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7. Kapitel.
Widerspruchsbedürfnis und Mitleid.

In allem Mitleiden, das die Masse mit einem tragischen Menschenschicksal hat, liegt das Bedürfnis, dem unpersönlichen »Geschick« oder der Persönlichkeit, die dieses Geschick hervorgerufen hat, zu widersprechen. Am stärksten ist dieses Gefühl da, wo die Masse allmählich zu dem Bewußtsein kommt, das Unglück selbst mit verschuldet zu haben. Dem Künstler, dem die Mitwelt die Anerkennung versagt und der in Verbitterung oder gar durch Selbstmord gestorben ist – man denke an Grillparzer oder Kleist –, zollt die Nachwelt um so williger Verehrung. Das Gefühl, etwas wieder gutmachen, jener Mitwelt widersprechen zu müssen, transformiert die Erscheinungsform des Individuums, und – noch einmal sei an die Goetheschen Verse erinnert – »aus der Hand der Verzweiflung – Nimmt es den herrlichen Kranz des unverwelklichen Sieges«.

Weniger leicht sichtbar, aber von klarschauenden Historikern stets schon beachtet, liegen die Formen dieses Bedürfnisses da, wo die Masse solchen Faktoren und Umständen, auf die sie selbst keinen Einfluß hat, widersprechen zu müssen glaubt. Das Leid, von dem kein Menschenleben frei ist und das der Betroffene und seine nächste Umgebung zunächst als Verhängnis ansieht und ansehen muß, kann – und nicht einmal in allen Fällen langsam – die Quelle neuen Glückes oder, da hier nur die eine Glücksform betrachtet wird, neuen Ruhmes werden. Freilich wirkt, wie sich bereits gezeigt hat, jedes Unglück auch dadurch ruhmerweiternd, daß es dem Sensationsbedürfnis Nahrung gibt. Und wir werden es zunächst auf dieses weniger edle Bedürfnis zurückführen, wenn etwa die Konfiskation eines Buches die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Buch lenkt und ihm stärkeren Absatz verschafft, als es ohne das Mißgeschick gehabt hätte; denn jenes Aufsehenerregen geht hier vor allem auf die Erwartung [94] irgend einer Sensation zurück, die zur Konfiszierung geführt haben muß.

Aber in den meisten anderen Fällen, in denen ein eminentes Individuum vom Unglück verfolgt wird, tritt dieses Gefühl weit zurück hinter dem altruistischen des Mitleids, hinter dem Bedürfnis der Masse, dem Geschick ein »Nun erst recht« entgegenzurufen. Am 4. August 1908 wird das Luftschiff des Grafen Zeppelin, das soeben eine glänzende Fahrt vollbracht hat, bei Echterdingen durch einen grausamen Zufall zerstört. Bereits am Abend des 3. August sind in Deutschland über 1 300 000 M. zu Erbauung eines neuen Luftschiffes gesammelt, und in wenigen Monaten stehen dem Grafen 6 096 555 M. zur Verfügung. Die Reaktion auf das Unglück erfolgt hier derartig rasch, daß zwischen Ursache und Wirkung nicht der geringste Zweifel bestehen kann. Und die Zahlen beweisen besser als alles andere, in welchem Maße eben jenes Ereignis das Widerspruchsbedürfnis wachgerufen, d. h. also mittelbar ruhmerweiternd gewirkt hat.

Komplizierter sind die Wirkungen jenes Bedürfnisses da, wo der Widerspruch sich nicht gegen ein unpersönliches, plötzlich und womöglich zufällig eintretendes Schicksal richtet, sondern wo das tragische Ereignis durch eine oder durch mehrere bestimmte Persönlichkeiten bedingt ist; denn es ist möglich, daß diese Persönlichkeiten den Widerspruch bereits hervorgerufen haben, bevor sie das Individuum, das ihnen seinen späteren Ruhm verdankt, zu verfolgen beginnen, daß etwa religiöse, politische, ästhetische Zeittendenzen eine Gegnerschaft gegen sie herbeiführen. Aber selbst wenn wir dieses zweite Moment stets in die Rechnung stellen, bleibt noch genug übrig, um die ruhmbildende Macht des Widerspruches allein zu erweisen. Bei kaum einem wird sie klarer als bei dem Menschen, bei dem sich der Wechsel von Macht und Ohnmacht wohl in der erschütterndsten Weise vollzogen hat: bei Napoleon. Mit Bezug auf ihn sagt VARNHAGEN einmal: »Bei den Deutschen bedarf es nur eines auffallenden Unglücks, um ihre menschliche Teilnahme auch für diejenigen zu erwecken, denen sie noch eben feindlich gegenüberstanden.« »Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften«. IX, 133.

[95] Aber die Verbannung nach St. Helena transformiert die Erscheinungsform Napoleons nicht bloß in Deutschland, wenn auch freilich in dem von ihm am stärksten heimgesuchten Lande das Mitleid mit seinem Zustande besonders auffallend ist. Von den französischen Stimmen, die sich in genau demselben Sinne äußern, sei die eines seiner grimmigsten Hasser, CHATEAUBRIANDS, zitiert: »Une autre cause de la popularité de Napoléon tient à l'affliction de ses derniers jours. Après sa mort, à mesure que l'on connut mieux ce qu'il avait souffert à Sainte Hélène, on commença à s'attendrir, on oublia sa tyrannie ... sa renommée nous fut ramenée par son infortune; sa gloire a profité de son malheur« (Mémoires d'Outre-Tombe XI, 41 f).

Aber nicht bloß die Tatsache der Verbannung, auch die unwürdige – oder doch allgemein für unwürdig gehaltene Behandlung auf St. Helena wirkt im stärksten Maße ruhmverbreitend. Schon Chateaubriands Worte deuten darauf hin. TREITSCHKE, den man auch nicht gerade einen Freund Napoleons nennen kann, spricht einmal davon, daß »dieser an den Felsen geschmiedete Prometheus, dem der englische Geier die Weichen zerfleischte, ... ein erschütterndes, die Phantasie des Dichters widerstandslos fortreißendes Bild darbot« (a. a. O. 146). Zu dem Mitleid mit dem Prometheus kommt freilich hier der bereits vorher bestehende, durch die politischen Verhältnisse bedingte Haß gegen den »englischen Geier« hinzu, der namentlich bei den französischen Napoleons-Freunden tief eingewurzelt war. Er ist stets mit zu beachten, wenn man an das gewaltige Aufsehen denkt, das die gegen Hudson Lowe geschleuderten Anklagen eines Warden, Santini, Montholon, Las Cases, O'Meara überall, vor allem in Deutschland und – trotz des Widerstandes der Bourbonen-Regierung – auch in Frankreich erregten. HOLZHAUSEN, a. a. O. 9ff. Aber daß er nur ein Moment von geringer Bedeutung war, daß das Widerspruchsbedürfnis bei der Bildung der Erscheinungsform Napoleons im Vordergrunde stand, wird evident, wenn man sich die heutige Form dieses Bildes vergegenwärtigt. Was die Dichter, vor allem aber die bildenden Künstler – und demzufolge [96] auch die Masse jeden Grades – immer wieder reizt, ist nicht der Napoleon, der sieghaft über das halbe Europa weggestürmt und zu einer fast unirdischen Machtfülle gelangt ist, sondern der, dem der fürchterliche Zufall des russischen Feldzuges sein Heer zerfetzt hat oder der von einem Felsen St. Helenas aus schwermütig auf die Fluten starrt. Es ist so gut wie sicher, daß der Napoleonskultus – zum mindesten der deutsche und englische – sich ohne das tragische Geschick seines Objektes niemals zu seinen heutigen Formen entwickelt hätte.

Ist bei Napoleon immerhin noch ein Zusammenwirken von unpersönlichen und persönlichen feindlichen Mächten zu beachten, so sei als Typus der Individuen, deren Sturz auf rein persönliche Motive zurückgeht, Bismarck genannt. Die Wirkungen, die seine Entlassung gehabt hat, lassen sich heute – dank dem 7 bändigen Werke PENZLERS – genau übersehen. In der Einleitung spricht PENZLER selbst von dem Ergebnis seiner Untersuchungen: »Mit dem Augenblick, in dem der Fürst aus seinem Amte schied, erwachte plötzlich das klare Bewußtsein im Volke, was es an dem Fürsten gehabt hatte und was es nun an ihm verlor. Aus diesem Bewußtsein quollen dann die immer mächtiger anschwellenden Ströme des Dankes und der Verehrung und der Liebe hervor, die bei dem Abschied des Fürsten von Berlin zum erstenmal deutlich zutage traten ... Dankbarkeit ist kein hervorstechender Zug des deutschen Volkscharakters ... Wann und wo hätte sie jedoch ein Staatsmann so erfahren, wie Fürst Bismarck ... Daß er sie aber so erfuhr, war die unmittelbare Folge seiner Entlassung und der ungewollte Erfolg seiner Nachfolger« (JOH. PENZLER, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung, Leipzig 1897-98 I, Vf.).

Es ist selbstverständlich, daß Dankbarkeit und Verehrung sich in den stärksten Formen auch dann geäußert hätten, wenn Bismarck etwa als 80 jähriger aus dem Amt geschieden wäre oder wenn erst der Tod einem Wirken als Kanzler ein Ziel gesetzt hätte. Aber aus dem, was jetzt einsetzt, vor allem aus den immer wiederholten Huldigungsfahrten nach Kissingen und Friedrichsruh, spricht deutlich noch ein anderes Gefühl: das, daß jemandem – und zwar einem Großen – ein Unrecht [97] geschehen ist und daß man dieses Unrecht irgendwie vergessen machen müsse. Am stärksten aber äußert sich dieses Gefühl in den Szenen, die sich bei der Abfahrt Bismarcks aus Berlin, am 30. März 1890, abspielen, die also unmittelbar auf seine Entlassung folgen. Da sich die kollektivpsychischen Wirkungen des Bedürfnisses nach Widerspruch gegen ein tragisches Geschick nur selten mit solcher Deutlichkeit verfolgen lassen, seien die Szenen hier ausführlicher geschildert: »Ein dunkles, dichtes Menschengewühl erfüllte die Wilhelmstraße von den Linden bis zum Wilhelmsplatz. Hier bemerkte man viele Damen in schwarzer Kleidung, mit Blumenbouquets und Kränzen in den Händen. Zahlreiche Schutzleute zu Fuß und zu Pferde hatten den Bürgersteig und die Straßen vor dem Reichskanzlerpalais frei gehalten: gleichwohl gelang es mit Blumenspenden beladenen Damen und Herren, die Schutzmannskette zu durchbrechen und vor dem Gittertor des Palais Aufstellung zu nehmen. Schweigend und in tiefer Bewegung harrten die Tausende des Moments der Abfahrt« ... Der Fürst erscheint im Wagen. »Schon hatten die brausenden Hurrahs und Hochrufe eingesetzt, Tücher wurden geschwenkt, und ein wahrer Regen von Blumen und Kränzen flog in den offenen Wagen hinein. Eine unbeschreibliche Begeisterung war in die Menschenmassen beim Anblick des scheidenden Kanzlers gekommen; die Menge warf sich dem Wagen entgegen, stürzte zu beiden Seiten vor und brachte die Pferde zum Stehen ... Ein nachdrängender unendlicher Menschenstrom wälzte sich immer anschwellend und alles mit sich ziehend, dicht hinter dem Wagen des Fürsten einher, so daß die anderen Wagen bald weit von dem Wagen des Fürsten getrennt waren.« Auf dem Bahnhof: »Neben den Damen der Aristokratie, die meistens in tiefe Trauer gehüllt waren, hatten sich zahlreiche Frauen aus dem Handwerkerstand und aus den arbeitenden Klassen eingefunden. Noch bunter zusammengesetzt war womöglich das Männerpublikum: Generäle in goldstrotzender Uniform, Offiziere der Gardetruppe und der Linie. Zu ihnen gesellten sich Parlamentarier, bekannte Rechtsanwälte, Ärzte, Studenten, Kaufleute, Handwerker, Arbeiter, jeder Stand schien vertreten« ... »Als der Fürst auf dem Lehrter Bahnhofe anlangte, stürzte sich von allen Seiten die Menge unter [98] Hochrufen an den Wagen. Schutzleute, welche zur Absperrung des Bahnhofs aufgeboten waren, konnten oder wollten diesen Sturmlauf nicht hemmen; halb stieg der Fürst aus dem Wagen, halb wurde er hinausgehoben und hinter ihm her stürzte die Menge auf den Bahnsteig« usw. (PENZLER I, 3ff.).

Es handelt sich auch hier, worauf immer wieder hinzuweisen ist, um den Ausfluß eines ganzen Komplexes psychischer Regungen: zu dem natürlich vorherrschenden Gefühl der offenbaren Eminenz des Individuums kommt das andere, vor einer Sensation zu stehen, die diesmal in der plötzlichen Entlassung eines verdienten Mannes liegt, und endlich als drittes, daß diesem Manne Mitleid gebührt und den Urhebern seines Geschickes in irgend einer Weise widersprochen werden müsse. Stark zurück hinter diesen Regungen tritt wiederum eine vielleicht politische Gegnerschaft gegen diese Urheber, die bereits vorher vorhanden war und das neue Ereignis nur als willkommenen Anlaß benutzt, um jene Gegnerschaft zu bekunden.


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