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5. Kapitel.
Das Gemeinschaftsgefühl.

Die hier zu erwähnenden Tatsachen sind mit dem Verehrungsbedürfnis nahe verwandt, ja fließen z. T. völlig dahin über. Ruhmzeugend und ruhmerweiternd wirkt das Gefühl der räumlichen und weiterhin auch der zeitlichen Nähe, also das Gefühl, mit einem Individuum durch familiäre, soziale oder nationale Beziehungen zusammenzugehören. Je näher wir am [75] Fuße des Turmes stehen, desto höher scheint er uns zu sein und desto schwerer wird es uns, seine Höhe mit der anderer Türme zu vergleichen.

Zu diesem äußerlichen Moment kommt nun, falls ein Individuum das abzuschätzende Objekt ist, noch ein psychisches hinzu, das sich am besten mit einigen Worten TARDES kennzeichnen läßt: »L'admiration est un plaisir, c'est-à-dire un acceroissement de foi en soi-même quand son objet peut étre précédé du pronom possessif ›mon‹ ou ›mien‹; dans ce cas, elle est l'extension du ›moi‹ obsceur à quelque moi glorieux qu'il s'approprie; elle est l'effacement des limites du ›moi‹« (Logique sociale, Paris 1895, 116).

Gewisse Vorstadien des Ruhmes erzeugt bereits das Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Familie hervorruft. Die Mutter sieht – in einem menschlich sehr leicht begreiflichen Stolze – in ihrem Kinde fast stets etwas Größeres als es in Wirklichkeit ist. Natürliche psychische Regungen werden als Äußerungen eines Talentes begrüßt, kleine Erfolge anderen gegenüber, ohne daß man sich dessen bewußt wird, ins Große gezerrt. So ist die viel verspottete »Verblendung« von Müttern oder sonstigen Angehörigen nur der natürliche Ausfluß des Zusammengehörigkeitsgefühls.

Die soziale Gruppe, zu der das Individuum gehört, wirkt schon deshalb in noch viel stärkerem Maße ruhmbildend, weil das Fehlen der Familienbeziehungen beim Skeptiker eher ein gewisses Mißtrauen beseitigt. Bereits die Betrachtung des sogenannten »verkannten Genies« hat ergeben, daß zuweilen bestimmte Individuen einer Gruppe, der sie angehören, als besonders eminent erscheinen, daß aber entweder die Macht der Gruppe nicht groß genug ist, um deren Meinung zur allgemeinen zu machen, oder daß gewisse, von Fall zu Fall verschiedene Faktoren der Ausbreitung dieser Meinung im Wege stehen. Das Primäre, Richtunggebende ist aber auch hier die persönliche Berührung. Es wäre höchstens zu bedenken, daß durch die persönliche Berührung eine neue Art der Eminenz wirksam werden kann, die aus der Ferne, wo ja das Werk allein, d. h. gelöst von seinem Schöpfer, wirkt, nicht spürbar ist: die im Schöpfer liegende ethische Eminenz. Aber der alte Glaube, daß, wer ein hervorragendes Werk geschaffen [76] hat, auch eine ethisch hervorragende Persönlichkeit sein müsse, ist längst erschüttert: man weiß, daß künstlerische, geistige, Tateminenz ohne ethische sehr wohl denkbar ist. Auch kommt es hier vor allem darauf an, daß durch die persönliche Berührung das Urteil über das Werk, nicht so sehr das über die Persönlichkeit im günstigen Sinne verändert wird.

Das zeigt sich bereits im Verhältnis des Schülers zum Lehrer. Wer noch unmittelbarer Schüler Rankes oder Mommsens oder Scherers ist, dem werden diese Persönlichkeiten Jahrzehnte nach ihrem Tode allmählich zu beinah mythischen Gestalten, und zwar eben deshalb, weil er persönliche Beziehungen zu ihnen hatte. Jedenfalls handelt es sich um eine ganz andersartige Transformierung des Individuums, als sie bei dem stattfindet, der die Persönlichkeiten nur durch die sei es mündliche, sei es schriftliche – Tradition kennen gelernt hat. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit wird durch das Verehrungsbedürfnis verstärkt; dazu kommt der Stolz, zu einer eminenten Persönlichkeit in einer, wenn auch nur losen Beziehung zu stehen oder gestanden zu haben. Selbst Ranke wird befangen, wo er über ein Individuum zu urteilen hat‚ zu dem er in persönlichen Beziehungen steht. Trotzdem er aus geschichtskritischen Gründen eine starke Abneigung gegen alles eigentlich Biographische hat, wird er doch zum fast reinen Biographen in der Herausgabe der Briefe Friedrich Wilhelms IV. an Bunsen. »Der historische Kommentar, durch den er diese Briefe zu einem Ganzen verknüpft, trägt den entschiedensten biographischen Charakter. Hier kam alles zusammen, um den großen Historiker wider Willen zum liebevollen Lebensbeschreiber zu machen; wider Willen, denn er dachte damit vielmehr eine unparteiische geschichtliche Würdigung seines Helden zu begründen, was ihm nicht gelungen ist. Ranke war zugleich der bewundernde persönliche Freund dieses Königs gewesen, in dieser Seele las er mit innerer Übung. So hat er ihn denn aus voller Überzeugung in seinem Eigenwesen und Eigenwillen gegen die objektiven Mächte der Zeit in Schutz genommen und damit das am wenigsten klassische, aber das persönlich am wärmsten empfundene seiner Werke geschaffen« (DOVE, Biographische Blätter I, 14).

Besonders deutlich wird die ruhmbildende Macht des Zusammengehörigkeitsgefühls bei der künstlerischen Gemeinschaft, bei der Sekte, der politischen Partei usw. Das Objekt wird hier noch schneller und stärker transformiert, weil das Subjekt seinen Verehrungstrieb weniger zügeln kann und auch [77] will als der Wissenschaftler. Man denke etwa an die übermenschlichen Formen, zu denen im Kreise der »Bayreuther Blätter« die Gestalt Richard Wagners, in dem der »Blätter für die Kunst« die Gestalt Stefan Georges, bei den Anhängern der Heilsarmee die des Generals Booth, bei den Zionisten die Theodor Herzls, bei den Sozialdemokraten die Bebels aufgewachsen ist. Nicht einmal eine unmittelbare Berührung mit dem zu verehrenden Individuum ist nötig. Schon wer einen Freund hat, der zu Stefan George persönliche Beziehungen unterhält und viel von ihm spricht, steht dem Individuum George befangener gegenüber als der, der seine Werke ohne einen Vermittler auf sich wirken läßt. Das Band der Zusammengehörigkeit knüpft also auch da die Glieder einer Gruppe fest aneinander, wo es unsichtbar bleibt.

In dem Maße, in dem die Masse derer wächst, auf welche das Individuum wirkt, und in dem sie zu selbständigem Urteil unfähiger wird, wächst natürlich die ruhmbildende Macht des Zusammengehörigkeitsgefühls. Der Wunderarzt, der durch seine Berührung, ja schon durch sein Ansehen heilt, lockt Tausende heran, wenn auch meist nur in der Gegend, in der er sich aufhält; der Demagoge reißt – ebenfalls nur durch das unmittelbar wirkende Wort – die Masse mit sich hin und erscheint ihr alsbald in einem Glanze, der dem Fernstehenden unbegreiflich ist. Die Umwandlung der Erscheinungsformen kommt hier also immer nur deshalb zustande, weil zwischen der transformierenden Masse und dem transformierten Individuum gewisse Berührungen stattfinden. Das Verehrungsbedürfnis steht erst in zweiter Reihe.

In erster Reihe steht es wiederum da, wo die Zusammengehörigkeit nicht mehr sozialer Natur ist, sondern sich auf viel weitere Kreise erstreckt und daher national genannt werden muß. Ist vorher schon der Stolz als Motiv erkannt worden, so drängt er sich hier immer mehr in den Vordergrund und wird schließlich zur Eitelkeit. Die Bürger einer Stadt wollen unter ihren Mitbürgern, die eines Staates unter ihren Landsleuten ein besonders eminentes Individuum haben, das der Heimat etwas von seinem Glanze abgibt. An die alte Erzählung von den sieben oder vielmehr elf Städten, die sich darum stritten, Homers Geburtsort zu sein, braucht hier nur [78] nebenher erinnert zu werden. Deutlicher bekundet sich der Trieb, wenn etwa in Athen, auf Veranlassung des Kimon, Theseus zum Nationalheros erhoben wird und man daraufhin seine angeblichen Gebeine aus Skyros dahin schafft (vgl. Chantepie a. a. O. II, 315).

Derartige Translationen von Leichen oder auch nur von Reliquien finden sich im mittelalterlichen Heiligenkult besonders häufig. Da, wo die unmittelbare Berührung mit dem hervorragenden Individuum nicht besteht, wird sie künstlich geschaffen, um dem Zusammengehörigkeitsgefühl entgegenzukommen und das Verehrungsbedürfnis zu befriedigen. In der italienischen Renaissance wächst die ruhmbildende Macht des Nationalstolzes immer mehr an. »Es wurde Ehrensache für die Städte, die Gebeine eigner und fremder Celebritäten zu besitzen, und man erstaunt zu sehen, wie ernstlich die Florentiner schon im 14. Jahrh. ... ihren Dom zum Pantheon zu erheben strebten. Accorso, Dante, Petrarca, Boccaccio und der Jurist Zanobi della Strada sollten dort Prachtgräber erhalten. Noch spät im 15. Jahrh. verwandte sich Lorenzo Magnifico in Person bei den Spoletinern, daß sie ihm die Leiche des Malers Fra Filippo Lippi für den Dom abtreten möchten, und erhielt die Antwort: sie hätten überhaupt keinen Überfluß an Zierden, besonders nicht an berühmten Leuten, weshalb er sie verschonen möge.« BURCKHARDT, Kult. d. Ren. I, 157. Aber auch ihrer Mitbürger aus dem Altertum beginnen die italienischen Städte sich allmählich zu erinnern: Neapel pocht auf Vergil, Padua auf Antenor und Titus Livius, Parma auf Cassius, Mantua ebenfalls auf Vergil, Como auf die beiden Plinius, von denen der ältere aber auch von Verona in Anspruch genommen wird, usw. (a. a. O. I, 158).

Doch nicht bloß für einzelne Individuen, auch für ganze Gruppen, sofern sie durch das Band der sozialen oder nationalen Gemeinschaft zusammengehalten werden, wirkt übermäßiger Lokalpatriotismus ruhmbildend, zuweilen sogar geradezu geschichtsfälschend. So entsteht in Pforzheim die Sage von dem dortigen Bürgermeister Deimling und den 400 Pforzheimern, die durch ihren Heldentod einen ungünstigen Ausgang der [79] Schlacht bei Wimpfen, 1622, vermieden haben sollen. Die Sage ist als völlig unhaltbar erwiesen, ihre Entstehung auf ein »seltsames Gemisch von Familieneitelkeit und Lokalpatriotismus« zurückgeführt worden (BERNHEIM a. a. O., 350ff.). Ähnlich, wenn auch nicht auf gar so unsicherer Grundlage stehend, ist die von Weinsberg ausgehende Erzählung von den treuen Weibern zu Weinsberg, die mit geringen Veränderungen auch von den verschiedensten Städten in Frankreich, Italien und der Schweiz erzählt wird, also zu den sogenannten Wandersagen gehört (BERNHEIM, 352ff.). Überhaupt werden gern »die hervorragenden Züge einer fremden Heldenfigur auf die einheimische« übertragen, »ein Moment, das namentlich bei Legenden eine Rolle spielt und sich in der Wiederholung derselben Wundergeschichten eigentümlich dokumentiert«. Wenn Bernheim diese Erscheinung auf »eine gewisse Eifersucht und Ruhmliebe« zurückführt (499), so erkennen wir hierin nichts anderes als wiederum die ruhmbildende Macht des Zusammengehörigkeitsgefühls, das dem zugrundeliegenden Verehrungsbedürfnis neue Nahrung gibt.

Sie zeigt sich auch in der neuesten Zeit. Der Stolz, in bestimmten Individuen Stammesangehörige zu sehen, zu ihnen also in Beziehungen zu stehen, transformiert ihre Erscheinungsform auch in einer Epoche, die die Fähigkeit zu historischer Kritik bereits besitzt. NIETZSCHE sagt einmal mit bitterer Übertreibung, aber doch nicht ganz ohne Grund: »Goethe ist für die Meisten nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst.« Solche Fanfaren werden überall, auch jenseits der deutschen Grenze, geblasen, aber es sind doch zugleich Fanfaren der Freude und der Dankbarkeit, aus denen der Hellhörige jederzeit das »Denn er war unser« heraushört. Das Verehrungsbedürfnis treibt dazu, nach eminenten Söhnen der Stadt oder des Landes öffentliche Anstalten, Straßen und Plätze, Städte, ja ganze Länder zu benennen. Neben zahlreichen Bismarckschulen und noch zahlreicheren Bismarckstraßen gibt es auch einen Bismarckarchipel, ein Kaiser-Wilhelm- und ein Franz-Joseph-Land, Städte wie Washington, Petersburg, Konstantinopel und zahllose andere geographische Bezeichnungen von Flüssen, Bergen, Seen usw. Diese Benennung von Dingen [80] nach Individuen ist nicht nur ein Ausfluß des Zusammengehörigkeitsgefühles, sondern wirkt auch selber bereits in gewissem Sinne ruhmverstärkend. Und zwar entsteht hier nicht immer bloß die bereits erwähnte primitive Form des reinen Namenruhmes. Namentlich bei Straßenbenennungen breitet sich immer mehr die Sitte aus, zum Namen des zu verehrenden Individuums noch eine kurze Erklärung hinzuzufügen.Denn es genügt der verehrenden Körperschaft nicht, dem Heroen eine rein äußerliche Unsterblichkeit bereitet zu haben.

Die Gefahr des bloßen Namenruhmes ist bei einer anderen Verehrungsform, die im Zusammengehörigkeitsgefühl ihren Ursprung hat, in wesentlich geringerem Maße vorhanden: bei der Errichtung von Denkmälern. Schon das Durchschnittsindividuum erhält seinen Grabstein, auf dem Namen, Lebenszeit, Beruf, meist auch einige Eigenschaften verzeichnet sind, und zwar auf einem Material, das noch nach Jahrhunderten standhalten soll. Auf dieser niedersten Stufe, auf der allein das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl ruhmbildend wirkt, findet sich eine bildliche Wiedergabe der menschlichen Form nur selten. Sie ist die Regel da, wo das Individuum in höherem Grade eminent scheint, einen weiteren Wirkungskreis gehabt hat und wo demgemäß eine größere, zuweilen eine ganze Volksgemeinschaft durch das Verehrungsbedürfnis veranlaßt wird, das Denkmal zu errichten. Da für das Standbild stets eine besonders exponierte, der Masse leicht zugängliche Stelle ausgesucht wird, läßt sich ein machtvolleres Mittel, die Erinnerung an das Individuum lebendig zu erhalten, kaum denken. Man vergegenwärtige sich nun, in welchem Maße ein solches Denkmal die Erscheinungsform transformieren muß, etwa beim Kinde, das täglich daran vorübergeht, oder bei dem Fremden, den der Reiseführer darauf aufmerksam macht. Das Gefühl, vor einem unvergleichlichen, von der Kritik nicht erreichbaren Menschen zu stehen, ist im Betrachter des Denkmals umso stärker, als er sich nicht bewußt wird, daß in jeder Gemeinschaft a priori psychische Veranlagungen vorhanden sind, die zur Errichtung von Denkmälern führen und stets nach einem Objekt suchen, an dem sie sich betätigen können. Kleinlichere Motive – wie etwa persönliche Eitelkeit, z. B. Hoffnung auf Orden, oder der Wille die Stadt zu [81] schmücken – kommen neben dem reinen Wunsche zu verehren, zur Nacheiferung anzufeuern, naturgemäß nur wenig in Betracht.

Die Erinnerung an eminente Individuen wird von der nationalen Gemeinschaft ferner durch Museen wachgehalten, die diesen Individuen gewidmet und Stätten des bereits erwähnten Reliquienkultes geworden sind. Sehen wir von den Größten ab – Goethe allein hat 4 Museen darunter eins in Budapest; wir sehen, daß auf der höchsten Stufe des Ruhmes – was ja auch bei Denkmälern zuweilen zu beobachten ist – das Gemeinschaftsgefühl transnational wird: die ganze Menschheit nimmt daran teil. –, so gibt es in Deutschland 43 solcher »Personalmuseen«, wobei einzelne Zimmer, die die Erinnerung an eminente Tote wachhalten sollen, nicht mitgezählt sind. Eine Zusammenstellung in EMIL PESCHELS Aufsatz »Personal-Museen« (Museumskunde, 1912, Bd. 8, 152ff.). Schon die verhältnismäßig seltene Anwendung dieser Verehrungsform ergibt, daß sie da, wo sie besteht, in noch ganz anderem Maße ruhmverstärkend wirken muß als etwa ein Denkmal. Und wiederum wird die große Ungerechtigkeit evident, die bei der Genesis so manchen Ruhmes wirksam ist, wenn wir uns die Namen der nicht mehr als 43 eminenten Deutschen ansehen, denen Personalmuseen gewidmet sind. Es finden sich darunter Gellert, Klaus Groth, August Wilhelmy, Friederike Brion, Charlotte Buff, Gabelsberger, Fritz Reuter – sogar mit 2 Museen – und auch zwei Lebende: Gerhart Hauptmann und Zeppelin. In den meisten Fällen geht die Gründung dieser Museen auf einen einzelnen Verehrer zurück, dessen Betriebsamkeit es allmählich gelingt, die ganze Stadt für seinen Helden zu interessieren und die private Veranstaltung zu einer öffentlichen zu machen. Ist das Werk vollendet, so ist eine Erinnerung an seine Genesis in den meisten Fällen unmöglich, und als notwendige Folge ergibt sich auch hier die langsame, aber sichere Transformierung der Erscheinungsformen.

Das lebende wie das tote Individuum hat – in gewissen Zeitabschnitten – immer wieder Gelegenheit, sich der Gemeinschaft, in der es lebt oder gelebt hat, ins Gedächtnis zurückzurufen. Es feiert einen 60. oder 70. Geburtstag, die [82] Nachwelt erinnert sich des 100. Geburts- oder Todestages oder begeht das Zentenar einer bedeutsamen Tat. Man hört es oft genug, daß wir in einer »jubiläumsfreudigen« Zeit leben. Selbstverständlich ist diese Jubiläumsfreude nichts anderes als ein Ausfluß des durch das Gemeinschaftsgefühl verstärkten Verehrungsbedürfnisses und wirkt ihrerseits ruhmverbreitend, zuweilen sogar erst ruhmzeugend, weil sie oft die halbeingeschlafene Erinnerung an das Individuum oder sein Werk wieder erweckt und bei der Erweckung verstärkt. Bereits bei der Besprechung des Todes wurde darauf hingewiesen, daß er z. T. auch deshalb ruhmverbreitend wirkt, weil er – als aktuelles Ereignis – für die Zeitung ein willkommenes Objekt ist und danach auf die Masse erregend wirkt. Diese Aktualität ist beim Jubiläum in verstärktem Maße vorhanden. Von der Presse wird jedes nur irgendwie eminente Individuum der Vergessenheit entrissen, sobald der Abschluß eines Dezenniums oder gar eines Säkulums, also ein rein zufälliges Ereignis, zu konstatieren ist.

Daß sich die Erscheinungsform des Individuums kurz vor, besonders aber nach dem Jubiläum verändert, und zwar in günstigem Sinne verändert, wird von den Historikern des Nachlebens nicht verkannt. Über Friedrich d. Gr. berichtet WIEGAND »Friedrich d. Gr. im Urteil der Nachwelt«. Straßburg 1888., daß nach 1806 und in der ganzen Periode der Romantik die Zeitstimmung ihm aus den verschiedensten Gründen ungünstig ist, daß aber am Ende der 30er Jahre die Schätzung plötzlich wieder zu wachsen beginnt. Von den zwei Gründen, die dafür angeführt werden, ist der eine – der andere wird uns später noch beschäftigen – »ein Faktor von akzidenteller Bedeutung: das Jubiläum von Friedrichs Thronbesteigung« (1840, vgl. a. a. O. 13). Ganz ähnliches hören wir von Johann Sebastian Bach: »Der Name des alten Bach blieb zwar mit Staunen und Verehrung genannt, aber seine Werke waren zum größten und besten Teil verschollen ... Da kam das hundertjährige Jubiläum der Matthäus-Passion und die Wiedererweckung derselben durch die Aufführung Mendelssohns in Berlin (12. März 1829). Sinn und Verständnis von Bachs großen Kirchenwerken begann sich neu zu beleben, [83] bis die 100 jährige Feier von des Meisters Todestag 1850 das vollständige Wiedererstehen von Bachs Gesamtwerken zur Tat reifte« (vgl. RIEHL, Allg. Deutsche Biogr. I, 742). Bei Schiller ist die ruhmverstärkende Macht von Jubiläen noch deutlicher erkennbar. Dabei sei hier in erster Reihe nicht an das Jubiläum von 1859 gedacht, das zum großen Teil durch politische Verhältnisse zu der machtvollen Kundgebung wurde und daher in dem Kapitel über die »Zeittendenzen« zu erwähnen sein wird. Aber bei der Feier des Jahres 1903 kommen politische Strömungen nicht mehr in Betracht. Die Gestalt Schillers wächst durch das Jubiläum plötzlich so sehr ins Riesenhafte auf, daß ALBERT LUDWIG sich zu der Frage veranlaßt sieht: »Wo ... waren alle die geblieben, die 1 oder 2 Jahrzehnte früher den Dichter zu den Toten werfen und ihm nicht einmal die Kränze historischen Ruhmes gönnen wollten?« (a. a. O. 1). Die Antwort auf diese Frage ist, daß sie unter der Macht des wiederum durch das Gemeinschaftsgefühl verstärkten Verehrungsbedürfnisses standen und daher entweder ihre Meinung nicht kundzugeben wagten oder wirklich innerlich umgestimmt wurden. LUDWIG freilich glaubt es nicht so recht, daß »die Veranlassung zu den vielfältig geplanten Veranstaltungen nur das kalendermäßige Datum, nicht auch ein inneres Bedürfnis war« (635). Nun lag gewiß ein solches »inneres Bedürfnis« vor. Aber nicht oft genug kann hervorgehoben werden, daß es vor allem auf das Subjekt der Betrachtung, die Masse, zurückging, daß das Objekt – hier also Schiller – darin nur sekundärer Faktor war. Wie sehr Schiller bei all den Feiern nur Vorwand war, geht schon aus der Heterogenität der Milieus hervor, in denen sie stattfanden. Wir hören etwa, daß ein Guttemplerverein Schiller als den Verkünder seiner Prinzipien feiert und daß gleichzeitig in den Fachblättern der Gast- und Schankwirte ein Huldigungsgedicht auf ihn steht, daß die Katholischen »Stimmen aus Maria-Laach« ihn ebenso verherrlichen wie der evangelische »Reichsbote«, daß Schiller vom »Bund deutscher Bodenreformer« als begeisterter Verfechter seiner Ziele und von der Sozialdemokratie als »Prophet des ökonomisch-politischen Befreiungskampfes« hingestellt wird (LUDWIG 635ff.). Jedesmal sucht, wie wir sehen, die feiernde soziale Gruppe das gefeierte Individuum erst für ihre besonderen [84] Zwecke umzugestalten: sie handelt also nur in ihrem eignen Interesse, wenn sie – ebenso wie bei den anderen Bekundungen des Gemeinschaftsgefühls – Beziehungen zwischen sich und einer anerkannten Größe herstellt. An sich ist es ja – wenn auch freilich nur mit einiger Anstrengung – denkbar, daß das Lebenswerk irgend eines Individuums so umfassend ist, daß es so verschiedenartigen, z. T. sich feindlich gegenüberstehenden Gruppen wie den oben genannten etwas geben kann. Da aber ein derartig allgemeines Erinnern regelmäßig erst bei Gelegenheit eines Jubiläums eintritt, liegt der Schluß sehr nahe, daß nicht die Eminenz des Individuums die Feier, sondern die aus anderen Gründen und von anderen Gruppen aus erfolgende Feier den Glauben an die Eminenz des Individuums zu Folge hat.

In ihren Ursachen und ihren Wirkungen den Jubiläen, vor allem aber den Denkmälern ähnlich sind zwei Faktoren, die bereits kurz genannt worden sind: die Panthea und die großen nationalen biographischen Lexika. Namentlich die letzteren sind Sammelbecken alten, zugleich aber auch Quellen neuen Ruhmes, geschaffen von dem Verehrungsbedürfnis eines Volkes, das seinen großen Söhnen seine Dankbarkeit beweisen will. – Die »Allgemeine Deutsche Biographie«, WURZBACHS »Biogr. Lexikon des Kaisertums Österreich«, das englische »Dictionary of national Biography«, APPLETONS »Cyclopaedia of American Biography«, die »Biographie Nationale publiée par l'Académie royale de Belgique« u. a. m. betonen in ihren Vorreden immer wieder diesen schon durch die Sache gegebenen nationalen Standpunkt. Das Gemeinschaftsgefühl, das sich hier über ein ganzes Volk und über seine Ausläufer erstreckt, schafft sich so das umfassendste Mittel der Ruhmpropagierung. Ist der Zweck dieser Biographiensammlungen zunächst auch ein rein wissenschaftlicher, so zeigt doch schon die in den meisten Fällen zu beobachtende Unterstützung durch den Staat, daß gewichtige nationale, aus dem Stolz und der Dankbarkeit hervorgehende Faktoren dabei mitsprechen.

Auf den viel zitierten Spruch des Matthäus-Evangeliumus: »der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande« fällt ein eigenartiges Licht, wenn wir die angeführten Bekundungen des familiären, sozialen und nationalen Gemeinschaftsgefühles noch [85] einmal überschauen. Wieviel er in seinem Vaterland gilt und wieviel er gerade deshalb dort gilt, weil er ein Sohn eben dieses Vaterlandes ist, ist klar und ist im Grunde immer klar gewesen. Und doch hat jener Satz, wie sich im folgenden zeigen wird, in gewissem Sinne recht. Der Prophet gilt viel gerade außerhalb seines Vaterlandes. Es wird sich wieder einmal eine Bestätigung des Gesetzes ergeben, das man das von der Koinzidenz der konträren Faktoren nennen könnte: jede Tendenz des psychischen Lebens hat ihre Ergänzung in der ihr entgegengesetzten, und beide bringen oft die gleiche Wirkung nach außen hervor, in unserem Falle also die Ruhmerweiterung.


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