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10. Kapitel.
Die Beziehungen zu vorher berühmten Menschen und Werken.

Friederike Brion, dem holden Mädchen, das in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts ein wundersames Liebeserlebnis hatte, ist in ihrem Heimatsdorfe Sesenheim ein Museum errichtet worden. Der Deutsche, wenn er von Goethe nur wenig weiß, weiß von ihr, und die Germanistik hat sie sogar zum Gegenstand eingehender Forschung gemacht. Sie ist nicht die einzige Geliebte Goethes, der es so gegangen ist: Charlotte Buff und Kätchen Schönkopf, Frau von Stein und Christiane Vulpius und manche andere fehlen in keiner deutschen Literaturgeschichte, und man kennt nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Schicksale. Ja sie sind allmählich für sich selbst so merkwürdig geworden, daß man sich nicht nur für ihre Beziehungen zu dem einen großen Individuum, sondern auch für ihre früheren und späteren Lebensschicksale interessiert. Und ähnlich ist es, um nur noch wenige Namen zu nennen, der Pompadour als der Geliebten Ludwig XV, Josephine als der Geliebten Napoleons, Therese Brunsvik als der »unsterblichen Geliebten« Beethovens gegangen. Wir haben es hier zweifellos mit reinsten Ruhmformen zu tun. Da es sich bei den Geliebten fast regelmäßig um nichteminente Berühmtheiten handelt, liegen die Fälle vollständig klar: der Ruhm geht hier auf die – wiederum zufälligen – Beziehungen zu einem Individuum zurück, das bereits vorher berühmt gewesen ist. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei Hudson Lowe oder Eckermann. Wäre der eine nicht der Kerkermeister Napoleons, der andere nicht der Gesprächgenosse Goethes gewesen, so hätte niemand etwas von ihnen erfahren: der Glanz, der auf der einen Persönlichkeit ruht, bestrahlt auch die‚ die sich in ihrer Nähe befinden.

Aber die ruhmzeugende oder -erweiternde Macht der persönlichen Beziehungen ist nicht auf die nichteminenten Individuen beschränkt. Auch das später als eminent erkannte kommt ohne sie in den seltensten Fällen aus. So haben die nahen Beziehungen, die zwischen Schiller und Goethe bestanden, die Erscheinungsform eines jeden von ihnen stark beeinflußt, [124] und zwar hing die Richtung der jeweiligen Beeinflussung davon ab, ob in den verschiedenen Epochen ihres Nachlebens der eine oder der andere in günstigerem Lichte erschien. Heute ist es allgemeiner Brauch, die beiden nebeneinander zu nennen – die verbreitete Bezeichnung »Dioskuren« beweist das am besten –, aber zu gleicher Zeit steht Goethe doch für die meisten so hoch über Schiller, daß man, ohne Widerspruch zu fürchten, behaupten kann, Schiller gewinne durch die stetige Zusammennennung, er werde dadurch auf ein Niveau gehoben, auf dem er sonst nicht stehen würde. Doch dem war nicht immer so. Als im Jahre 1857 in Weimar das Rietschelsche Doppeldenkmal errichtet wurde, »widerfuhr für das allgemeine Empfinden dabei Goethe die größere Ehre« (LUDWIG 390). Warum das so sein mußte, ergibt sich aus den im vorhergehenden Kapitel angeführten Tatsachen fast von selbst; denn gerade in jener Zeit stand Schiller auf der Höhe seines Ruhmes, während »schon einiger Mut dazu gehörte, sich zur Goethegemeinde zu bekennen« (ibid.). Gehen wir aber noch weiter, in die Periode der Romantik, zurück, so wirken die persönlichen Beziehungen zwischen beiden wieder in umgekehrter Richtung ruhmverstärkend: Schiller ist der gewinnende Teil. Seit dem Auftreten der Romantiker nämlich wächst das Goethesche Bild zu beinah übermenschlichen Formen an, während Schiller – z. T. aus ästhetischen, z. T. aus kleinlichen persönlichen Gründen – fast despektierlich behandelt wird. Da aber wird der Allgemeinheit offenbar, in wie nahen Beziehungen die beiden gestanden haben. Goethe veröffentlicht den »Epilog zur Glocke«, die Terzinen »Bei Betrachtung von Schillers Schädel« (1829), vor allem aber als großartigstes Denkmal der Freundschaft den Briefwechsel mit dem jüngeren Genossen (1828-30). Und auch in den Gesprächen mit Eckermann, die 1837 erschienen, finden sich oft die allerherzlichsten Bemerkungen über Schiller. So wird die Verschiebung des Werturteils zugunsten Schillers, die in der Epoche des Liberalismus vollendet werden sollte, schon jetzt machtvoll begonnen. Unter den Gründen für diese Verschiebung führt auch LUDWIG »die Veröffentlichungen aus dem einstigen Weimarer Freundeskreise« an (a. a. O. 148). Aber die Beziehungen zu Goethe sind [125] es nicht allein, die in jener Zeit für Schiller ruhmverstärkend wirken. Im Jahre 1831 erscheint – als Einleitung zu dem Briefwechsel zwischen beiden – Wilhelm von Humboldts »Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung«. Die Bedeutung dieser Publikation wird klar, wenn man bedenkt, welche Macht damals der Name Wilhelm von Humboldt war: man bewunderte in ihm nicht nur den großen Gelehrten, sondern auch – damals sogar vor allem den Staatsmann, den Schöpfer der Universität Berlin, den Begründer des Neuhumanismus.

Ähnliche Fälle ereignen sich, besonders in der Geschichte der Erscheinungsform künstlerischer Eminenzen, immer wieder. Der junge Richard Wagner findet seinen Ruhmpropagator in Liszt, der bereits als Weltwunder gefeiert wird, als Wagner erst im engsten Kreise gekannt ist Die nahen Beziehungen, die Liszt in späteren Jahren zu Wagner hatte, sind bekannt. Hier sei nur als eins der frühsten Zeugnisse eine Briefstelle Wagners aus dem Jahre 1844 mitgeteilt: »Aus aller Welt Enden, wohin Liszt im Laufe seiner Virtuosenzüge gelangt war, erhielt ich bald durch diese, bald durch jene Person Zeugnisse von dem rastlosen Eifer Liszts, seine Freude, die er von meiner Musik empfunden, anderen mitzuteilen, und so, ohne alle Absicht, Propaganda für mich zu machen.« v. GLASENAPP, Das Leben Richard Wagners. Leipzig 1906, II, 62., und noch mehr vielleicht in Ludwig II, der als König natürlich von noch größerem Einfluß sein mußte. Schließlich gehört jede Art von Mäzenatentum in den Kreis dieser Betrachtungen. Namentlich für die ersten Erscheinungsformen jedes Individuums sind solche persönlichen Beziehungen von der größten Bedeutung. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß ein eminentes Individuum gewöhnlich nur dann für ein noch nicht anerkanntes eintreten wird, wenn dieses wirklich eminent ist, daß also Goethe und Wilhelm von Humboldt nicht für Schiller, Liszt nicht für Wagner bewußt ruhmverstärkend gewirkt hätten, wenn beide, Schiller und Wagner, nicht eminente Individuen gewesen wären. Aber dem Plane unserer Untersuchung gemäß wird an der Eminenz des Individuums auch hier nicht gezweifelt. Es gilt nur festzustellen, daß ohne die persönlichen Beziehungen das Durchdringen der beiden Individuen im besten Falle sehr [126] viel langsamer erfolgt wäre. Das Phänomen des sog. »verkannten Genies« kommt oft nur durch das Fehlen der Beziehungen zustande. In wie vielen Fällen aber selbst die erlesensten Geister sich in ihrem Urteil täuschen, in wie vielen anderen persönliche Beziehungen durch reine Zufälligkeiten – wie Nahebeieinanderwohnen – verursacht sind, braucht hier nicht hervorgehoben zu werden. So wäre auch die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller nicht so herzlich geworden, wie sie wurde, wenn beide nicht jahrelang in einer Stadt gelebt hätten.

Das junge Individuum, das durchdringen will, ist sich der Bedeutung dieses Faktors stets bewußt. Der Mäzen im engeren Sinne des Wortes wird freilich nur eine andere Form des Durchdringens erleichtern können: wer einem Dichter oder Musiker eine Rente gibt, um ihm ein der Kunst allein geweihtes Leben zu ermöglichen, wer dem bildenden Künstler seine Werke für hohe Preise abkauft, der transformiert damit noch nicht seine Erscheinungsform. Aber die Transformierung setzt sofort ein, sowie es dem Individuum gelungen ist, zu einer Persönlichkeit in Beziehungen zu treten, deren Urteil gilt. Diese Persönlichkeit braucht nicht einmal, wie in den oben besprochenen Fällen, stets selbst eine Eminenz zu sein: es genügt, wenn sie Berührung mit Institutionen hat‚ die ihrerseits ruhmerweiternd wirken. Die Bedeutung des Kritikers, über die später noch zu handeln sein wird, wird schon hier evident. Ihm, als einem Mitarbeiter der Presse, also einem berufsmäßigen Gestalter und Umgestalter der öffentlichen Meinung, ist es stets besonders leicht möglich, ein Individuum in großen und immer größeren Kreisen bekannt zu machen. Deshalb ist für das noch unbekannte Individuum nichts wertvoller, als Beziehungen zu einem angesehenen Kritiker zu erhalten. Sind diese Beziehungen zufälligerweise persönlich, so wird das Gemeinschaftsgefühl, dessen Macht wir bereits kennen gelernt haben, alsbald zu wirken anfangen und zunächst beim Kritiker selbst die Erscheinungsform transformieren. In vielen Fällen wird er freilich erst dann für ein Individuum eintreten, wenn er dessen Eminenz erkannt hat oder erkannt zu haben glaubt. Aber auch dann wirkt dieser Glaube in sehr viel stärkerem Maße ruhmverbreitend [127] als der irgend eines anderen, weil der Kritiker für seine Meinung – die an sich ja gar nicht besonders wertvoll zu sein braucht – in der Presse, sei es nun die Tageszeitung oder die populäre Wochen- und Monatsschrift, sofort den allerstärksten Resonanzboden zur Verfügung hat.

Aber die Beziehungen, um die es sich hier handelt, brauchen sich nicht von Person zu Person zu erstrecken. Schon da, wo eine Persönlichkeit oder eins ihrer Werke in einer bereits vorher berühmten Umgebung auftritt, kann diese Umgebung – in den meisten Fällen handelt es sich um ein Buch – die Erscheinungsform in günstigem Sinne transformieren.

Die Geschichte von Defoes »Robinson« bietet hierfür wertvolle Aufschlüsse. Als der erste Band dieses Buches 1719 erscheint, hat es, wie so viele andere abenteuerliche Schriften, sofort einen ziemlich großen Erfolg. Aber als Jugendschrift ist es nicht gedacht, und so bleibt seine Wirkung doch beschränkt. Seinen Weltruhm erlangt es erst, als es – durch einen recht eigenartigen Umstand – zur Jugendschrift gestempelt ist und nun als pädagogisches Lehrmittel allerersten Ranges erscheint. Rousseau nämlich findet im Robinson ein Buch, das seinen bekannten, ganz persönlichen Anschauungen entspricht, und weist im 3. Buch seines Emile ausdrücklich darauf hin. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Macht der Emile für das ausgehende 18. Jahrhundert repräsentiert, hat die Siegeslaufbahn des Robinson, die jetzt alsbald einsetzt, nichts Überraschendes mehr. Die Philanthropinisten, die auch ihrerseits in jener Epoche den größten Einfluß besitzen, stürzen sich auf das Buch, weil es von Rousseau erwähnt wird, und 1779-80 erscheint Campes Bearbeitung. Sie behält von dem Original nur die Grundlinien der Erzählung bei, bringt aber im übrigen zahllose Veränderungen an, die keinen anderen Zweck haben, als die philanthropinistische Pädagogik zu veranschaulichen. Unter dem Einfluß dieser Anschauungen sieht auch die Herbart-Zillersche Schule im Robinson ein vorzügliches Erziehungsmittel, setzt ihn statt der biblischen Geschichte auf die zweite Stufe der sog. »Konzentrations- und Gesinnungsstoffe« und trägt in ihre Bearbeitungen eine noch [128] stärkere didaktische Tendenz hinein. vgl. HERM. ULRICH, Robinson und die Robinsonaden, Weimar 1898, und ders. in Reins »Handbuch der Pädagogik« sub »Robinson«. Daß man in neueren Ausgaben wieder auf das Original zurückzugehen beginnt, ist bedeutungslos: die Siegeslaufbahn des Buches ist unaufhaltsam. Sie hätte aber nie begonnen, und das Buch wäre heute – wie so mancher Abenteurerroman des 18. Jahrh. und alle anderen Schriften Defoes – halb oder ganz vergessen, wenn nicht der machtvolle Rousseau darauf hingewiesen hätte. Nebenher sei hervorgehoben, daß in diesem Falle, wie wir es später noch häufig sehen werden, das Objekt nur Vorwand ist, damit Bestrebungen des Subjekts, die hier also pädagogischer Art sind, durchgesetzt werden können.

Denken wir den Gedanken, für den der Fall Robinson nur eine Illustration abgeben sollte, zu Ende, so ist die Erklärung für eine ganze Reihe von Ruhmformen gegeben, die sonst unerklärlich bleiben würden. Wir gehen nun nicht mehr vom Individuum aus, das irgend einer, bereits vorher berühmten Umgebung, also meistens eines Buches bedarf, sondern von dieser Umgebung und können nun – falls deren Ansehen im Laufe der Zeit ganz besonders groß geworden ist – schon im voraus sagen, daß sie für jedes in ihr erwähnte Individuum ruhmbildend wirken muß. Man denke an Bücher wie die Bibel oder an Shakespeares Dramen und an die Erscheinungsformen, die Individuen 4. und 3. Grades angenommen haben, nur weil jene Bücher sie erwähnen. Die mehr oder weniger zufällige Nennung ihres Namens in solcher Umgebung hat sie für immer der Vergessenheit entrissen, der sie sonst sicher anheimgefallen wären.


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