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C. Von der Masse ausgehende soziale Faktoren.


9. Kapitel.
Die Zeittendenzen.

Unser Fundamentalsatz, daß die Erscheinungsformen des Individuums, also des Objekts der Betrachtung, überhaupt abhängig sind vom Subjekt, führt mit Notwendigkeit zu der Folgerung, daß durch eine Veränderung des Subjekts auch eine Veränderung jener Erscheinungsformen bedingt ist. Bereits bei der Betrachtung der Relativität des Ruhmbegriffs wurde auf einige von den Veränderungsmöglichkeiten hingewiesen, die hier vorhanden sind: dasselbe Individuum »erscheint« dem Deutschen anders als dem Franzosen, dem Arbeiter anders als dem Gelehrten, dem Jüngling anders als dem Manne. Es wäre nun schon von größtem Werte, könnte man die Verschiedenheit der Erscheinungsformen genau verfolgen, je nach der Verschiedenheit der sozialen Stände [111] oder – bei Individuen mit internationalem Ruhm – nach der Verschiedenheit der Völker, denen sie »erscheinen«. Leider ist das empirische Material, das zur Bewältigung dieser Aufgabe vorliegt, so gering, daß sich eine irgend zu Ergebnissen führende Betrachtung heute noch nicht anstellen läßt. Nur für einen Teil des Problems fließen die Quellen etwas reicher: daß dasselbe Individuum zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Form erscheint, ist eine so offenliegende Tatsache, daß die historisch-biographische Wissenschaft an ihr nicht vorübergegangen ist. Das Bedauern, daß sie sich der prinzipiellen Bedeutung dieser Tatsache nie bewußt wurde, tritt zurück hinter der Freude an den z. T. äußerst wertvollen Vorarbeiten, die sie geleistet hat.

Aus der Gesamtheit der Zeittendenzen, die die Erscheinungsform des Individuums bestimmen, kommt für die vorliegende Untersuchung zunächst aber nur ein Teil in Betracht: diejenigen nämlich, die jene Form im günstigen Sinne beeinflussen, die also ruhmzeugend oder ruhmerweiternd wirken. Am einfachsten liegen die Verhältnisse da, wo durch die Zeittendenzen die Erscheinungsform oder genauer: der Erfolg, die Wirkung nicht des ganzen Individuums, sondern nur eines einzigen Werkes bedingt ist. Die schaffende Eminenz, die hier fast stets künstlerischer Art ist, faßt Stimmungen oder Sehnsüchte ihrer Zeit in einem Werke zusammen und erregt die Umwelt nicht so sehr durch die Eminenz des Werkes als vielmehr eben durch jenes Zusammenfassen. Ob es bewußt oder unbewußt geschieht, kommt hierbei wenig in Betracht. Das typische Beispiel hierfür ist Goethes Werther. Daß Goethe selbst die Gründe des »Werther-Fiebers« klar erkannt hat, bezeugen mehrfache Aussprüche von ihm; z. B.: »Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und [112] eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam« (Dichtung und Wahrheit, XIII. Buch).

Man hat stets die Fähigkeit zu solchem Zusammenfassen von Zeitstimmungen als ein Zeichen ganz besonderer Eminenz angesehen. Aber schon die Erwägung, daß eine Fülle von Werken, namentlich von Dichtungen, wirkungslos verpuffen, obwohl sie den Tendenzen ihrer Epoche stark entgegenkommen, daß andere Erfolg erringen, die zeitfremden Empfindungen Ausdruck geben, muß davon abhalten, hier nachträglich Zusammenhänge zwischen Eminenz und Erfolg des Werkes zu konstruieren. Zum mindesten ergibt sich in der unendlich komplizierten Tatsache des Erfolges die Eminenz wiederum nur als einer aus einer langen Reihe gleich stark wirkender Faktoren.

Besonders deutlich wird die ruhmbildende Macht der Zeittendenzen da, wo von Eminenz gar nicht die Rede sein kann, also bei der nichteminenten Berühmtheit. Für den Fall Kaspar Hauser genügt ein Zitat: »Wie es möglich gewesen ist, daß ein hergelaufener Bursche, ausgestattet mit einigen körperlichen, einigen geistigen Abnormitäten und einem unbekannten, unerforschten Vorleben, das ganze gebildete Deutschland jahrelang in Bewegung und in Atem erhalten, wie dieses unselige Geschöpf der vorherrschende Gegenstand empfindsamster Teilnahme, verzehrendster Neugierde, scharfsinnigsten Grübelns für eine große Zahl gescheiter und geistvoller Männer, der Mittelpunkt einer Art von Kultur und entsprechender Mythenbildung für die halbe gebildete Welt werden konnte – dies zu erklären ist allein noch der Mühe wert. Und die Erklärung kann nur gesucht werden in den Krankheiten und Schwächen, der Verkümmerung und Verzerrung, dem Wunderglauben und Hang zum Unbegreiflichen, kurz in der engen, dumpfen Stubenluft, in die der deutsche Geist jenes Zeitalters von dem Ausgange der Befreiungskriege bis in das fünfte Jahrzehnt befangen und eingesperrt war. Nur in einer solchen Periode der Erschlaffung und einer durch romantische Phantastereien überwucherten Tatenlosigkeit konnte ein Kaspar Hauser auftreten und zum Helden werden. Als ein Rätsel, das sich die Zeit selbst zur eigenen Kurzweil aufgegeben, und an dem sie [113] ihr krankes Gemüt abgequält hat, wird Gestalt und Name der Nachwelt überliefert werden.« OTTO MITTELSTÄDT, Kaspar Hauser und sein badisches Prinzentum. Heidelberg 1876, 126f.

Schon die alte Milieutheorie hat die Bedeutung der Zeittendenzen erkannt, und sie hat etwa darauf hingewiesen, daß auch Tateminenzen – wie namentlich Religionsstifter, Sektengründer – die Struktur ihres Geistes diesem ihrem Milieu verdankten. Für uns aber handelt es sich nicht darum, die Entstehung des Individuums, sondern die Entstehung seines Erfolges zu erklären, der als das historisch Wichtigere erscheint. Der Einfluß der Zeittendenzen auf den Erfolg hat sich nun bereits aus dem vorhergehenden ergeben. Noch deutlicher erkennbar wird er aber da, wo er nicht bei der Umwelt, sondern erst bei der Nachwelt, namentlich der späteren Nachwelt eintritt und wo irgend welche Beziehungen zu den Faktoren, die die Entstehung des Individuums selbst veranlaßt haben, nicht mehr vorhanden sind.

Epochen, denen der Sinn für historische Kritik abgeht, verfahren hier völlig willkürlich: sie suchen nicht nach Individuen, die früher einmal die Tendenzen der jeweiligen Gegenwart verkörpert haben und dadurch zu berechtigten Trägern des Ruhmes werden müßten, sondern sie modeln – unbekümmert um die historische Wirklichkeit – irgend welche Individuen so lange um, bis sie Symbole der Zeittendenzen geworden sind. Aus den vielfältigen, höchst bizarren Erscheinungsformen, die das Individuum Alexander d. Gr. im Laufe der Zeit annimmt, sei hier nur eine, besonders charakteristische herausgehoben: während eines großen Teils des Mittelalters ist er der Typus der »Largesse«, der Freigebigkeit, besitzt er also die Tugend, die der mittelalterliche Jongleur, der vorzüglichste Gestalter der Erscheinungsform, von einem König oder großen Herrn vor allem verlangt. Sehr reiches Material für die französische Literatur bei PAUL MEYER a. a. O. II, 378ff. Als aber im 14. Jahrh. die Bedeutung der Jongleurs zu schwinden anfängt und demzufolge die Largesse im allgemeinen nicht mehr als die Tugend der Tugenden gilt, hört auch die Freigebigkeit Alexanders auf, sprichwörtlich zu sein: er wird wieder der [114] Typus des Eroberers, der er schon bei Pseudo-Callisthenes gewesen ist, und nimmt allmählich, etwa vom 15. Jahrhundert an, Formen an, die seiner wirklichen Gestalt immer mehr entsprechen. Das Primäre ist also schon hier die Zeittendenz. Es wird für sie eine Verkörperung gesucht, und diese wird in einem Individuum gefunden, das schon vorher – und aus anderen Gründen – die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. In gewissem Sinne liegt also hier wieder ein Fall von Konzentration vor. Aber die Zeittendenz, um die es sich in diesem Falle handelt, ist nicht so mächtig, daß irgend eine Personifikation unbedingt eintreten muß. Man schreibt dem Alexander die Freigebigkeit nur deshalb zu, weil er als der König erscheint und zum mittelalterlichen Königtum diese Eigenschaft nun einmal gehört.

Anders, den Verhältnissen der Neuzeit sehr viel ähnlicher ist die Sachlage bei einem Individuum des Mittelalters, dessen Erscheinungsform im Anschluß an bestimmte Zeittendenzen ebenfalls die stärksten Veränderungen durchmacht: bei Friedrich II. Seit den Untersuchungen von FRIEDRICH KAMPERS Besonders »Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage«. München 1896. Vgl. dazu auch HEIDEMANN, »Die deutsche Kaiseridee und Kaisersage im Mittelalter und die falschen Friedriche«. Progr. d. Gymn. z. grauen Kloster. Berlin 1898. sehen wir mit völliger Deutlichkeit, wie gerade in diesem Falle bestimmte Sehnsüchte und Strebungen im voraus latent in der Masse vorhanden sind, wie diese Sehnsüchte nach einer Verkörperung suchen und sie schließlich in einem Individuum finden, das nur mittelbar mit ihnen in Verbindung gebracht worden ist. Im Volke lebendig nämlich ist die durch religiöse, mystische und phantastische Vorstellungen genährte Hoffnung auf das Auftreten eines mächtigen Kaisers, der Erlösung von den unseligen politischen Zuständen bringen soll. Diese Hoffnung geht zurück auf die jüdisch-messianische Weissagung mit ihrem Traum von künftigem Glück, die in den 12 sibyllinischen Büchern heidnische Form angenommen und sich schließlich noch mit der christlich-eschatologischen Vorstellung vom Antichrist vermischt hat. Schon die alte Weissagung des Methodius, die aber am Ende des 10. Jahrh. allgemeine Verbreitung erhält, weist bin auf einen mächtigen Kaiser als den [115] Schöpfer einer neuen glücklichen Epoche, zugleich aber auch auf den Antichrist, der all der Herrlichkeit plötzlich ein Ende machen soll. Allmählich kommt der Glaube hinzu, daß jener ersehnte Kaiser dem Frankenreiche angehören werde, und man schwankt nur noch, ob dem west- oder ostfränkischen. Es entsteht in Westfranken die Karls-, in Ostfranken die Friedrichssage. Die letztere läßt Friedrich I., auf den sie sich erst bezogen hat, bald beiseite und macht einzig Friedrich II. zu ihrem Objekt. Wie das im einzelnen geschieht, wie z. B. merkwürdigerweise Friedrich II. dem einen Kreise als der Messias, dem anderen als der Antichrist erscheint, interessiert hier nicht. Für uns ist nur eine Feststellung von Wichtigkeit: daß das Primäre die Zeittendenzen, hier also die durch die Prophetie genährten Sehnsüchte sind, und das Sekundäre erst das Individuum. Die Erscheinungsform Friedrichs II. hätte während des Mittelalters niemals so sehr ins Gewaltige verzerrt werden können, wenn jene Tendenzen nicht vorhanden gewesen wären, die mit dem Individuum an sich, wie nochmals hervorgehoben sei, nicht das geringste zu tun haben. KAMPERS selbst faßt die Ergebnisse seiner Untersuchung ganz in unserem Sinne zusammen. Er scheidet zwischen Sage und Prophetie und fährt dann fort: »Die Prophetie geht von einem pessimistischen Grundzug der Zeit, von der Sehnsucht nach einer Besserung des geistigen und sozialen Daseins aus und sucht nach einer Persönlichkeit, welche geeignet wäre, die großen Gegensätze im Völkerleben zu heben. Die Sage bleibt sich und ihrem einmal erkorenen Helden treu: die Prophetie paßt sich den Zeitverhältnissen an, heftet sich nur vorübergehend an bestimmte Personen« (a. a. O. 40). Diese Zeitverhältnisse sind so mächtig, daß sie mit unwiderstehlicher Gewalt auf irgend eine Verkörperung hindrängen: sie hätten ebenso gut wie in Friedrich II. in einem andern Individuum personifiziert werden können, und es wäre dann dieses andere Individuum in dem Glanze erschienen, der jahrhundertelang Friedrich II. umgab. Seine heutige Erscheinungsform als sogen. Friedrich Barbarossa – man denke an das RÜCKERTsche Gedicht – geht bekanntlich auf eine Reihe reiner Irrtümer und Verwechslungen zurück; sie kann deshalb in der vorliegenden Untersuchung übergangen werden. [116] Die Ähnlichkeit mit einem anderen, bereits erwähnten Prozesse wird hier evident: mit dem der Symbolisierung. Wenn sich gezeigt hat, daß die Stürmer und Dränger in Shakespeare die Verkörperung ihrer Ideale, bestimmte Ästhetenkreise der heutigen Zeit in Goethe das Ziel ihrer religiösen Sehnsüchte sehen, so sind auch in diesen Fällen das Primäre die jeweiligen Zeittendenzen, die freilich noch besondere Nahrung erhalten vom Verehrungs- und vom Konzentrationsbedürfnis. Aber beide Bedürfnisse wären befriedigt worden, wenn sie sich auf irgend ein anderes Individuum gerichtet hätten. Es zeigt sich hier besonders deutlich, wie wenig das Individuum selbst zu seiner Erscheinungsform beiträgt, wie viel dagegen die Masse, die es umgibt.

Das gilt auch für Epochen, die im allgemeinen sehr wohl imstande sind, Geschichte von Legende zu trennen. Daß ein Charakterbild von der Parteien Gunst und Haß verzerrt werden kann und darum in der Geschichte »schwankt«, weiß man nicht nur von Wallenstein. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß es selbst Friedrich d. Gr., dessen Stern heute so hell erstrahlt, nicht anders gegangen ist. Nach 1806 wirft man ihm vor, daß seinem Lebenswerk »die natürliche Schöpfungskraft gemangelt« habe, und schreibt ihm die Schuld an dem nationalen Unglück zu. Patrioten wie Ernst Moritz Arndt verübeln ihm seine Franzosenliebe, und selbst seine militärischen Fähigkeiten werden von kompetenten Beurteilern – wie v. Retzow, v. Bülow, v. Behrenhorst – angezweifelt. Auch die katholisierende, nach dem Mittelalter rückschauende Romantik findet naturgemäß kein Verhältnis zu ihm. Da beginnt in den 30er Jahren seine Erscheinungsform sich plötzlich zu transformieren. Die Erklärung, die WIEGAND (a. a. O. 13) von diesem Phänomen gibt, ist zweifellos richtig: die romantische Epoche schwindet langsam dahin, und es entsteht ein politischer Liberalismus mit starker Vorliebe für französisches Wesen, besonders für Voltaire und Rousseau. Einer solchen Epoche muß ein Individuum wie Friedrich d. Gr., dessen Geistesrichtung der ihren so ähnlich ist, in ganz anderer Form erscheinen: die Zeittendenzen wirken ruhmverstärkend. Der Unterschied zwischen diesem Fall und den oben besprochenen ist klar: es handelt sich nicht mehr um ein Personi [117]fikationsbedürfnis, das sich ebenso gut auf ein anderes Individuum hätte richten können, sondern einer historisch interessierten Masse transformiert sich – infolge einer Verschiebung der Zeitverhältnisse – die Erscheinungsform einer bestimmten Persönlichkeit.

Nicht anders ist die Sachlage bei der Erscheinungsform, die Napoleon in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts annimmt. Auch hier drängen vorher vorhandene – seien es politische, seien es ästhetische – Strömungen nach einer Verkörperung und finden sie in einem Individuum, das aus ganz anderen Gründen ein Gegenstand des Ruhmes geworden ist, zu jenen Strömungen selbst aber entweder gar nicht oder nur in geringem Maße in Beziehungen steht. Die vorher vorhandene Tendenz ist in diesem Falle die starke Opposition gegen das Bourbonentum. Es war nicht so sehr die Erinnerung an die früheren, als vielmehr die Unzufriedenheit mit den jetzigen Zuständen, die nun plötzlich die hellsten Strahlen auf das Bild Napoleons konzentrierte. »Das proteische Wesen des Bonapartismus bot jeder Opposition eine Waffe, jeder nationalen Leidenschaft eine Befriedigung. Es war gar zu bequem, die Bourbonen mit dem Plebejerkaiser, den friedlichen Bürgerkönig mit dem Helden von Austerlitz zu verhöhnen, jeder schwachen Regierung die großartige Ordnung des Kaiserreiches vorzuhalten« (TREITSCHKE, a. a. O. 147). Und diese Zeitströmungen führen bald eine vollkommene Transformation herbei. »Der harte Despot‚ der sich vermaß: Nur ein Soldat versteht zu herrschen, man kann nur mit Stiefeln und Sporen regieren – galt kaum 20 Jahre nach seinem Tode den gedankenlosen Halbgebildeten als ein Held der Freiheit« (ibid.). Aber nicht nur bei den Halbgebildeten und nicht nur in Frankreich. Die starken sog. »reaktionären« Strömungen, die in jener Zeit in ganz Europa einsetzen, zwingen alle Liberalen, auch die geistig Höchststehenden – die Varnhagen, Grillparzer, Immermann, um nur einige Namen zu nennen – zur Opposition und führen allmählich eine völlige Veränderung des napoleonischen Bildes herbei: ihnen, den glühenden Patrioten, wird Napoleon nun eine Verkörperung freiheitlicher Gedanken. Zu erklären ist diese absonderliche Transformation allein dadurch, daß Napoleon ihnen nur [118] als Produkt der Revolution erschien und – bei aller nicht zu verkennenden Unterdrückung der politischen Freiheit – wenigstens äußerlich die Idee der »égalité« in sein Programm aufgenommen hatte. GRILLPARZER sagt einmal von ihm:

»Zum mindsten wardst du strahlend hingestellt,
Zu kleiden unsrer Halbheit ekle Blöße,
Zu zeigen, daß noch Hoheit, Ganzheit, Größe
Gedenkbar sei in unserer Stückelwelt.«

Und HOLZHAUSEN, der diese Verse zitiert, fügt hinzu: »Eine solche Auffassung hängt natürlich bei dem patriotischen Grillparzer mit dem Ekel zusammen, den das politische Jammerkonzert der Heiligen Allianz allen besseren Geistern erregte. Und da es auch in Hinsicht auf die schlimmsten Seiten der napoleonischen Herrschaft, politischen Unfreiheit, Polizeiherrschaft, Zensur und Preßknechtschaft, nach dem Sturze des Kaisers nicht besser, nein im Gegenteil vielfach noch schlimmer geworden war, so kam man zu Vergleichen mit früher, die von Jahr zu Jahr dem Andenken Napoleons immer günstiger werden mußten« (a. a. O. 781.). Die ruhmerweiternde – nicht etwa ruhmzeugende – Macht der Zeittendenzen ist in diesem Falle gar nicht zu verkennen: ohne das Bourbonentum wäre in Frankreich, ohne die reaktionäre Regierung in Deutschland und Österreich Napoleons Bild – wenigstens für jene Epoche – niemals in einem Glanze erschienen, wie es ihn wirklich angenommen hat.

Noch deutlicher wird die Macht der Zeittendenzen, wenn wir sehen, daß sie, die in ihrer unverhülltesten Gestalt ja meist politischer Art sind, auch die Erscheinungsform einer künstlerischen Eminenz allmählich umzugestalten vermögen. Daß politische Strömungen in politischen Individuen wie Friedrich II., Napoleon, Friedrich d. Gr. Verkörperung suchen, ist im Grunde nicht so auffallend wie die Tatsache, daß gleichartige Strömungen auch den Nachruhm einer Persönlichkeit wie Schiller beeinflussen können. Da die Schwankungen des Schillerkultes an dem LUDWIGschen Buche jetzt aufs genaueste zu verfolgen sind und die Kausalzusammenhänge bei ihnen besonders klar liegen, sei auf sie etwas näher eingegangen. LUDWIG sagt: »Daß Schiller in dem Jahrzehnt [119] nach seinem Tode eine breite und tiefe Wirkung ausübte, ist vor allem seiner poetischen Kraft, daneben aber auch zwei anderen Umständen zu verdanken, der Pflege seines Andenkens durch die Kunst und vor allem den Zeitverhältnissen« (a. a. O. 36). Daß der Literarhistoriker die Eminenz mit der Hervorhebung »vor allem« an den Anfang stellt, ist begreiflich. Er fügt aber alsbald zwei Faktoren hinzu, von denen der eine später zu besprechen sein wird, der andere – der übrigens ebenfalls die auszeichnenden Wörtchen »vor allem« erhält – jedoch hierher gehört. Was waren es nun für Zeitverhältnisse, die zwischen 1805 und 1815 für Schiller ruhmerweiternd wirkten? Er gilt der kampfbereiten Jugend als der feurige Dichter, der Kriegsbegeisterung zu erwecken versteht. Schon 1805 und 1806, besonders aber 1813 ist Wallensteins Lager »der beste Ausdruck der hochgespannten Stimmung« (a. a. O. 49). Das »Frisch auf, Kameraden« wird immer wieder gesungen. »Im besonderen mochte der soldatische Geist, der dem fast im Feldlager geborenen Sohne des wackeren Hauptmanns Schiller als Erbteil vom Vater her zugefallen war, Widerhall in den Kreisen finden, die wenig später das Volk in Waffen führen sollten« (51f.). Schon in der folgenden Periode, der romantischen, tritt eine merkliche Verschiebung des Schillerbildes ein. Der Dichter des Tell, der Ehrenbürger der französischen Republik gilt als Verherrlicher der Revolution und somit als Propagator liberaler, fortschrittlicher Ideen. Es kann schon aus diesen rein politischen Gründen – andere werden noch zu erwähnen sein – nicht Wunder nehmen, daß die Romantik ihm fast durchweg als einem völlig Fremden gegenübersteht. Aber ähnlich wie bei Friedrich d. Gr. schwillt in den 40er Jahren, also in einer Epoche mit stark liberalistischen Tendenzen, der Schillerkult wieder gewaltig an und gibt dem Bilde Schillers Formen, die es jahrzehntelang beibehält und auch heute noch nicht ganz verloren hat: er wird zum politischen Dichter und als solcher zum Verherrlicher der Freiheit und zum glühenden Patrioten. Goethe, dessen quietistische Neigungen jetzt stärker als früher betont werden, muß weit hinter ihn zurücktreten. Schillers Geburts- und Todestag werden Volksfeste; aber der Verehrung für den großen Künstler geben sie nur nebenbei Ausdruck; vor [120] allem macht man sie zu politischen Festen, zu immer neuen Anlässen, sich an den großen Worten zu berauschen, die noch aus der französischen Revolution herüberklingen. Und diese Transformierung findet nicht etwa nur bei der Masse 2. und 8. Grades statt. In den äußerst einflußreichen »Hallischen Jahrbüchern« Arnold Ruges, also eines Führers der radikalen Linken, lehrte »derselbe Zug der Zeit, der die nach politischer Geltung strebenden Klassen des Mittelstandes die Schillerfeste zu Kundgebungen liberalen Geistes machen ließ, auch die philosophischen Kritiker in die Werke des Dichters Lieblingsideen der Zeit hineindeuten« (LUDWIG 292). Und GERVINUS, dessen »Geschichte der deutschen Dichtung« in ihrer ersten Auflage 1835-1842 erscheint, spricht immer wieder dieselben Ideen aus. Wenn er Schiller vor Goethe deutlich bevorzugt, so ist das vor allem dadurch zu erklären, daß er auch in seinem gelehrten Werke immer der liberal gesinnte Politiker bleibt und sich kaum bemüht, diese politische, der Sache selbst wenig zuträgliche Betrachtungsweise zu unterdrücken. Er sagt etwa: »Es war der innerste Drang von Schillers Natur, daß er überall auf jene politischen Stoffe in seiner Dichtung fiel, die durchweg das Abbild der Zeit und der Lage der Welt waren, sowie es die natürlichste Wirkung war, daß seine Dichtungen außer ihren ästhetischen Effekten keine gewaltigeren gemacht haben als die politischen, die seitdem unsere Jugend angefeuert haben und wohl noch manchesmal erwärmen werden« (4. Ausg. 1853, V. 388).

Ästhetische Bedenken werden freilich auch von Gervinus gegen Schiller erhoben, aber die Bedeutung seiner eigenartigen Betrachtungsweise wird klar, wenn man bedenkt, wie häufig das Gervinussche Werk als Quelle populärer Literaturdarstellung benutzt wird. In den aufgeregten Tagen des Jahres 1848 macht diese Verschiebung des Schillerbildes nach der politisch-liberalen Seite hin weitere Fortschritte. Zu einer Tellaufführung am 28. März 1848 schreibt die »Allgemeine Preußische Zeitung« (Nr. 85): »Das Volk sehnte sich danach, in diesen ersten Tagen des Kampfes und der Aufregung einen Ruhepunkt zu finden und in dem erhabenen Schwunge der Freiheitsgedanken unseres großen nationalen Dichters den Ausdruck seiner eignen Gefühle zu suchen« (LUDWIG 341).

[121] Vor allem aber schwang bei den großen Feiern des Jubiläumsjahres 1859 »alles Wünschen und Hoffen für die nationale Zukunft im Ton der Feier mit ... Man bekannte sich nach den Jahren der Enttäuschung, des Zweifels und der Verstimmung nun, da wieder ein frischerer Luftzug in der Politik zu wehen begann, zu den alten Idealen, man feierte sie in Schiller, Schiller in ihnen« (LUDWIG 399). Die Allgemeinheit erblickt in ihm nichts anderes als den Dichter des Ideals, der Freiheit und des Vaterlandes. »Die Feier des Dichters wurde vielfach eine Feier bei Gelegenheit des Dichters ... Man machte Geschichte, indem man sich mit den Volksgenossen verband zur Feier des Mannes, der als der Genius der Nation erschien ... Das Schillerfest war nach all der Jahrzehnte langen Zerrissenheit ... eine machtvolle Kundgebung des einigen deutschen Volkes ... Das Schillerfest war ein politisches Fest ... eine Volksfeier wurde begangen, kein literarisches Jubiläum« (401f.).

Diese Art der Schillerbegeisterung hörte nun freilich in den 70er Jahren auf. Die Reaktion, die auf sie folgte, mag ebenfalls durch die politischen Verhältnisse bedingt gewesen sein. Aber Ursache und Folge liegen hier nicht mehr so klar zu Tage. Wirksamer als Veränderungen in der Politik waren jetzt sicherlich Veränderungen in der ästhetischen Betrachtungsweise. Auch bei ihnen handelte es sich zweifellos um »Zeittendenzen«. Wenn endlich die Erscheinungsform Schillers im letzten Jahrzehnt, besonders nach dem 2. großen Jubiläum im Jahre 1905, wieder eine Veränderung durchgemacht hat und der Periode der Schillerverachtung die neue einer – freilich nicht ganz bedingungslosen – Schillerverehrung gefolgt ist, so sind hier andersartige Kräfte wirksam, auf die später einzugehen sein wird.

Die Betrachtung Schillers hat uns von den politischen Zeittendenzen allmählich zu den ästhetischen als Bildnern der Erscheinungsform hinübergeführt. Verschiebungen im Werturteil über Maler z. B. werden hauptsächlich durch Verschiebungen jener ästhetischen Zeittendenzen hervorgerufen. Wenn in neuester Zeit die Meister der Hochrenaissance, vor allem Raffael und Michelangelo, von ihrem gewaltigen Nimbus viel zu verlieren beginnen, so ist das wiederum bezeichnender für die Zeit als für die Objekte der Betrachtung. Das Urteil [122] eines bewußt modernen Kunstbetrachters, KARL SCHEFFLERS: »Als Bildhauer wird Michelangelo auf den, der seine Skulpturen, nach all der Präokkupation in unseren Museen von Jugend auf, noch naiv anzuschauen versteht nur bedingt wirken« »Die alten Meister im Urteil der Gegenwart«, Voss. Zeitg. 21. September 1913, Nr. 480 – dieses Urteil sagt uns mehr über Scheffler und seine Zeit als über Michelangelo. Es sagt uns ebenso wenig über diesen wie das all der unbedingten Michelangelo-Verehrer, die einer früheren Epoche angehören oder heute noch unter deren Einfluß stehen. Man vergleiche damit die charakteristischen Worte SCHEFFLERS über Giotto: »Wie sich die Zeiten doch ändern! An der einfachen Basilika der Madonna dell' Arena in Padua, wo man Giotto als Freskenmaler – d. h. in seiner wesentlichen Bedeutung – am besten kennen lernt, ging Goethe ahnungslos noch vorüber, trotzdem er wenige Sehritte davon in der Kirche der Eremitaner die Fresken Mantegnas bewunderte. Er suchte, ganz im Sinne seiner Zeit, das Fertige, er wollte die Gipfel; das Primitive war ihm ärgerlich. Heute ist die kleine Arena-Kirche zu einem Wallfahrtsort geworden, neben dem Mantegnas Fresken vernachlässigt werden; die Stunden vor den Werken Giottos werden den Künstlern und Kunstfreunden zu Erlebnissen, die durch das ganze Leben nachwirken.« Ibid. 11. Mai 1918, Nr. 235. Wiederum ist das Primäre nicht das Objekt der Betrachtung, sondern das Subjekt. Weder aus dem Verhalten Goethes noch aus den Worten Schefflers können wir entnehmen, wie Giotto »an sich« gewesen ist. Beide sind als Betrachtende in starkem Maße Produkte dessen, was man längst das Milieu genannt hat, treten also befangen an die Individuen heran. Aber gewiß wird durch die Milieutheorie das Urteil des Subjekts nicht restlos erklärt, und es wird sich später noch zeigen, was an ihm unerklärbar bleibt.

Hier kam es nur darauf an darzulegen, daß und wie sehr bei aller Wertung das gewertete Individuum sekundärer Faktor ist. Wäre es anders, so könnten niemals jene starken Schwankungen eintreten, die bei der Schätzung der meisten, ja wir können ruhig sagen: aller für die historische Entwicklung bedeutsamen Individuen zu beobachten sind.

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