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Vorwort.


Die Absicht dieses Buches ist es vor allem, eine Frage zu stellen. Die andere, aus ihr sich ergebende Absicht, die gestellte Frage zu beantworten, führte allmählich zu einer Art von Resignation: es konnte sich bei solchem ersten Bemühen nicht so sehr um eine endgültige Lösung handeln, als vielmehr um den Versuch, Möglichkeiten zu einer Lösung aufzudecken, aus dem Zustand des Fühlens in den des Schauens überzuleiten.

Ausgangspunkt und Ziel der Untersuchung bildet das für die historische Entwicklung bedeutsame, besonders das als bedeutsam anerkannte Individuum. Aber da hier nicht die Darstellung einer historischen Tatsache versucht wird, sondern – wie das 2. Kapitel zeigt – die Darstellung des geistigen Prozesses, durch den man zur Erkenntnis dieser Tatsache gelangt, liegt ein Problem vor, das in gewissem Sinne erkenntniskritisch genannt werden kann. Nur handelt es sich hier nicht um Erkenntniskritik, wie die spekulative Geschichtsphilosophie sie seit langem betreibt. Was zur Erörterung steht, sind durchaus nicht letzte, sondern vor- oder gar nur drittletzte Fragen. Da die historischen Tatsachen erst von dem Augenblick an betrachtet werden, in dem sie den eigentlichen Historiker zu interessieren beginnen, setzt auch unsere Erkenntniskritik erst von diesem Augenblick an ein.

Der Standpunkt, von dem aus an jede der Einzelfragen herangegangen wird, ist der des Kollektivpsychologen. Was noch vor wenigen Jahrzehnten als Paradoxie erscheinen konnte, wird heute kaum mehr ernsthaftem Widerspruch begegnen: es gibt kein einzelnes Individuum, d. h. keins, das aus sich [VI] allein heraus erklärbar wäre. Was uns als einzelnes erscheint, ist in Wirklichkeit nur das Glied einer fest geschmiedeten und fest schmiedenden Kette, der Kette der Tradition, dieses Wort im weitesten, also Zeit und Raum umfassenden, Sinne genommen. Die Besonderheit der hier vorgetragenen Anschauung liegt nur darin, daß die kollektivpsychische Bedingtheit nicht des Objekts der historischen Betrachtung, sondern ihres Subjekts, d. h. vor allem des Biographen und nicht des Biographierten im Mittelpunkt steht.

Es wird in diesem Buche viel »zitiert«, und zwar auch an Stellen, an denen ich eignes hätte geben wollen und können. Das beruht nicht auf einer Art von Anlehnungsbedürfnis, sondern geht auf eine rein methodologische Erwägung zurück: es kam mir hier nicht darauf an, neues historisches Material vorzulegen, sondern nur darauf, längst vorgelegtes von einer neuen Seite her zu belichten. Meine Aufgabe war erfüllt, wenn ich den Scheinwerfer an eine andere Stelle gerückt hatte. Wollte ich die Wichtigkeit dieser Stellungsänderung erweisen, so mußte ich die belichteten Dinge selbst so darstellen, wie andere sie gesehen hatten, und zwar andere, die meinen Erwägungen völlig fernstanden.

Der zweite Grund, der zu einer häufigen Verwendung zitierten Materials führte, war der Wunsch, meine persönliche Stellung zu den behandelten Individuen möglichst wenig zum Vorschein kommen zu lassen. Ich bin mir freilich wohl bewußt, daß eine vollständige Objektivität auch durch ein solches Verfahren nicht erzielt wurde: schon in jeder Auswahl liegt eine Wertung. Aber völlig verhalten kann niemand seinen Atem, und im übrigen wird, was hier von diesem Atem spürbar ist, nur noch leisester Hauch sein. Mit allem Nachdruck sei jedoch schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß dem Verf. nichts ferner gelegen hat als eine destruktive Tendenz, mag sie sich nun gegen das Objekt, das eminente Individuum, richten oder gegen das Subjekt, die historisch-biographische Wissenschaft. Treibend war nur der Wunsch, durch Skepsis zu einer Überwindung der Skepsis zu gelangen.

Daß bei der Auswahl der Quellenwerke mit Vorsicht verfahren ist, wird dem Kenner nicht entgehen. Möglich ist es gewiß, daß hier und da einmal ein Werk zweiten Ranges [VII] benutzt wurde, wo ein solches ersten Ranges vorhanden ist. Aber das wird nur selten vorgekommen sein und findet im übrigen seine Erklärung in der Menge, dem Umfang und der Verschiedenartigkeit der zu durcheilenden Gebiete. Eine gewisse Bevorzugung des literarhistorischen Materials wird häufig zu beobachten sein. Sie hat ihren Hauptgrund darin, daß die Literarhistorie besonders zahlreiche und besonders ausgeprägte Beispiele für Ruhmformen bietet und in ihr bereits heute ein nicht unbeträchtliches empirisches Material für die Art von phänomenalistischer Geschichtsbetrachtung vorliegt, deren theoretische Grundlegung hier versucht wird.

Den Freunden, die mich bei der Korrektur des Buches unterstützt haben, sei an dieser Stelle nochmals gedankt.

Berlin.

Julian Hirsch. [VIII] [IX-XV]

[XVI] [1]


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