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2. Kapitel.
Die Gesetze der Nachahmung und das Ruhmproblem.

In der ausgedehnten Diskussion über die das Gesellschaftsleben aufbauenden Triebe ist unter anderem auf ein Phänomen hingewiesen worden, das lange Verborgenes blitzhaft zu erhellen schien, alsbald »la clef qui ouvre presque toutes les serrures« genannt wurde und inzwischen auch wiederholt Gegenstand eingehender Forschung geworden ist: auf die Nachahmung. Das Verdienst, zum ersten Male mit Nachdruck auf sie hingewiesen zu haben, gebührt GABRIEL TARDE, Les lois de l'imitation (Etude sociologique). Paris 1890, zweite hier zitierte Aufl. 1895. Dazu kommt vor allem seine »Logique sociale«. Paris 1895 und J. M. BALDWIN mit verschiedenen, später zu erwähnenden Schriften. Nebenher hat früher schon LE BON darauf verwiesen. Vgl. dessen »L'homme et les societés«, 1886, 11. So fern nun auch jene fundamentale Frage dem Gegenstand der vorliegenden Schrift steht, so wichtig ist der Begriff der Nachahmung gerade für uns: es handelt sich für uns darum, zu erklären, wie aus der Gesamtheit der ruhmbildenden Faktoren ein einheitliches Urteil über das Individuum entsteht, d. h. wie bei einer in der Zeit und im Raume ausgedehnten Masse allmählich eine Übereinstimmung darüber eintritt, daß gewisse Individuen weniger, andere in ganz besonderem Maße eminent, daß sie also »genial« sind. Läßt sich zeigen, daß für jede kollektivpsychische Übereinstimmung oder Ähnlichkeit die Nachahmung – wenn schon nicht die einzige, so doch die Hauptursache ist, so ist auch für die Art Übereinstimmung, die hier allein zur Erörterung steht, eine Erklärung gefunden. Es ist zu diesem Zwecke nötig, die Bedeutung der Nachahmung für das Gesellschaftsleben – sei es nun das anormale oder das normale, das primitive oder das zivilisierte – in einem raschen Überblick zu betrachten.

Von den mannigfachen Bedeutungsnuancen, die sich für den Begriff der Nachahmung in den letzten Jahren ergeben haben, interessieren hier nicht alle. Eine instruktive Übersicht bei BALDWIN, Dictionary of Philosophy and Psychology. New York, Art. »imitation«. Wir übergehen den [219] Komplex der bewußten Nachahmungen und auch von den unbewußten den größten Teil derer, in denen der Einzelne den Einzelnen imitiert. Es bleibt dann noch die sehr bedeutsame Gruppe von Erscheinungen, wo zunächst der Einzelne eine Masse und später auch die Masse den Einzelnen zu einer Nachahmung im Handeln oder Fühlen oder Denken veranlaßt.

Beginnen wir mit den anormalen Nachahmungshandlungen, so ist fürs erste auf die soziale Bedeutung der Suggestion zu verweisen. Bei der – uns noch nicht interessierenden – Suggestion, die der Einzelne auf den Einzelnen ausübt, handelt es sich um ein reines Zwangsverhältnis: der Hypnotisierte steht vollständig unter dem Einflusse des Hypnotiseurs und hat weder den Willen noch die Macht, sich diesem Einfluß zu entziehen. »Es liegt ein der physischen Infektion durch parasitische Mikroorganismen entsprechendes Contagium psychicum vor. Dieses führt – gleich dem Contagium vivum –zu einer unmittelbaren, zwar nicht physikalisch greifbaren, aber psychischen Infektion des Organismus.« BECHTEREW, Die Suggestion und ihre soziale Bedeutung (deutsch von WEINBERG). Leipzig 1899, 1. Völlig analog verlaufen nun die Massensuggestionen, für die die Geschichte, auch die der kultivierten Völker, eine Fülle von Beispielen bietet. Es sei nur an den Kinderkreuzzug, die wiederholt auftretenden Tanz- und Konvulsionsepidemien, die Flagellanten, den Hexenglauben, den Tarantismus u. ä. erinnert. Sehr reiches Material hierfür bei OTTO STOLL, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. Leipzig 1904. Auch in neuerer Zeit finden sich immer wieder Fälle von krankhaftem, zuweilen sogar verbrecherischem Handeln oder Denken, das in der Massensuggestion seine Ursache hat. Die durch John Law um 1718 in Frankreich hervorgerufene enorme Spekulationswut, der in bestimmten Intervallen immer wieder auflebende Glaube an die jüdischen Ritualmorde, die verbrecherischen Handlungen der englischen Frauenrechtlerinnen, all das ist psychologisch den vorher erwähnten Tatsachen nahe verwandt. Auf eins, worauf später noch wiederholt verwiesen werden wird, ist freilich schon hier zu achten: der Einzelne glaubt in den weitaus meisten Fällen auf Grund einer Über [220]legung oder einer Überzeugung zu handeln, d. h. so zu handeln, daß ein bestimmtes, ihm wünschenswert erscheinendes Ziel erreicht wird. Aber entweder erscheint bereits dieses Ziel ihm nur infolge einer Massenpsychose als wünschenswert, oder – wie etwa der Fall der Frauenrechtlerinnen deutlich zeigt – einem an sich vielleicht vernünftigen Ziele wird auf unvernünftige Weise zugestrebt. Der Einzelne hätte diesen Weg nie gewählt, er beschreitet ihn, weil ihn vorher so viele andere beschritten haben, weil er also völlig unter dem Zwange der suggestiven Nachahmung steht, die ihm ein vernunftgemäßes, durch wirkliche Überzeugungen geleitetes Handeln unmöglich macht.

Dem seines Willens kaum noch oder gar nicht mehr mächtigen Individuum steht das primitive in mancher Beziehung nahe. Auch bei ihm tritt das verstandesmäßige Handeln zurück hinter einem andersartigen, das auf der Nachahmung beruht. Je unentwickelter eine menschliche Gemeinschaft ist, desto auffallender ist die Gleichheit der Lebensführung, die sich viele Generationen hindurch erhält. Wenn man auch im allgemeinen bei der Herübernahme naturwissenschaftlicher Ausdrücke in die Soziologie vorsichtig sein muß, liegt es doch hierbei sehr nahe, an die Vererbung zu denken, und BALDWIN hat denn auch den Ausdruck »social heredity« geprägt. Vgl. dessen »Social and ethical interpretations in mental development«. New York 1897, 176. So kommt es, daß »die Ethnographen Nachahmungshandlungen als Erkennungsmerkmale der Völker behandeln, wie die Zoologen die ererbten Körpereigenheiten der Tiere«. BECK, Die Nachahmung und ihre Bedeutung für Psychologie und Völkerkunde. Leipzig 1904, 55. Wenn die Prähistoriker die ausgestorbenen Rassen danach unterscheiden, ob sie ihre Toten hockend oder liegend begraben, wenn RATZEL bei der Frage der Verwandtschaft von Malayen und Japanern auf die Ähnlichkeit des Häuserbaues, der Anlage der Abtritte, der Knetkur, bestimmter Tänze usw. verweist Vgl. RATZEL, Völkerkunde. 2. Aufl. – Leipzig u. Wien 1895, II, 657., so liegt nur eine Befolgung der erwähnten Prinzipien vor. Man wird freilich niemals übersehen dürfen, wie es die unbedingten Anhänger der Nachahmungstheorie oft [221] genug tun, daß für übereinstimmende Sitten – namentlich bei räumlich entfernten Völkern – noch eine andere Erklärung vorhanden ist: die Polygenesis, d. h. das Entstehen gleichartiger Gebräuche unter verschiedenen Völkerschaften, die gar keine Beziehung zueinander haben. Wenn z. B. die Sitte des Männerkindbetts sich bei den Basken, in Ostindien, in Kalifornien, Brasilien, Westafrika findet, die Sitte der Beschneidung bei den Juden, den Arabern, Abessiniern, Kaffern, auf einigen Südseeinseln und in Amerika, die Sitte der Leviratsehe bei den Juden, Indern, Afghanen, Drusen, Persern usw.‚ so müssen diese Gleichartigkeiten, so auffallend sie sind, nicht auf Nachahmung, d. h. auf Übertragung oder Entlehnung, zurückgehen. Es ist denkbar, daß gleiche psychische Veranlagungen an verschiedenen Orten gleiche Gebräuche hervorrufen. Aber innerhalb des Volkes selbst – und darauf kommt es hier allein an – liegt sicher Nachahmung vor, ebenso überall da, wo das Zusammentreffen der Völker oder Volksstämme durch andere historische Tatsachen bewiesen ist und wo das Aufkommen des Brauches bei dem einen Volke diesem Zusammentreffen mit einem anderen, das den Brauch bereits hat, erst zeitlich folgt. All die Methoden der Jagd, des Kampfes, der Bestattung usw., die viele Generationen hindurch ohne die geringste Veränderung erhalten bleiben, hat der Einzelne nicht etwa aus einer Anzahl anderer, ebenfalls vorhandener Möglichkeiten ausgewählt, ja er hat nicht einmal unter seinen Genossen denjenigen herausgesucht, der ihm der tüchtigste, also nachahmenswerteste schien, sondern er hat ohne Überlegung getan, was er die anderen tun sah, und weil er es die anderen tun sah.

Damit ist wiederum nicht geleugnet, daß eine ganze Anzahl von Nachahmungshandlungen, vielleicht sogar die meisten, letzten Endes auf Zweckvorstellungen zurückgehen. Wenn die Ethnologie Bräuche zu »erklären« sucht, wenn sie also etwa feststellt, daß der Sitte des Männerkindbettes u. a. der Wunsch zugrunde liegt, die Dämonen, die sich an der Mutter und dem Kinde vergreifen wollen, zu täuschen, daß die Verzierungen an den Pfeilen der Wilden ursprünglich nichts anderes sind als Giftrinnen, so bedeutet das nicht etwa, daß bei dem einzelnen Mann, der sich ins Kindbett legt, bei dem [222] einzelnen Krieger, der in seinen Pfeil eine Rinne schnitzt, auch nur unbewußt jene Zweckvorstellung vorhanden ist. Es bedeutet nur, daß sie bei dem ersten, der so gehandelt hat, da war und daß all die übrigen sich rein nachahmend verhalten.

Ähnliche Verhältnisse wie beim primitiven Individuum liegen beim Kinde vor, bei dem ebenfalls der Wille zu selbständigem Urteilen und Auswählen zunächst in geringem Maße entwickelt ist. Gerade für die beiden Haupttätigkeiten des Kindes, das Spielen und das Lernen, sind der Nachahmungstrieb und die aus ihm sich ergebende Nachahmungsfähigkeit von der größten Bedeutung. Der Knabe, der seine Bleisoldaten in Reih und Glied aufmarschieren und miteinander kämpfen läßt, oder das Mädchen, das seine Puppe säuberlich auszieht, ins Bettchen legt und in den Schlaf singt, beide ahmen nach, was sie bei Erwachsenen gesehen haben. Aber zweifellos handelt es sich hier zunächst um bewußte Nachahmung, also um eine Erscheinung, die in der vorliegenden Erörterung weniger interessiert. Nur liegt diesen an sich bewußten Handlungen ein instinktmäßiger Nachahmungstrieb zugrunde, der durchaus unterbewußt bleibt. Und so gibt es von den Tätigkeiten des Erwachsenen kaum eine, die vom Kinde nicht spielend nachgeahmt würde.

Für das Lernen ist der Nachahmungstrieb noch bedeutungsvoller. Vergegenwärtigen wir uns etwa, wie das Kind das Wichtigste, das Sprechen, lernt. Die ersten Anfänge des Sprechens sind nichts anderes als eine Nachahmung akustischer Vorgänge, die noch durchaus in das Gebiet dessen gehört, was GROOS »spielendes Experimentieren« nennt. Das »Lallen, Kakeln und Gurren« der Kinder, mit dem sie um die Mitte des ersten Vierteljahres beginnen, besteht in Bewegungen der Kehlkopf-, Mund- und Zungenmuskeln und ergötzt die Kinder nicht nur, sondern ermöglicht es ihnen auch – eben durch die fortwährende Einübung – Herr ihrer Stimme zu werden. vgl. GROOS, Spiele d. Menschen, 38. Tritt nun zu diesem Experimentieren der Nachahmungstrieb hinzu, so sind die Vorbedingungen für das eigentliche Sprechenlernen gegeben. »Das Kind hört allerlei Geräusche, die es [223] imitiert, so manche Tierlaute, das Heulen des Windes, das Husten oder Niesen; am meisten aber hört es natürlich die Laute der Muttersprache, und so kommt es ganz von selbst darauf, diesen eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, die sich noch steigert, wenn es das freudige Entzücken der Eltern über seine Wortnachahmungen, sowie den praktischen Nutzen dieser Fähigkeit kennen lernt« (GROOS, 377). Allmählich tritt das Spielerische im Sprechen immer mehr zurück gegenüber dem eigentlichen Lernen. Und dieses Lernen geht in der Hauptsache – es ist hier an das 83. bis 5. Lebensjahr gedacht – noch so vor sich, daß das Kind nachahmt, nur wenig so, daß der Erwachsene es unterweist.

Die absichtliche Unterweisung wird erst dann zur Hauptsache, wenn ein Lehrer dem Kinde gegenübertritt. Aber auch bei dieser neuen Art des Lernens liegt eine – freilich etwas modifizierte – Art der Nachahmung vor. TARDE hat darauf hingewiesen, daß auch aller Gehorsam letzten Endes nichts anderes ist als Nachahmung. Lois de l'imitation, 214. Weil das Kind weiß oder fühlt, daß der Lehrer der Ältere und Erfahrenere ist, weil er bei ihm Autorität genießt, ordnet es sich ihm willig unter und ahmt – etwa im fremdsprachlichen Unterricht – die vom Lehrer gehörten Worte, womöglich in der diesem eigenen Aussprache, nach, im sogenannten Gesinnungsunterricht dessen Art zu fühlen, zu denken, sich den großen Daseinsfragen gegenüberzustellen. Hat im Schulunterricht auch die bewußte, zuweilen sogar erzwungene Nachahmung ein starkes Übergewicht über die unbewußte – deren Dasein aber doch nicht ganz zu leugnen ist –, so wird die letztere wieder von der größten Bedeutung bei der übrigen Erziehung. Mehr als den Lehrer in seiner Art zu denken ahmt das Kind den Erwachsenen nach, der ihm zu Haus oder im Verkehr begegnet. Im frommen Hause wird das Kind fromm, im unfrommen unfromm, im konservativ gesinnten konservativ, im liberal gesinnten liberal. Daß dies die Regel ist, ergibt sich schon daraus, daß die Ausnahmen davon als solche auffallen. Aber nicht weniger als den Erwachsenen ahmt das Kind den Kameraden nach. Dieser Einfluß zeigt sich, sowie es zum ersten [224] Male in intensive Berührung mit einer Masse von Gleichalterigen kommt, d. h. sowie es die Schule zu besuchen beginnt. Die Masse der Gleichalterigen wird sogar noch leichter nachgeahmt als die der Erwachsenen, weil ihre Art zu denken der des Kindes ähnlicher, weil sie also leichter nachahmbar ist. Wie die Schulgenossen oder Freunde sprechen, was sie spielen, wie sie gekleidet sind, all das wünscht das einzelne Kind alsbald nachzuahmen. Der Trieb ist so stark, daß Gegenmaßregeln, die das Elternhaus aus gewissen Gründen treffen zu müssen glaubt, in den meisten Fällen nutzlos sind.

Wir sind hiermit bereits in ein Gebiet gelangt, das an unser eigentliches Problem – wie die Übereinstimmung in den Individuumsbewertungen zustande kommt – nahe heranreicht. Man sollte annehmen, daß der Nachahmungstrieb in dem Maße schwindet, in dem bei einem Individuum oder einem Volke die Fähigkeit zu bewußtem Handeln und zu selbständigem Urteil zunimmt, daß also bei dem erwachsenen und gebildeten Angehörigen einer Kulturnation Imitationsakte kaum noch zu beobachten sind. Ein Hinweis auf die zwei unendlich wichtigen Begriffe »Sitte« und »Mode« zeigt das Irrige dieser Annahme. TARDE hat in ebenso einfacher wie fruchtbarer Weise den Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen dargelegt: »Sitte« (coutume) ist eine Nachahmung, die sich über eine bald größere, bald geringere Zeit, »Mode« (mode), eine Nachahmung, die sich über einen bald größeren, bald geringeren Raum bin erstreckt. Lois de l'imitation, 266ff. Da TARDEs Beispiele nicht immer glücklich sind, sind sie im folgenden nicht benutzt. Die Sitte der Studentenmensuren ist räumlich beschränkt (auf Deutschland), zeitlich unbeschränkt (mehrere Jahrhunderte hindurch); die Mode der Krinoline war räumlich unbeschränkt (innerhalb ganz Europas), zeitlich beschränkt (auf die 50er und 60er Jahre des 19. Jahrhunderts). – TARDEs Scheidung ist durch die Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben, so wichtig, daß sie den folgenden Bemerkungen zugrunde gelegt werden mag.

Die Bedeutung der Sitte, also der Nachahmung altüberlieferter Handlungen, Anschauungen, Überzeugungen, wird klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, was alles unter diesen [225] Begriff gehört: Sprache, Religion, Regierungsform, juristische Anschauungen, Gebräuche des täglichen Lebens (also Nahrung, Wohnung, Kleidung, Umgangsformen usw.), Moral und Kunst. Wenn also der Deutsche im allgemeinen monarchistisch, der Amerikaner republikanisch gesinnt ist, wenn der Europäer seine Haare kurz geschnitten, der Chinese sie in einem Zopfe trägt, wenn die Christin ihr Gesicht zeigt, die Mohamedanerin es verhüllt, wenn der Okzidentale seine Kirchen mit einem Turm, der Orientale sie mit einer Kuppel versieht, – in all diesen und in zahllosen anderen, sich von selbst ergebenden Fällen zeigt sich die Macht der räumlich beschränkten, zeitlich unbeschränkten Tradition, der social heredity. Inwiefern diesen Gebräuchen Zweckvorstellungen zugrunde liegen oder wie weit der Einzelne, der sie befolgt, auf Zweckvorstellungen zu reagieren glaubt, wird alsbald erörtert werden. Hier handelt es sich nur darum, daß die Zweckvorstellungen allein nicht ausreichen, um die gewaltige Ausdehnung der traditionellen Handlungen zu erklären, und daß unter allen Umständen ein instinktmäßiger Nachahmungstrieb, zum mindesten als Mit-, wahrscheinlich als Hauptgrund angenommen werden muß. TARDE bat für den Konservativismus, um den es sich hier handelt, das kühne Wort »misonéisme« gebildet, was, falls man das Gegenteil »Neugierde« zugrunde legt, etwa durch »Neuflucht« zu übersetzen wäre, und es fällt beinah auf, daß er nicht auf einen physikalischen Analogiebegriff, das Beharrungsvermögen, verweist. Nach dem Trägheitsaxiom kann bekanntlich ein Körper den Zustand der Ruhe oder der Bewegung, in dem er sich befindet, sowie die Art dieser Bewegung weder aufgeben noch ändern, falls nicht eine fremde Kraft hinzutritt, die bewegend oder aufhaltend wirkt. Daß dieses Axiom auch für die Soziologie gilt, kann nach dem vorhergehenden nicht mehr zweifelhaft sein. Nur ist, wie bei jeder Herübernahme naturwissenschaftlicher Prinzipien in die Soziologie, auch hier auf eine Verschiebung hinzuweisen: aus dem Nichtkönnen wird ein Nichtwollen, ein Sich-nicht-mehr-treiben-lassen.

Gegenüber der Allgewalt der Sitte könnte man geneigt sein, der Mode eine ziemlich geringe Bedeutung zuzuschreiben. Aber man darf es nur dann, wenn man die Ausgedehntheit [226] in der Zeit unter allen Umständen höher einschätzt als die Ausgedehntheit im Raume. Schon die Gebiete, über die sich die Mode erstreckt, sind völlig dieselben wie die von der Sitte beeinflußten. Es gibt nicht nur sprachliche, religiöse, künstlerische usw. Sitten, sondern auch Moden, und für die Gebräuche des täglichen Lebens ist die Mode sicherlich von größerer Bedeutung als die Sitte.

Für uns aber ist das wichtigste die Frage, ob in all den Fällen, in denen eine Mode vorliegt, das entwickelte und zivilisierte Individuum sich weniger nachahmend verhält als das unentwickelte. Die Frage ist, so auffallend das zunächst scheinen mag, zu verneinen. Der Trieb zur räumlichen Nachahmung wächst gerade mit gesteigerter Kultur: die gebildete Dame wird einer aus dem Auslande kommenden Mode weniger widerstehen als die Negerfrau oder die Bäuerin. Aber dieses Beispiel zeigt zugleich, daß die beiden Erscheinungen Sitte und Mode im Ausgleichsverhältnis stehen. Nach ihrem persönlichen Geschmack geht auch die Bäuerin nicht gekleidet. Sie unterliegt der Macht der Sitte, also dem Triebe, zwar nicht zur räumlichen, wohl aber zur zeitlichen Nachahmung, ebenso wie die Städterin der Macht der Mode, also dem Triebe, zwar nicht zur zeitlichen, wohl aber zur räumlichen Nachahmung unterliegt. Verallgemeinern wir dies, so ergibt sich, daß mit vorschreitender Kultur der Einfluß der Mode wächst. Gerade in moderner Zeit – und eben durch die Eigentümlichkeiten der modernen Zeit – fällt von den Schranken. die früher die Völker voneinander getrennt haben, eine nach der anderen, und eine immer größere Angleichung in der Lebensweise und im Fühlen und Denken wird erkennbar. Ihre letzte Ursache hat diese Internationalisierung in der Vervollkommnung der Verkehrsmittel, die ein völliges Abschließen selbst dann unmöglich machen würde, wenn es erwünscht wäre. Aber es ist unerwünscht, vor allem weil die Handelsbeziehungen zwischen den einzelnen Völkern immer intimer und immer unentwirrbarer werden. Der Durchschnittsdeutsche wie der Durchschnittsfranzose und der Durchschnittsengländer, sie alle gehen ähnlich gekleidet, wohnen in ähnlichen Häusern, bevorzugen ähnliche Vergnügungen und schätzen ähnliche Bilder und ähnliche Musik. Die sehr zahlreichen internatio [227]nalen Vereinigungen der letzten Zeit, mögen sie nun wissenschaftlicher Art sein (also etwa Statistik, Kriminalistik, Geodäsie betreffen) oder wirtschaftlicher Art (Weltpostverein, Berner Übereinkunft zum Schutze geistigen Eigentums, Internationaler Verein für gesetzlichen Arbeiterschutz usw.) oder ethischer Art (Haager Schiedsgericht, Genfer Konvention für den Schutz der im Kriege Verwundeten, Schüleraustausch usw.), sie alle stellen zwar bewußte Angleichungen dar, gehen auch an sich auf reine Zweckvorstellungen zurück, aber sie wären unmöglich, wenn ihnen nicht ein Unterbewußtes zugrunde läge: die durch Produkte der modernen Zeit unterstützte Prädisposition zur Nachahmung von Ort zu Ort. Man könnte demgegenüber auf das wachsende Nationalbewußtsein verweisen, das ein Abschließen der Völker zur Folge hat. Aber das fast plötzlich – d. h. innerhalb eines Zeitraums von etwa 50 Jahren – erfolgende Aufsprießen dieses Bewußtseins in den meisten, namentlich den kleinen, gedrückten Völkern Europas, zeigt, daß auch hierbei nur eine zeitlich beschränkte, räumlich unbeschränkte Nachahmungshandlung vorliegt. Ganz ähnlich liegt der Fall bei den zahlreichen Volkserhebungen, die die Pariser Revolutionen von 1830 und 48 zur Folge haben: auch hier entstehen Brände, die sich im Raume stark ausdehnen, aber nur kurze Zeit dauern.

Noch evidenter wird die Bedeutung der Mode gerade für die moderne Zeit, wenn wir die Verhältnisse innerhalb eines einzigen Volkes betrachten. Auf den faszinierenden Einfluß der großen Stadt hat bereits TARDE hingewiesen. Was in ihren Versammlungen gesprochen, in ihren Theatern gespielt, auf ihren Straßen gesungen, von ihren Bewohnern angezogen, in ihren Warenhäusern feilgehalten wird, das sickert – oft mit verblüffender Schnelligkeit – in die kleinen Städte und sogar in die Dörfer über. Aber TARDE hebt nicht genügend hervor, daß die Größe der Stadt nur eine sekundäre Ursache für die Faszination ist: gab es doch auch antike Weltstädte, die‚ wenn sie den Nachahmungstrieb auch erregten, dies doch lange nicht in dem Maße taten wie die modernen. Der Hauptgrund für die Suggestivwirkung der modernen Großstadt liegt weniger darin, daß sie Großstadt, als daß sie modern ist. Erst die Erfindungen der neuen [228] Zeit, vor allem Eisenbahn und Telegraph, und das auf ihnen sich aufbauende, allmächtige Institut der Presse, ermöglichte es ihr, all ihre Strebungen, d. h. ihre Bevorzugungen und ihre Zurücksetzungen, räumlich zu propagieren, der Masse nahezubringen und vor ihr so lange durch Wort und Bild zu wiederholen, bis die unbewußte Nachahmung im Handeln, Fühlen, Denken sich einstellt.

Man sieht gewöhnlich ein Zeichen fortschreitender Kultur gerade darin, daß der Einzelne sich immer mehr von der Tradition emanzipiert, d. h. sein Handeln von Zweckvorstellungen, sein Meinen von selbständigen Urteilen geleitet sein läßt. Und in der Tat ist im Verlauf der Kulturentwicklung eine gewisse – natürlich nicht vollständige – Verdrängung der »Neuflucht« durch die »Neugierde« zu beobachten. Aber es hat sich gezeigt, daß auch bei den von der Neugierde eingegebenen Handlungen der Nachahmungstrieb noch von der größten Bedeutung ist: er hat nur die Richtung seines Wirkens – von der Zeit auf den Ort hin – geändert. Zwar vermögen die ganz starken oder auch die paradoxalen, zum Widersprechen und Widerhandeln neigenden Geister bis zu einem gewissen Grade sich von diesem Triebe freizuhalten. Aber auch sie können und wollen es in den allermeisten Fällen nur bis zu diesem gewissen Grade.

Es ist nun noch die bereits mehrfach gestreifte Frage nach den Zweckvorstellungen zu beantworten, die den Nachahmungshandlungen – mögen sie nun ins Gebiet der Sitte oder der Mode gehören – zugrunde liegen. Zwei Faktoren sind hierbei voneinander zu scheiden. Die Mode der Krinoline z. B. ging wahrscheinlich darauf zurück, daß die Kaiserin Eugenie mit dem umfänglichen Gewande ihre Schwangerschaft verdecken wollte. Es wird bereits hieran klar, daß die Zweckvorstellung – das Verdeckenwollen der Schwangerschaft – allein nicht genügt, um die zahllosen Nachahmungshandlungen zu erklären. Wäre eine kleine Bürgersfrau auf jenen Einfall gekommen, so wäre schwerlich eine »Mode« entstanden. Erst daß eine Kaiserin ihn hatte, war das Entscheidende.

Verallgemeinert ergibt dies: Nachahmungshandlungen gehen letzten Endes sehr oft auf Zweckvorstellungen zurück, [229] die aber zuerst nicht bei beliebigen, sondern nur bei einer bestimmten Art von Individuen aufgetreten sein dürfen. TARDE nennt diese Art den »inventeur« und versteht darunter – seiner allgemeinen geschichtsphilosophischen Ansicht gemäß – die eminente Persönlichkeit. Wir können – nach dem ersten und zweiten Abschnitt dieses Buches – aber nicht mehr eminent, sondern nur noch einflußreich sagen, mag dieser Einfluß nun auf Eminenz oder auf eine bald mehr, bald weniger zufällige Beziehung zu Institutionen zurückgehen, die selber einflußreich sind. Geistige, sittliche, politische, künstlerische Reformationen und Revolutionen kommen denn auch so zustande, daß der Apostel, der Demagoge, der »homme naturellement prestigieux« (TARDE, 92) oder auch eine Gruppe von solchen Menschen eine neue Art des Handelns, Fühlens oder Denkens aufbringen, die sich dann in der Zeit oder im Raume ausbreitet. Die sogenannte freie Wahl dessen, der sich von der zeitlichen Nachahmung freigemacht hat, besteht darin, daß er der räumlichen um so stärker verfällt. Eigentliche Zweckvorstellungen hatte nur der inventeur, der Neuerer. Der Einzelne, namentlich wenn er einer vorgeschrittenen Kulturgemeinschaft angehört, glaubt freilich in den allermeisten Fällen auf Grund selbständiger Überlegungen zu handeln oder zu urteilen, etwa wenn er für das Wahlrecht der Frauen, den Naturalismus in der Kunst, eine Abwendung von der Kirche oder für ähnliches eintritt. Aber mit Recht verweist Beck darauf, daß die Handlung oder Meinung das Primäre, die Zweckvorstellung das Sekundäre ist. »Noch heute dient die Vernunft vielen Menschen nicht dazu, die Wirklichkeit nach Zwecken umzugestalten, sondern nur die Zweckmäßigkeit der Wirklichkeit zu beweisen« (a. a. O. 111). Umgestaltet wird die Wirklichkeit nur von den einflußreichen Individuen und den auf ihnen basierenden Institutionen, also der Presse, der Schule, dem Handel, der Wissenschaft usw. Die übrigen Menschen verhalten sich – bald mehr, bald weniger – nachahmend. Am Anfang jeder politischen oder sozialen oder geistigen Revolution steht jedesmal einer oder eine Gruppe von Neuerern, die für ihr Handeln oder Meinen irgendwelche – seien es persönliche, seien es sachliche – Gründe haben mögen und deren suggestivem Einfluß dann die Masse erliegt. Erst nachträg [230]lich werden von dieser Masse die Zweckvorstellungen konstruiert. Die Überlegenheit des selbständigeren Geistes vor dem unselbständigeren zeigt sich nur darin, daß bei dem Handeln und Meinen des ersteren die Vernunft eine gewisse Kontrolle ausübt. Aber die kollektivpsychische Bedingtheit auch des in starkem Maße Selbständigen drückt die Bedeutung dieser Kontrolle in jedem Falle sehr herab.

Selbst da, wo eine Verbindung von Sitte und Mode im Handeln, Fühlen oder Denken der Gesellschaft vorliegt, wo also ein Brauch die in der Zeit und im Raume denkbar weiteste Verbreitung gefunden hat, kann es sich um Nachahmungsakte handeln, die entweder von Anfang an irrational waren oder es im Laufe der Entwicklung geworden sind. Wenn jederzeit und jeden Ortes die rechte Hand allein ausgebildet wird, nicht aber beide; Pferdefleisch Ekel erregt, nicht aber Schweinefleisch; der Soldat eine bunte Uniform trägt, nicht aber – wie es für ihn einzig zweckmäßig wäre – eine unauffällige: in all diesen und in vielen ähnlichen Fällen wird man höchstens sagen können, daß die inventeurs, die Neuerer, eine Zweckvorstellung hatten. Zuweilen aber werden schon bei ihnen rein zufällige Gründe maßgebend gewesen sein, und immer, immer liegen für die späteren Epochen irrationale Nachahmungsakte vor, für die höchstens nachträglich ein rationaler Anstoß gesucht wird. Man hat den Darwinschen Satz vom Überleben des Zweckmäßigsten auch auf das soziologische Problem der Tradition anwenden wollen. Vgl. CHATTERTON-HILL, Individuum und Staat. Tübingen 1918, 85f. Aber wir sehen – und das ist für unsere späteren Ausführungen von großer Wichtigkeit –, daß selbst da, wo eine Tradition der allerumfassendsten Art vorliegt, wo also viele Völker und viele Generationen sich an der Siebung der im Bereich der Möglichkeit liegenden Handlungen oder Gefühle oder Urteile haben beteiligen können, zum »Brauch« schließlich etwas erhoben wird, was gar nicht das Zweckmäßigste, d. h. das Rationalste, zu sein braucht.


Erst jetzt können wir wieder zu unserem eigentlichen Thema zurückkehren. Der zweite Abschnitt dieses Buches [231] hat zu zeigen versucht, durch welche einzelnen Faktoren eine günstige Gestaltung der Erscheinungsformen des Individuums ermöglicht, ja mehr als dies: bedingt ist. Wir haben gesehen, daß Besonderheiten in der Existenz des Individuums, a priori in der Masse liegende psychische Bedürfnisse und endlich eine Reihe von Formen und Institutionen der Gesellschaft an jener Gestaltung beteiligt sind. Als Effekt all dieser Faktoren ergibt sich eine fast vollständige Übereinstimmung z. B. darüber, daß Dante der größte italienische, Shakespeare der größte englische, Goethe der größte deutsche Dichter ist. Die Erwägungen dieses Kapitels sollten darlegen, daß jede Art von Übereinstimmung der Gesellschaft im Handeln oder Fühlen oder Urteilen vor allem dem Nachahmungstriebe zu verdanken ist. Eine derartige Urteilsübereinstimmung enthalten nun aber auch die obigen Allgemeinanschauungen. Es ergibt sich also die zwingende Folgerung, daß auch diese Anschauungen nicht zustande gekommen wären, wenn nicht der Nachahmungstrieb in irgendeiner Form mitgewirkt hätte. Es bleibt demnach jetzt noch zu untersuchen, in welcher Form er das tut. Um das Problem nicht zu verwirren, seien zunächst nur die Verhältnisse bei der Masse 3. und 2. Grades betrachtet; die bei der Masse 1. Grades, also bei den Wissenschaftlern, können erst späterhin dargelegt werden.

In der gröbsten Formulierung würde eine Anwendung der Nachahmungsgesetze auf die Frage nach den Erscheinungsformen des Individuums lauten: A hält Shakespeare für den größten Dramatiker, weil ihn B, C, D, E ... dafür halten. Denken wir uns unter A einen Menschen, dem die Fähigkeit zu selbständigem Urteilen vollständig abgeht, so erscheint jene Formulierung fast als Banalität, und sie dürfte auch kaum Widerspruch erregen, wenn wir uns A im Besitze einer gewissen Durchschnittsbildung vorstellen, die gar nicht sehr klein zu sein braucht. Die überall und immer erfolgende Wiederholung des Urteils über Shakespeare läßt in ihm einen Zweifel an der Richtigkeit dieses Urteils gar nicht aufkommen. Es handelt sich in diesem Spezialfalle um eine der kompliziertesten Formen des Nachahmungsurteils, nämlich um eine Verbindung von Sitte und Mode. Hingegen würde es unter den Begriff der Sitte allein fallen, wenn die Franzosen Molière [232] höher einschätzen als Shakespeare, unter den Begriff der Mode allein, wenn zeitgenössische Deutsche Manet über Dürer stellen. Das Wort Mode wird in diesem Sinne auch in der gewöhnlichen Redeweise verwendet: man spricht heute von einer Manet-Mode, wie man von einer Giotto-, einer Grünewald-, Gottfried-Keller-, Brahms-Mode usw. spricht. Schon die Aufzählung dieser Namen zeigt, daß die Persönlichkeitsmoden nicht an zeitgenössische Individuen gebunden sind, ebenso wie Kleider-, Möbel- und sonstige Geschmacksmoden eine längstvergangene Epoche plötzlich zum Objekt räumlicher Nachahmung machen können. Auf all die Fälle, die uns früher beschäftigt haben, fällt jetzt neues Licht: Vergil war im Mittelalter »Mode«, ist es aber jetzt nicht mehr; Friedrich der Große war es kurz nach seinem Tode, am Anfang des 19. Jahrhunderts nicht und ist es seit dessen zweiter Hälfte wieder von neuem. Schiller war es kurz nach seinem Tode weniger, in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr, später wieder weniger und wird jetzt wieder von neuem »Mode«. Es ist ein zunächst verwirrendes Auf und Ab, in das erst die Erkenntnis der Nachahmungsgesetze einige Ordnung bringt. In einigen wenigen Fällen, etwa bei Homer, Dante, Shakespeare usw., liegt eine – freilich auch nichts weniger als lückenlose Verbindung von Sitte und Mode vor. Aber es hat sich gezeigt, daß auch diese machtvollste kollektivpsychische Erscheinung nicht allein, ja nicht einmal hauptsächlich auf Vernunftgründe zurückzugehen braucht: der Kollektivpsychologe muß es auf dieselbe Stufe stellen, wenn man dem Soldaten jederzeit und jeden Ortes eine auffallende Uniform gibt und wenn man Homer jederzeit und jeden Ortes für einen der größten Dichter hält. Der einzelne Nachahmende wird im einen wie im anderen Falle für sein Handeln oder Urteilen nachträglich Gründe zu finden wissen. Aber daß er sich ihrer nicht im voraus bewußt war und sein Handeln und Urteilen nicht nach ihnen eingerichtet hat, kann jetzt nicht mehr zweifelhaft sein.

Ebensowenig zweifelhaft ist es jedoch, daß derartige Gründe für den Beginner jenes Handelns oder Urteilens, also für den inventeur oder die auf ihm beruhende Institution, vorhanden gewesen sind. Der inventeur ist im Falle der Persönlichkeitsmoden oder -sitten der einflußreiche Freund oder [233] Kritiker oder Gelehrte, dessen eigene Meinung dann von der Presse, der Schule, der Kunst, dem Handel usw. weiter verbreitet wird. An der Eminenz der Persönlichkeit braucht hier ebensowenig gezweifelt zu werden wie früher stets. Sie nimmt dieselbe Stelle ein, die die Zweckvorstellung, also bei der Krinolinenmode das Verdeckenwollen der Schwangerschaft, eingenommen hat. Nehmen wir ein – auf seine einfachste Form gebrachtes – Beispiel, so ergäbe sich also: Lessing sah – aus irgendwelchen, hier noch nicht interessierenden Gründen – in Shakespeare eine Eminenz ersten Ranges. Da er sehr einflußreich war, ein »homme naturellement prestigieux«, der nicht nur zahlreiche persönliche Verbindungen hatte, sondern auch wichtige ruhmverbreitende Faktoren benutzen konnte, war es ihm leicht, suggestiv zu wirken, dem von ihm ausgehenden contagium psychicum eine außerordentliche Verbreitung zu geben. Wären nur seine Zeitgenossen dieser Suggestivwirkung unterlegen, so hätte allein von einer »Mode« die Rede sein können. Da aber nach seinem Tode auch die Presse, die Populärwissenschaft, die Schule usw. die von ihm gebildete Meinung weitergaben, kam zur Mode die Sitte, und es liegt heute eine sowohl räumliche wie zeitliche Nachahmung des Lessingschen Urteils vor. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß das Problem des Shakespeareschen Ruhmes in Wirklichkeit sehr viel komplizierter ist, d. h. daß Lessing einerseits nicht der einzige inventeur und andererseits in seinem Urteil auch selbst bereits befangen ist. Schon die Shakespeare-Begeisterung im »Sturm und Drang« mußte sein Urteil trüben. – Aber es kam hier nur darauf an, die Verhältnisse durch ein möglichst vereinfachtes Beispiel klar zu machen, das doch nicht imaginär sein sollte.

Der heutige Shakespeareverehrer wird sich natürlich mit aller Gewalt dagegen sträuben, ein Urteilsnachahmer oder -nachsprecher genannt zu werden. Er wird darauf hinweisen, daß er sich seine Ansicht auf Grund eines durchgebildeten Kunstgeschmacks im allgemeinen und selbständiger Lektüre im besonderen geformt habe, und wird zuweilen sogar dartun können, daß diese Ansicht sich in bestimmten Einzelheiten von der allgemeinen unterscheidet. Aber man stelle sich etwa vor, daß demselben Leser eine Reihe anonymer, ihm un [234] bekannter Dramen vorgelegt würden, unter denen sich neben Werken der Marlowe, Kyd, Webster, Beaumont und Fletcher, Massinger usw. auch einige und zwar einige der geschätztesten von Shakespeare befänden und daß er dann gebeten würde, all diese Dramen nach ihrer Eminenz einzuordnen. Es ist bereits sehr unwahrscheinlich, daß er gerade den Shakespeareschen die ersten Plätze zuweisen, aber noch unwahrscheinlicher, daß er sie so hoch über die anderen stellen würde, wie er jetzt Shakespeare über irgendwelche englischen Dramatiker stellt, von denen er nicht einmal weiß, daß sie Shakespeares Zeitgenossen waren.

Anders würde er sich bereits verhalten, wenn alle Dramen benannt wären. Er würde die nicht Shakespeareschen nicht etwa für völlig wertlos halten; denn als literar-historisch Gebildeter weiß er, daß auch Shakespeares Zeitgenossen als genialisch gelten und neben dem einen Sterne erster Größe immerhin noch als Sterne zweiter Größe zu betrachten sind. Dieses schulmäßige, also traditionelle und damit imitatorische Urteil wird sein eigenes bereits befangen machen: er wird Shakespeare zwar voranstellen, aber in nicht allzu große Entfernung von den anderen.

Diese Entfernung wird nun gewaltig wachsen, falls nur die Shakespeareschen Dramen benannt sind, die anderen nicht. Jetzt lastet die einundeinhalbes Jahrhundert alte Tradition, die social heredity, in ihrer ganzen, unwiderstehlichen Gewalt auf ihm. Er kann sich ihr nicht nur nicht entziehen, sondern mehr als das: sie ist derartig Teil seines Wesens geworden, daß er sich ihrer als etwas von außen Herangekommenen gar nicht bewußt wird, daß er sie als etwas Selbstverständliches und Unbezweifelbares hinnimmt. Wie der Nachahmungstrieb ihm den Gedanken, sich plötzlich statt seiner modernen Kleidung ein griechisches Gewand anzuziehen, als höchst bizarr erscheinen lassen wird, wird er es ihm auch fast unmöglich machen, in Shakespeare etwas anderes zu sehen, als seine Vorfahren gesehen haben und seine Zeitgenossen jetzt noch sehen.

Die Analogie zwischen der Männerkleidung und der Persönlichkeitsbewertung kann nach den vorausgehenden Erörte [235]rungen nicht mehr befremden: in beiden Fällen handelt es sich um eine Verbindung von Sitte und Mode, also um eine Nachahmung, die sich über einen großen Raum und eine große Zeit hin erstreckt. Die Macht des Triebes, die zu dieser Nachahmung führt, kennen wir jetzt genau: wir haben gesehen, daß er beim kindlichen wie beim erwachsenen Individuum, in der primitiven wie in der fortgeschrittenen Gesellschaft – und jedesmal im weitesten Umfange – anzutreffen ist. Wie der Einzelne bei seiner Art, sich zu kleiden, zwar die Kleinigkeiten (etwa die Farbe, die Stoffart) selbständig auswählt, sich aber im wichtigsten (im Schnitt) nach seiner Umgebung richtet, d. h. sich nicht einmal ein Urteil darüber zu bilden versucht, ob gerade die allgemein getragene Form die schönste und zweckmäßigste sei, ebenso wendet er bei der Bewertung gewisser Individuen zwar in Einzelheiten sein persönliches Urteil an, schaltet es aber aus und wird sich dieses Ausschaltens nicht einmal bewußt, wo eine Allgemeinanschauung in Frage kommt. Jeder wird sich darüber klar sein, daß er lange Beinkleider, steife Kragen usw. nicht deshalb trägt, weil er gerade diese Form der Kleidung nach sorgfältiger Prüfung sämtlicher Möglichkeiten als die schönste und zweckmäßigste erkannt hat, sondern er wird zugeben, daß er darin völlig unter der Macht der Tradition steht. Daß eine solche Tradition in der Persönlichkeitsbewertung überhaupt vorliegt, ist im Ernst nie geleugnet worden und kann nach den Untersuchungen dieses Buches erst recht nicht geleugnet werden. Es ist also kein Grund vorhanden, die Macht dieses letzteren Traditionalismus für geringer zu halten als die jeder anderen Form traditionellen Verhaltens.

Man sieht ab und zu einmal jemanden in einem griechischen Gewande durch die Straßen ziehen. Vielleicht tut er es nur, um aufzufallen, vielleicht aber, weil er in einer Angelegenheit, auf die sonst selbständiges Nachdenken nicht mehr verwendet wird, sich nicht rein nachahmend verhalten will und weil er bei seinem Nachdenken gefunden hat, daß das griechische Gewand schöner und zweckmäßiger ist als das moderne. Man [236] lächelt über ihn und läßt ihn seines Weges ziehen. Er ist ein so seltenes Phänomen, daß sein Auftauchen allein nicht etwa einen Zweifel an der außerordentlichen Macht des Traditionalismus hervorrufen kann. Auch daß er einzelne Nachahmer findet, macht nichts aus. Nur in einem Falle kann er ein für die historische Entwicklung bedeutsamer Faktor werden: ist er ein besonders einflußreicher, über das stärkste »prestige« verfügender Mann, so ist es ihm mit Hilfe der oft genannten Institutionen, über die er dann alsbald verfügt, wohl möglich, zum inventeur, zum Neuerer zu werden, d. h. seine persönliche Anschauung zur allgemeinen zu machen. Aber selbst das stärkste Prestige wird nicht in allen Fällen genügen. Oft muß bei der Masse eine Prädisposition zum Neuen vorhanden sein, die entweder durch die allgemeinen Zeittendenzen oder – nach dem freilich nicht allzu bedeutsamen Gesetz der Kontrastwirkung (vgl. III, 3. Kap.) – durch Übersättigung mit dem von alters her Üblichen hervorgerufen ist. In jedem Falle wird dem Neuerer das Durchdrängen seiner Anschauungen um so schwerer werden, je fester eingewurzelt die traditionelle Anschauung ist und je mehr sich die seine von ihr entfernt.

Ganz ähnlich wie bei jenem Kleiderneuerer liegen die Verhältnisse, wenn etwa RÜMELIN oder TOLSTOI oder BERNARD SHAW Shakespeares Dramen gering einschätzen oder wenn EUGEN DÜRING Goethe für einen unbedeutenderen Lyriker hält als Bürger. »Die Größen der modernen Literatur«, 1, Leipzig 1898. »Nach unserem Urteil ist Bürger der wahrste und bedeutendste Liebeslyriker, den die Deutschen, ja den vielleicht überhaupt das 18. oder 19. Jahrhundert zusammengenommen aufzuweisen haben« (203) ... »Bürger hätte auch ebensogut vor Goethe, also an der Spitze der Deutschen, seinen Platz erhalten können« (ibid. 202). Weiteres Material hierzu in dem Kapitel »Ruhmvermindernde Faktoren«. Obwohl es sich hier um Männer mit zum Teil sehr großem Prestige handelt, ist doch die traditionelle Anschauung, gegen die sie kämpfen, allzu mächtig, als daß sie zu wirklichen inventeurs werden könnten, und auch von einer Übersättigung der Masse im oben erwähnten Sinne kann noch keine Rede sein. Selbst NIETZSCHE mit seinem nicht kleinen Prestige hat sein verächtliches Urteil über Luther oder [237] über Wagner nicht durchsetzen können: in beiden Fällen hatte er gegen Mächte zu kämpfen, die stärker waren als er.

Aber vielleicht wird der eine oder der andere ihn im Falle Sokrates als inventeur ansehen. Diejenigen, die nach der Lektüre NIETZSCHEs Sokrates gering einschätzen, ahmen also ebenso sehr einen bestimmten Neuerer nach, d. h. sie unterliegen einer »Mode«, wie diejenigen, die es nicht tun, ihre Vorfahren nachahmen, d. h. unter dem Zwange einer Jahrtausende alten »Sitte« stehen.

Es handelt sich hier natürlich nicht darum, wer »recht« hat, ob die Sokrates-Verehrer oder -Verächter. Für uns gilt es nur festzustellen, wie beider – vor allem der Verehrer – Urteil zustandekommt. Ob sich die Frage nach dem Recht oder Unrecht in den verschiedenen Persönlichkeitsbewertungen überhaupt jemals wird beantworten lassen, könnte nach dem vorhergehenden zweifelhaft erscheinen. Aber ein wirklicher Grund zu solcher Skepsis besteht nicht, und die Beantwortung jener Frage ist mindestens theoretisch sehr wohl denkbar. Da hier stets die – gar nicht zu bestreitende – Ansicht vertreten wurde, daß bei verschiedenen Individuen verschiedene Grade der Eminenz – sei es der ethischen, der geistigen, der künstlerischen – vorhanden sind, muß dieses Mehr oder Weniger sich wissenschaftlich irgendwie nachweisen lassen, d. h. es muß gezeigt werden können, ob das umstrittene Individuum in Wirklichkeit hoch oder gering zu werten ist. Und wir werden später noch sehen, auf welchem Wege eine solche reine Erkenntnis des Individuums erreichbar ist. Aber es wird sich dann nicht nur die außerordentliche Länge und Schwierigkeit dieses Weges zeigen, sondern noch etwas anderes, Wichtigeres, Entscheidenderes: daß das Ziel, das auf ihm erreicht wird, für die reinste Historie nur von sehr geringer Bedeutung ist und daß es ihr mehr als auf dieses Ziel auf die Erkenntnis des Weges ankommen muß, der zu ihm führt.

Hat das vorhergehende die außerordentliche Macht des Traditionalismus erwiesen, so ist dabei doch nicht zu vergessen, daß diese Macht reguliert wird durch einen Faktor, der außerhalb des Nachahmungstriebes steht: durch die bereits kurz erwähnte psychische Prädisposition des Wertenden. Über ihre [238] Herkunft kann die alte Milieutheorie, wie bereits früher dargelegt wurde, nur teilweise Auskunft geben. Die letzten Gründe des So-oder-anders-fühlens, des So-oder-anders-wertens werden der Wissenschaft ewig unzugänglich sein. Wer auf einer bestimmten Stufe der Bildung angelangt ist, wird unter denjenigen Individuen, die die Tradition ihm als die zu bewundernden vorschreibt, doch eine Auswahl treffen: er wird unter Umständen manche ganz ablehnen, andere dafür um so mehr erheben. Fühlt der Wertende dem Gewerteten sich wesensfremd, so wird die stärkste Ruhmform nur geringen Einfluß auf ihn haben. Hingegen wird Wesensverwandtheit stets einen günstigen Resonanzboden für das traditionelle Urteil abgeben: sie erleichtert die Apperzeption des neu in den Gesichtskreis tretenden Individuums, weil sie es sofort in Beziehung setzt zu bereits vorhandenen Ansichten und Strebungen des Apperzipierenden, in diesem Falle also des Wertenden.

In ganz seltenen Fällen wird das besonders intensiv apperzipierte Individuum nicht einmal aus der Reihe derjenigen ausgewählt werden, denen ein traditioneller Ruhm zukommt, sondern ein bisher gar nicht oder nur wenig gekanntes wird erhoben werden. Wenn DÜHRING Bürger höher einschätzt als Goethe, SHAW Bunyan höher als Shakespeare, MEIER-GRÄFE El Greco höher als Velazquez, wenn ähnliche Fälle paradoxaler »Entdeckungen« sich immer wieder ereignen, so ist das Moment der Wesensverwandtheit nicht ganz zu vergessen, wenn es auch freilich nur einer aus der Reihe der bereits genannten und noch zu nennenden Faktoren ist.

Aber diese letzten Erwägungen können nichts an der vorher festgestellten Tatsache ändern, daß bei allem Werten der Traditionalismus vom größten Einfluß ist. Die Einsicht, daß sich die meisten von uns – d. h. alle bis auf die inventeurs – bei der Persönlichkeitsbewertung in sehr starkem, von Fall zu Fall natürlich verschiedenem Maße nachahmend verhalten, könnte niederdrückend wirken. Aber auch hierzu liegt ein Grund nicht vor. Niedergedrückt kann durch solche Einsicht nur der werden, der die wirkliche Bedeutung des Nachahmungstriebes für die Kulturentwicklung nicht erkannt [239] hat. Wir aber wissen, daß er ein aufbauender, kulturfördernder Trieb ist, daß alles das, was uns unsere Kultur wertvoll erscheinen läßt, – also Sprache, Religion, Recht, Moral, Kunst – ohne ihn kaum gedacht werden kann. Wird die Persönlichkeitsbewertung so eingereiht – und es liegt kein Grund vor, es nicht zu tun, – so wird auch der sie nicht für wertlos halten, der in ihr einen Nachahmungsakt sieht.


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