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I. Abschnitt.
Der Ruhm als Problem.


1. Kapitel.
Einleitung.

In seinen Anfängen vollzieht sich jedes, im weiteren Verlaufe einiges historische Geschehen namenlos, aber namenlos nur für uns, die Betrachtenden. Es ist ebenso ungenau, von der Sprache zu sagen, daß »sie sich« entwickle, wie etwa von der Religion oder der Kunst. In jedem Falle sind bestimmte – wenn auch freilich nicht isolierte – Individuen von bestimmter Herkunft und bestimmter Wesensart vorhanden, die sie – Sprache, Religion, Kunst – entwickelt haben. Aber in einigen Zweigen der Geschichtswissenschaft erhält sich – aus naheliegenden, hier jedoch nicht interessierenden Gründen die Namenlosigkeit auch für spätere Epochen. In einer Sprachgeschichte z. B. wird vor allem von den Neuschöpfungen, Abschleifungen, Analogiebildungen usw. die Rede sein, die im Laufe der Zeit eingetreten sind, aber gar nicht oder nur ganz nebenher von den Individuen, die jene Entwicklung veranlaßt haben. Und ähnliche, wenn auch nicht ganz gleiche Verhältnisse liegen bei der Sitten- und Mythengeschichte vor.

Ein anderes Bild zeigen die Teile der Geschichtswissenschaft, die die Entwicklung des Staates, der Religion, der Literatur, der bildenden Kunst, der Wissenschaft verfolgen. Zwar herrscht für die Anfänge auch hier Namenlosigkeit vor. Man kennt weder die Individuen, die als die ersten von ihren Genossen zu Führern gewählt wurden, noch diejenigen, die als die ersten ein Gebet sprachen, ein Gedicht verfaßten, ein philosophisches System konzipierten. Aber allmählich heben sich für den Betrachter – sei es in Grabschriften, sei es in [2] Leichenreden oder Genealogien – aus dem Nebel der Anonymität einzelne Persönlichkeiten heraus, zunächst noch in verfließenden Umrissen, aber allmählich deutlicher voneinander geschieden, individueller geformt: die Biographik entsteht. Wie sie den zeitlich ersten Teil der Geschichtswissenschaft bildet, ist sie, falls man den Begriff nicht allzu eng faßt, noch jetzt ihr wichtigster geblieben. Aber gewiß nicht ihr einziger. Für die Schilderung von Vorgängen oder Zuständen genügt es nicht, vom Führer zu sprechen. Schon HERODOT nennt und kennt neben dem Könige sein Volk, neben dem Feldherrn sein Heer, neben dem Priester die Gemeinde, und auch die spätere Geschichtsschreibung, mag sie nun referierender oder pragmatischer Art sein, vergißt neben dem ersten Faktor, dem eminenten Einzelnen, den zweiten, die Masse, nicht.

Mehr als zwei Jahrtausende hindurch ist Geschichte – wenn man von ganz unwesentlichen Ausnahmen absieht – nichts als politische Geschichte. Ganz allmählich sprossen neben dem alten Stamm jüngere Triebe auf. Literatur-, Religions-, Kunst-, Philosophie-, Wissenschaftsgeschichte entstehen. Ist nun schon für den Darsteller der politischen Entwicklung das eminente Individuum – mag man es als durch sein »Milieu« mehr oder weniger bedingt betrachten – von großer Bedeutung, so muß der der literarischen, künstlerischen, der philosophischen Entwicklung diesem schöpferischen Individuum eine noch wichtigere Stelle einräumen; denn die Masse der Geführten ist hier ein für die Historie sehr viel weniger bedeutsamer Faktor als dort. Alles Vorwärts-, wie alles Rückwärtsschreiten ist in der Literatur, der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft durchaus das Werk der Führer. So stand und steht denn – bis zu einem gewissen Grade in der politischen, vor allem aber in den anderen Zweigen der Geschichtswissenschaft – im Mittelpunkt alles Forschens die Frage: Wie kommt das mehr oder weniger eminente Individuum, und wie kommt sein Werk zustande? Einer Beantwortung dieser Frage widmet sich – in Einzeluntersuchungen oder Biographien – nicht nur die historische Kleinarbeit: auch für zusammenfassende Darstellungen liegt in vielen Fällen hierin das Zentralproblem.

Dieselbe Frage, nur vom Individuellen ins Generelle ver [3]schoben, wird vor allen anderen aufgeworfen, als – von einigen Vorläufern bereits am Ende des 18., systematisch aber erst vom 2. Drittel des 19. Jahrhunderts an – geschichtsmethodologische Erwägungen angestellt werden. Es ist hier nur von derjenigen Methodenlehre die Rede, die auch die nichtpolitische Geschichte beachtet. Namentlich das Verhältnis, in dem der eminente Einzelne zur Masse steht, wird Gegenstand einer Diskussion, die Jahrzehnte lang dauert, und, obwohl sie einige offenbare Verkehrtheiten zutage fördert, eine der fruchtbarsten Diskussionen des 19. Jahrhunderts genannt werden kann. Es beteiligen sich an ihr Vertreter der verschiedensten Wissenschaften: Historiker im engeren Sinne, Geschichtsphilosophen, Soziologen, Psychologen, ja Ärzte. Die Geschichte dieses Streites über das Verhältnis des Einzelnen und besonders des eminenten Einzelnen zur Masse ist für das Verständnis des folgenden von Wichtigkeit, braucht aber hier nicht in ihre letzten Verästelungen verfolgt zu werden, da das schon oft geschehen ist. Vgl. bes. BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 3. u. 6. Aufl. Leipzig 1908, 662ff. – BARTH, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Leipzig 1897, 200ff. – XÉNOPOL, La Théorie de l'histoire. Paris 1908, 264ff. – L. STEIN, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Stuttgart 1897, 511f. – Eine knappe und im ganzen zuverlässige Übersicht bei L. SCHWEIGER, Philos. d. Gesch., Völkerpsychologie u. Soziologie. Bern 1899, 59ff. Nur soviel sei aus ihr herausgehoben, als die späteren Ausführungen unbedingt erforderlich machen.

»Universal History, the history of what man has accomplished in this world, is at bottom the History of the Great Men, who have worked here. They were the leaders of men, these great ones; the modellers, patterns and in a wide sense creators, of whatsoever the general mass of men contrive to do or to attain.« CARLYLE, Heroes and Hero-Worship. (Collected Works, London 1869, XII, 1) Diese Worte CARLYLEs enthalten den Extrakt der individualistischen Geschichtsauffassung. Das große Individuum, an sich ein unbegreifliches Wunder, ist der Träger der Geschichte. Ihm folgen die Massen, bald widerstrebend oder unbewußt, bald willig dem Zauber sich hingebend, der von ihm ausströmt.

Diese extrem-individualistische Anschauung wird besonders [4] von philosophisch orientierten Geistern vertreten, außer von CARLYLE von COUSIN und EMERSON und in Deutschland etwa von FEUERBACH, SCHOPENHAUER, DÜHRING, STIRNER und vor allem von NIETZSCHE, der sich immer wieder und in immer kühneren Wendungen zu ihr bekannte. Von zünftigen Historikern ist hier zwar weniger RANKE selbst einzuordnen, den gegenüber den großen politischen und geistigen Bewegungen das einzelne Individuum überhaupt nur verhältnismäßig wenig beschäftigt hat, wohl aber der größte Teil der RANKEschen Schule, die – hierin abweichend von den Anschauungen ihres Meisters – ihren individualistischen Standpunkt z. T. sehr stark hervorhebt.

Dieser Ansicht stellte sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine extrem-kollektivistische gegenüber. Ausgehend von SAINT-SIMON, war AUGUSTE COMTE zur Konzeption seines »Cours de philosophie positive« gekommen. Für unsere Zwecke wichtig namentlich die Bände 4-5 (1839-42). Ihm, dessen letztes Ziel eine Erkenntnis der Formen des gesellschaftlichen Lebens war, mußten die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Individuums gering erscheinen, und im Keime zeigt sich bei ihm bereits der Gedanke, den die moderne Kollektivpsychologie mit immer größerem Nachdruck vertritt: daß das einzelne Individuum nur eine Abstraktion der Historiker ist, genauer: daß es nur im physischen, nicht aber im psychischen Sinne existiert. Ein Ausfluß der COMTEschen Gedanken ist die bekannte »Milieutheorie« HIPPOLYTE TAINEs, die dem Wunder des genialen Individuums dadurch kühn und z. T. auch erfolgreich zu Leibe rückte, daß sie seine Entstehung im wesentlichen auf 3 Faktoren zurückführte: auf den ressort du dedans (la race), die pression du dehors (le milieu) und die impulsion déjà acquise (le moment). Aber vor der letzten Konsequenz scheute TAINE noch zurück: er leugnete nicht, daß zwischen dem historisch wirksamen Individuum auf der einen und der Masse der übrigen auf der anderen Seite gewisse, wenn auch freilich nicht allzu große, Eminenzunterschiede bestehen. Diese letzte Konsequenz wurde von französischen Kollektivisten wie BOURDEAU und ODIN BOURDEAU, L'histoire et les historiens, Paris 1888. – ODIN, Genèse des grands hommes. Paris 1895. gezogen, [5] die – unter starker Verzerrung eines an sich richtigen Grundgedankens – sich nicht genug tun können in der Verkleinerung des eminenten Individuums: seine Tätigkeit wird für völlig belanglos, die der sozialen Gemeinschaft, in der es lebt, für allein bedeutungsvoll erklärt. Ähnlich, wenn auch freilich nicht so schroff kollektivistisch, denkt der größte Teil der modernen Soziologen – unter den deutschen vor allem GUMPLOWICZ –, und auch LAMPRECHT und seine Schule ordnen sich selber bewußt in diese kollektivistische Reihe ein.

So standen sich Jahrzehnte hindurch zwei Richtungen feindlich gegenüber. Über kleinere Richtungen, die theologische, sowie die pathologische LOMBROSOS, vgl. SCHWEIGER, a. a. O. 59. Da tauchte von einer dritten Seite her die Lösung auf: es wurde vermittelt. Die geborenen Vermittler in einer wissenschaftlichen Streitfrage sind stets deren Historiker. Betrachtet man BERNHEIM, STEIN, XÉNOPOL, BARTH als die Historiker des Genieproblems, als diejenigen, die sich objektiv mit dem Für und Wider der individualistischen und der kollektivistischen Richtung beschäftigt haben, so ist die Antwort, die sie auf die viel umstrittene Frage geben werden, beinahe im voraus denkbar: sie werden aus der einen wie aus der anderen Anschauung das wirklich Richtige oder doch das ihnen richtig Erscheinende herauslösen und dann den Weg beschreiten, den man den »goldenen Mittelweg« nennt. Als vereinzelter Vorläufer der vermittelnden Richtung ist HERDER anzusehen, der in seinen »Ideen z. Philos. der Gesch. der Menschheit« das Problem – wenigstens in seinen Hauptzügen – mit bewundernswertem Tiefblick durchschaut hat. Hierauf macht BARTH (a. a. O. 200 u. 202f.) aufmerksam.

Ist eine Streitfrage bis zu diesem Punkte gelangt, d. h. hat der an sich zunächst uninteressierte und eben darum überlegene Kenner gesprochen, so ist sie gelöst. Und die Antwort, die etwa XÉNOPOL auf die Frage nach dem hervorragenden Individuum gegeben hat, kann als die angesehen werden, die bleiben wird. »Le génie est le produit de deux facteurs: les conditions générales du milieu ou il est né et les particularités de sa complexion physiologique et psychique qui n'ont rien de commun avec les éléments généraux qui l'entourent. – L'action que le génie exercera sur son époque, [6] sera différente, suivant la prédominance de l'un de ces deux éléments de sa personnalité dans le total de son être. Si c'est la partie générale qui a le dessus, l'homme de génie résumera en lui l'époque qu'il représente; si au contraire c'est l'élément individuel qui l'emporte, il s'efforcera d'imprimer à son époque le cachet de son individualité particulière.« La Théorie de l'histoire, 267. Ähnlich STEIN a. a. O. 525ff. – BARTH 217ff.

Wir sehen aus diesen Worten, daß neben der Frage nach dem Einfluß der Umwelt auf das eminente Individuum noch eine zweite zur Diskussion steht: die nach dem Einfluß des eminenten Individuums auf die Umwelt. Von einem Teil der nichttheoretischen Geschichtswissenschaft ist diese zweite Frage mit einiger Geringschätzung behandelt worden. Man vergegenwärtige sich etwa, daß in Einzelbiographien neben dem Leben und den Werken des Individuums in nicht allzu zahlreichen Fällen der Einfluß, den es auf Mit- und Nachwelt ausgeübt hat, überhaupt behandelt wird, und daß selbst da, wo es geschieht, man diesem Abschnitt nur einen kleinen Raum gönnt. Und auch die Zahl der Spezialuntersuchungen hierüber ist, falls man den heutigen Großbetrieb in den historisch-biographischen Wissenschaften bedenkt, auffallend gering. Das wird gewiß nicht darauf zurückgehen, daß man die außerordentliche Wichtigkeit der Frage nach dem Einfluß verkennt, sondern nur darauf, daß diese Frage sich für eine Monographie offenbar weniger eignet als für eine zusammenhängende Darstellung, die alle zu gleicher Zeit wirkenden Entwicklungsfaktoren zu berücksichtigen sucht. Und solche zusammenhängenden Darstellungen gehen denn auch, wenn sie genetisch verfahren, häufig genug auf die Einflußfrage ein. Niemand aber zweifelt zunächst daran, daß der Einfluß, die historische Wirksamkeit eines Individuums abhängt von dem Grade seiner Eminenz.

Ob ein solcher Zweifel nicht doch berechtigt oder gar geboten ist, wird sich erst am Schlusse dieses Buches zeigen. Doch bevor wir zu diesem Zweifel gelangen, haben wir uns etwas anderes zu vergegenwärtigen: von unseren zwei Fragen [7] ist für die erste: was verdankt das mehr oder weniger eminente Individuum der Umwelt, allgemeiner: wie kommt es zustande? – theoretisch wenigstens – eine Antwort gefunden und zwar durch die Richtung, die im vorhergehenden als die »vermittelnde« bezeichnet worden ist. Aber diese Frage ist, wenn wir schon nicht sagen: unrichtig, doch zum mindesten ungenau gestellt. Das eigentliche Problem, das, dunkel geahnt, hinter ihr liegt, ist damit noch nicht erfaßt. Die Aufgabe des folgenden wird es sein darzulegen, daß sie in anderer Form gestellt werden muß, wenn man an jenes Problem in seiner ganzen Ausdehnung auch nur heran will, daß die bisherige Form nicht mehr als einen Teil – und zwar, wie sich zeigen wird, einen sehr geringen Teil – des Problems berührt. Alsdann wird sich auch ergeben, daß die zweite Frage, die nach dem Einfluß des eminenten Individuums, anders zu beantworten ist, als sie – selbst von den Vertretern der vermittelnden Richtung – jetzt beantwortet wird.


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