, in welchem Maße die einzelnen Individuen, die die eben genannten Faktoren zur Wirkung brachten, unter dem Zwange von Verehrungsbedürfnis, Gemeinschaftsgefühl, Konzentrationsbedürfnis usw. gestanden haben. Und auch, wenn diese Arbeit gelungen ist, hätte der Forscher zu bedenken, daß er selbst mehr oder weniger denselben psychischen Faktoren unterworfen ist. Eine einigermaßen restlose Erkenntnis ist nur für die Individuen möglich, die eine geringe Massenwirkung gehabt haben, also heute als wenig eminent erscheinen. Für alle anderen ist immer nur auf eine Annäherung an das Ziel, nie auf eine Erreichung desselben zu hoffen. Aber eine solche Resignation ist für jede von Menschen betriebene Wissenschaft selbstverständlich. Zu beachten ist nur, daß auch jene Annäherung an das Ziel nur dann möglich, wenn alle Biographik durch eine Phänographik ergänzt wird.

Die Anfänge zu solcher phänographischen Geschichtswissenschaft liegen bereits vor, und sie sind gerade in der vorliegenden Schrift immer wieder benutzt worden. Eine ganze Anzahl von Biographien enthält am Anfang oder am Ende eine – allerdings nur sehr kurze – Phänographie, und in einigen wenigen Fällen ist die Entwicklung der Erscheinungsform auch zum Gegenstand selbständiger Untersuchungen gemacht worden, die in den allerseltensten Ausnahmen sogar zu größeren Werken angewachsen sind. Aber diese wenigen Versuche reichen bei der Wichtigkeit des Problems auch nicht im entferntesten aus und, was bedeutsamer ist: die prinzipielle Bedeutung der Phänographik ist nirgends erkannt. In den erwähnten Biographien wird der phänographische Teil als mehr oder minder kurioses Anhängsel betrachtet. Niemand – auch ALBERT LUDWIG selbst nicht – denkt daran, in dem Buche »Schiller und die deutsche Nachwelt« das bei weitem wichtigste der gesamten Schillerliteratur zu sehen, ja dasjenige, durch das eine Forschung über das Individuum Schiller »an sich« erst möglich wird. Für wie nebensächlich unser Problem gehalten wird, wird besonders klar, wenn man bedenkt, daß in der kaum übersehbaren Goetheliteratur, die auch die entlegensten Dinge aufs gründlichste erforscht, ein Buch über die Entwicklung der Goetheschen Erscheinungsform noch nicht [278] existiert. Und für Dante, Napoleon, Beethoven, Bismarck, Wagner – um nur besonders wichtige Namen zu nennen – liegen, wenn man von unwesentlichen Versuchen absieht, ähnliche Verhältnisse vor.

Anstatt, wie es zunächst scheint, zu der bequemen Skepsis des ignorabimus führt also unsere Untersuchung zu einer Fülle neuer Aufgaben, die bisher – wenn schon nicht übersehen – doch als gänzlich unwichtig betrachtet worden sind. Jedes Individuum, mag es nun eine künstlerische oder eine Tateminenz sein, das irgendwie »erschienen« ist, d. h. das eine irgendwie geartete Massenwirkung gehabt hat, kann erkannt werden nur dann, wenn die Entwicklung seiner Erscheinungsform dargelegt ist. Sonst bleibt es ewig verborgen in dem Nebel von Zwangsassoziationen, den der »Ruhm« gebildet hat.

RANKE erhebt einmal eine Forderung, die der unseren, wenn schon nicht gleich, doch in mancher Beziehung ähnlich ist: »Wenn die Mitwelt unwahr ist, wie soll die Nachwelt sich belehren? Sagen aber zwei übrigens ehrenwerte Männer einer das Gegenteil vom anderen, wem soll der dritte glauben? Sodann bildet sich fast eine neue Geschichte. Der Kampf der Meinung, eingetreten in die historischen Werke, in seinem Verhältnisse zu den Nachrichten, welche in denselben mitgeteilt oder verschwiegen, angenommen oder verworfen werden, bildet einen neuen Gegenstand historischer Forschung, der von dem Unternehmen, sich über irgendeinen Punkt eindringend und mit freier Stirne zu belehren, niemals getrennt werden kann« (Sämtliche Werke, Bd. 40/41, 452). Inwiefern der erwähnte »neue Gegenstand historischer Forschung« dem unseren ähnlich ist, wird klar, wenn man den Zusammenhang betrachtet, in dem die Worte stehen. Es handelt sich um die Monographie über Don Carlos. RANKE hebt hervor, in wie verschiedener Weise sich die verschiedenen Historiographen über Don Carlos geäußert haben, und stellt dann die sich zum Teil diametral gegenüberstehenden Meinungen der Lopez, Wilhelm von Oranien, Matthieu, Cabrera, Brantôme usw. ausführlich dar, gibt also genau das, was wir eine Phänographie des Don Carlos nennen würden. Diese Phänographie beschränkt sich auch nicht auf die Bildung der Erscheinungsform innerhalb der historisch-biographischen Wissenschaft. Denn zunächst [279] wird man die zwar »ehrenwerten«, aber doch stark von persönlichen Motiven geleiteten Männer kaum Forscher im modernen Sinne nennen, also im besten Falle nur für Vertreter unseres ruhmbildenden Faktors »Populärwissenschaft« halten können, und sodann führt RANKE, wie bereits früher erwähnt (vgl. S. 173), in jener Reihe auch Schillers Drama an, läßt also auch unseren ruhmbildenden Faktor »Kunst« nicht unbeachtet.

Aber der prinzipielle Unterschied der RANKEschen Forderung von der unseren besteht darin, daß RANKE an eine Phänographie nur da denkt‚ wo ein »Kampf der Meinung« – mag er nun wissenschaftlicher Art sein oder nicht – überhaupt eingetreten und wo er noch nicht ganz geschlichtet ist, während für uns die Tatsache eines solchen Kampfes eine ganz untergeordnete Bedeutung hat. Zunächst ist sie, wo ein Individuum erst eine große Wirkung gehabt hat, etwas Selbstverständliches: von einer absoluten Stabilität der Meinung kann bei derartigen Individuen nie die Rede sein. Aber bei einer ganzen Anzahl liegt wenigstens seit längerer Zeit eine so gut wie einheitliche Meinung vor. Trotzdem, ja wir können jetzt sagen: eben deshalb wäre es von der größten Wichtigkeit, die Entstehung dieser seit langem einheitlichen Meinung zu verfolgen. Denn wir wissen, daß die gewaltige Macht der Nachahmungsgesetze Urteile, die zunächst vielleicht auseinandergehen, allmählich assimiliert, daß also, selbst wo eine Einheitlichkeit und auch eine Stabilität der Meinung vorzuliegen scheint, sie nur durch einen komplizierten Imitationsakt, nämlich durch eine Verbindung von Sittehandlung und Modehandlung, entstanden zu sein braucht. Wir wissen auch, daß der einer solchen Verbindung zugrunde liegende rationale Anstoß schon am Anfang nicht auf das Objekt, sondern allein auf das »erfindende« Subjekt zurückgehen und daß er schließlich sogar für das Subjekt verschwinden kann. Der Angehörige einer Republik hält die republikanische für die beste Staatsform, weil räumliche und zeitliche Nachahmung ihn dazu zwingen; aber nachträglich sucht und findet er eine Begründung für seine Ansicht. Und nicht anders macht es der Angehörige einer Monarchie mit der monarchischen Staatsform, der Christ mit dem Christentum, der Jude mit dem Judentum. [280] Daß es in jeder Gemeinschaft Ausnahmen gibt, besagt, wie bereits früher hervorgehoben, nichts gegen die Regel. Völlig analog liegen die Verhältnisse bei der Persönlichkeitsbewertung: die Masse bringt bestimmten Individuen größere oder geringere Verehrung entgegen, weil entweder die Vorwelt es getan hat oder die Mitwelt es tut, konstruiert sich aber nachträglich eine Begründung für ihr Urteil.

Aber damit, daß das Nachahmungsurteil im Objekt nicht fundiert zu sein braucht, ist noch nicht gesagt, daß es darin nicht fundiert sein kann. Es ist, wie schon erwähnt, sehr wohl denkbar, daß der Stein, der die Lawine veranlaßt hat, von beträchtlichem Umfang ist. Nur läßt sich eben aus der zunächst vorliegenden Lawine darüber nichts aussagen. Mir selbst z. B. erscheint in der Lawine Goethe der Stein sehr groß, die Schneeschicht verhältnismäßig dünn. Aber ich werde stutzig, wenn ich bedenke, daß die meisten Deutschen meiner Zeit genau so urteilen wie ich, oder vielmehr, daß ich genau so urteile wie die meisten Deutschen meiner Zeit, und ferner, dass man vor 60 Jahren ganz anders geurteilt hat. Gerade in diesem Falle liegt also nicht einmal eine langandauernde Stabilität der Meinung vor. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß, wenn ich vor 60 Jahren gelebt, d. h. wenn ich andere häusliche Erzieher gehabt, andere Schulen besucht, andere Zeitungen gelesen, kurz: wenn ich unter anderen Einflüssen gestanden hätte, als ich in Wirklichkeit gestanden habe und jetzt noch stehe, ich in der Lawine Goethe den Schnee für sehr viel beträchtlicher gehalten hätte als den Stein. Wiederum läßt sich heut gar nicht voraussehen, wie man in 100 Jahren denken wird. Es ist möglich, daß dann die Reichelsche Meinung, die mir persönlich jetzt sehr absonderlich vorkommt, durchgedrungen ist und Gottsched den Platz einnimmt, den heut Goethe hat. Wir haben gesehen, daß einige von den für Gottsched günstigen Faktoren bereits am Werke sind (vgl. Anm. 19, S. 19). Sie brauchen jetzt nur noch neue Anstöße zu erhalten, und der komplizierte kollektiv-psychische Prozeß, den die vorliegende Schrift darzulegen versucht hat, setzt mit derartiger Stärke ein, daß nicht einmal ein Wille zum Widerstand, geschweige denn ein Widerstand selbst, möglich ist. Wie der Umfang des Steines nur gemessen werden kann, wenn [281] der Schnee beiseite geschafft ist, läßt sich eine – auch nur annähernde – Erkenntnis des Individuums »an sich« nur erreichen, wenn man die Entwicklung seiner Erscheinungsform bis ins einzelnste verfolgt hat.

Freilich ergibt sich hier etwas, was zunächst wie eine Schwierigkeit aussieht. Während man bei einer physischen Erscheinung, wie es die Lawine ist, nur zu subtrahieren braucht, läßt sich das bei einer geistigen, der Persönlichkeitsbewertung, nicht gut tun, und der Forscher wird auf eine mehr oder weniger gefühlsmäßige Abschätzung angewiesen sein. Aber einerseits kämen wir hiermit nur an eine Schranke, die aller menschlichen Erkenntnis gesetzt ist: auch der objektivste, am stärksten hinter der Sache verschwindende Forscher wird bei der Arbeit niemals seine Person vollständig ausschalten können. Und andererseits zeigt eine weiterführende Erwägung, daß jene Schwierigkeit sehr viel bedeutungsloser ist, als sie zunächst zu sein scheint. Die Erwägung ist um so wichtiger, als sie die Notwendigkeit der phänographischen Geschichtswissenschaft mit besonderer Klarheit erweist.

Das Dorf ist zerstört worden, nicht weil sich ein bestimmter Stein vom Felsen gelöst, sondern weil sich um diesen – recht belanglosen – Stein eine bestimmte Schneemasse geschichtet hat. Wer die Zerstörung des Dorfes begründen wollte, würde also nur einen geringen Fehler begehen, wenn er die mineralogische Zusammensetzung des Steines und die Gründe für seine Abbröcklung gar nicht oder nur mangelhaft darstellen würde. Er hätte sein Hauptaugenmerk auf den Schnee zu richten: in welchen Mengen er vorhanden, wie stark er mit Feuchtigkeit durchsetzt war, welchen Weg er genommen, welche Hindernisse er getroffen, was seinen Sturz beschleunigt hat usw. Die historische Wirkung ist nur zum geringsten Teile durch den Urbestandteil, vor allem durch das Akzidens erzielt worden, das ihm völlig heterogen ist. Shakespeare ist zu einem wichtigen Faktor des deutschen Geisteslebens geworden, nicht weil er eminent war, sondern weil er als eminent erschien. Er hätte ein noch so großer Dramatiker sein können: von einer Wirkung wäre nicht die Rede gewesen, wenn nicht die ruhmbildenden Faktoren ihm zu Hilfe gekommen wären. Das hat [282] das Beispiel des eminenten Malers, dem die Bilder verbrannt sind, deutlich gezeigt. Nur weil Shakespeare eminent erschien, wurde er symbolisiert, übersetzt, nachgeahmt, und wurde er schließlich gar eine Erwerbsquelle für Verleger, für Theaterdirektoren, für Schauspieler. Noch klarer ist es, daß der einzelne Leser oder Hörer nur aus diesem Grunde sich an ihm erfreute oder erhob. Und das, was zunächst nur Wirkung war, wurde selbst wieder Ursache weiterer Wirkung. In einer Kulturgeschichte der Menschheit wäre also eine Darstellung Shakespeares »an sich« recht belanglos gegenüber einer Darstellung seiner Erscheinungsformen. Und wenn wir früher gefunden haben, daß das »An-sich« einer Erkenntnis nur mit äußerster Mühe und auch dann nie restlos zugänglich ist, wird uns jetzt klar, warum die Anwendung einer solchen Mühe fast eine Verschwendung wäre und die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens gerade in diesem Falle nur wenig bedauerlich ist. Es wird hier nicht etwa behauptet, daß die bisherige Biographik – mag sie sich nun mit dem Wesen und dem äußeren Leben der Persönlichkeit oder mit ihren Werken beschäftigen – für all die Individuen, die nicht reine Tateminenzen sind, überflüssig war. Wir werden alsbald noch sehen, für wen sie von Wichtigkeit ist. Aber gerade für den Historiker ist ihre Bedeutung gering. Was unsere Erörterung darzulegen versucht hat, ist also auf der einen Seite: die Notwendigkeit einer Ergänzung und Vertiefung der Biographik durch die Phänographik, und auf der anderen: das Übergewicht, das diese über jene haben muß.

In einem glitzernden Aphorismus drückt NIETZSCHE einmal einen bis in die Einzelheiten ähnlichen Gedanken aus: »Dies hat mir die größte Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die größte Mühe: einzusehen, daß unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heißen, als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maß und Gewicht eines Dinges – im Ursprunge zu allermeist ein Irrtum und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd – ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden; der Schein von [283] Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen« (Fröhliche Wissenschaft, Aph. 58). Für den Kulturhistoriker also, besonders wenn er religiöse oder künstlerische, aber bis zu einem gewissen Grade auch, wenn er Tateminenzen zu betrachten hat, tritt das »Wesen« an Wichtigkeit zurück hinter dem »Schein«. Nur dieser ist historischer Faktor. Selbst die scheinbar so wichtige Frage nach der Existenz von Individuen ist für den Kulturhistoriker eine Frage 2. oder gar 5. und 6. Ranges. Man bedenke etwa, wie belanglos für ihn die Kontroverse ist, ob Buddha und Christus gelebt haben oder nicht. Die immense Bedeutung, die die Erscheinungsform des einen für die Kultur der östlichen, die des anderen für die Kultur der westlichen Welt gehabt hat, bliebe auch dann bestehen, wenn etwa die Nichtexistenz jener Individuen einmal erwiesen werden sollte. Und von ähnlicher Unwichtigkeit sind für den Kulturhistoriker Kontroversen wie die homerische oder die Shakespeare-Bacon-Frage, die immer nur das Wesen, nicht aber den sehr viel wichtigeren Schein berühren. Gibt man das zu – und es liegt keine Möglichkeit vor, es nicht zu tun –, so muß man auch die Konsequenz ziehen, gegen die man sich zunächst sträubt, die sich aber aus den Darlegungen dieses Buches im allgemeinen und der letzten Seiten im besonderen mit Notwendigkeit ergibt: für den Kulturhistoriker ist es fast belanglos, ob die Raffaelschen Bilder oder die Shakespeareschen Dramen oder die Wagnerschen Opern eminent sind oder nicht; wichtig ist für ihn nur, daß sie als eminent erscheinen.

Für wen aber wäre auch eine Erkenntnis des »Seins« wichtig? Zunächst für den Individualpsychologen, d. h. für denjenigen, den der Eminente nicht als Glied in einer Kette historischer Fakten, also auch nicht als Hervorbringer ganz bestimmter Werke interessiert, sondern nur als besonderes Exemplar des Menschentums. Wer das Geheimnis des künstlerischen, religiösen, staatsmännischen, wissenschaftlichen Schaffens erklären will, der wird zunächst festzustellen haben, ob das Individuum, aus dem er seine Schlüsse zieht, auch wirklich eminent war. Unterläßt er diese Feststellung, so besteht die Gefahr, daß die Schlüsse entweder falsch sind oder doch zum mindesten etwas anderes beweisen, als be [284]wiesen werden soll. Aber die Frage nach der Eminenz läßt sich, wie wir jetzt wissen, nicht etwa dadurch beantworten, daß man sich die Werke vornimmt und nun auf Grund eines »selbständigen« Urteils entscheidet, ob sie mehr oder weniger wertvoll sind. Es gibt kein selbständiges, also isoliertes Urteil, am allerwenigsten über die Individuen, die eine große Wirkung gehabt haben. Auch der objektive Forscher ist sozial bedingt; er steht unter der Macht der ruhmbildenden Faktoren, d. h. des Traditionalismus, und muß, um vom Schein zum Wesen vorzudringen, oder doch wenigstens in seine Nähe zu gelangen, die phänographische Methode anwenden.

Eine Erkenntnis des An-sich des Individuums wäre auch wichtig für die Eugenik, dieses Wort nicht in dem jetzt üblichen allgemeinen Sinne genommen, sondern nur in dem, daß darunter die Hervorbringung eminenter, für die Geschichte bedeutungsvoller Individuen gemeint ist. Wer der Ansicht ist, daß eminente Eltern eminente Kinder erzeugen, müßte zunächst natürlich imstande sein, derartige Eltern ausfindig zu machen. FRANCIS GALTON hat – in seinem S. 14 erwähnten Buche – versucht, die Richtigkeit dieser Ansicht aus der Geschichte zu erweisen. Aber er kann immer nur Eltern und Kinder anführen, die ihm als eminent erscheinen; erst mit Hilfe der Phänographik hätte er seine Untersuchung auf eine wenigstens einigermaßen gesicherte Grundlage gestellt. Hierher gehören auch die Versuche, die besten Erziehungsmethoden für künftige Eminenzen ausfindig zu machen, wie es z. B. OSTWALD versucht. Wer aus der Geschichte bestimmter Individuen die Nützlichkeit einer bestimmten Methode erweisen will, hätte wiederum zunächst festzustellen, ob die von ihm als Material benutzten Persönlichkeiten nicht bloß eminent scheinen, sondern es auch sind, könnte also ebenfalls der Phänographik nicht entraten.

Ihrer entraten kann nur eine Gruppe von Biographen: die Pragmatiker. Wir haben bereits früher gesehen, wie wichtig für die Erziehung der Hinweis auf große Beispiele ist: er hebt aus dumpfem Dasein, weckt den Willen zu ähnlichem Tun, erregt den notwendigen Stolz auf die Volksgemeinschaft, der man angehört. Der Biograph, der ethisch wirken will, würde nur verwirren und seine Absicht nie er [285]reichen, wenn er darlegen wollte, wie sich die Erscheinungsform des Individuums entwickelt hat. Hier also bleiben für die von aller Phänographik absehende Persönlichkeitsdarstellung noch große und wichtige Gebiete.

Aber hiermit – wie auch schon mit der Erwähnung des Psychologen und des Eugenikers – sind wir von der eigentlichen Geschichtswissenschaft weit abgekommen. In der Vorrede zu seiner Erstlingsschrift hat RANKE in viel bewunderten Worten ausgesprochen, was seine Absicht gewesen sei: »Man hat der Historie das Amt‚ die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.« »Geschichten der romanischen und germanischen Völker«. (Sämtliche Werke, Bd. 33/84, VII.) Diese Forderung: zu zeigen, wie es eigentlich gewesen, ist die Grundlage für alle von RANKE aus sich entwickelnde, d. h. für alle wirkliche Geschichtswissenschaft geworden. Wir erkennen jetzt, daß, wenn wir »es« auf das einzelne Individuum beziehen, dieser Forderung eine zweite zur Seite zu stellen ist: zu zeigen, wie es eigentlich erschienen. »Es« läßt sich natürlich auch auf Völker (die Griechen), auf Länder (Italien) usw. beziehen. Dem Plane des Buches gemäß werden diese weiter führenden Probleme hier noch nicht behandelt. Aber in einem vertieften Sinne behält das RANKEsche Wort seine Bedeutung: auch der Ruhm ist für den Historiker eine Realität, mit der er zu rechnen hat; auch das Erschienensein ist nichts anderes als ein Gewesensein.


G. Pätz'sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H.,
Naumburg a. d. S.

 


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