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53.

New York, den 12. Juli 1900.

Heute besuchten mich ganz fremde Leute, ein alter Mann und eine alte Frau. Sie sagten, sie hätten einen Sohn in Peking gehabt – und das genügte mir; die fremden Leute standen mir mit einemmal ganz nah. Aber sie sagten, sie hätten ihn gehabt, nicht, daß sie ihn hätten. Sie sind ganz überzeugt davon, daß dort hinter den hohen Mauern alles zu Ende ist, daß keiner mehr lebt. Beide hatten etwas Resigniertes, wie alte Leute, denen ihre liebsten einer nach dem andern weggestorben sind, bis Unglück schließlich als das allein Selbstverständliche erscheint. Die alte Frau hatte etwas frischen Krepp auf ein schäbiges schwarzes Kleid gesetzt, das aussah, als sei es in einer Reihe von Trauern aufgetragen worden. Sie hatten irgendwie erfahren, daß wir in Peking gewesen, und hatten nur die Sehnsucht, einmal über alles dortige reden zu hören und zu fragen, ob wir den Sohn vielleicht gekannt hätten. Sie erwarteten keine Ermutigung, sie waren ganz hoffnungslos. Und das war mir das Entsetzlichste, zu sehen, daß andere, die auch ihr liebstes dort haben, es als ganz rettungslos verloren bereits aufgegeben haben. Das eigene Weiterhoffenwollen erschien mir mit einemmal beinah kindisch und töricht. Alles, womit ich mir täglich ein wenig neuen Mut einzureden suche, ist so kläglich schwach, hat eigentlich kaum eine einzige vernünftige Begründung – auch heute steht es wieder mit voller Sicherheit in den Zeitungen, daß kein einziger Fremder mehr in Peking am Leben ist. Die beiden alten Leute haben sich still dahineingefunden und werden nun so weiter leben und noch mehr Trauer tragen.

Aber ich kann nicht – o Gott, nein, ich kann nicht!

Und wenn sie alle auch sagen, daß alles hoffnungslos vorbei ist und wenn auch die Glocken zu Trauergottesdiensten läuten – ich kann's nicht glauben – will's nicht glauben. Und ich schreibe Ihnen weiter, liebster Freund, schreibe Ihnen, weil ich nicht anders kann, weil mir ist, als bildeten diese Zeilen die letzte Brücke zwischen uns. Hörte ich auf, Ihnen zu schreiben, so wäre es mir, als bestätigte ich damit das entsetzliche Unheil, als hätte ich es geschehen lassen – so aber glaube ich, Sie zu halten. Sie zum Bleiben zu zwingen, weil ich Ihnen noch so viel, so sehr viel zu sagen habe. All unsere zusammen verlebten Jahre, von denen ich jetzt erst ganz fühle, wie sehr wir sie zusammen verlebt haben, sie ziehen in Bildern an mir vorbei; und ich möchte sie Ihnen schildern, und jeder Satz begänne dann: »Erinnern Sie sich? wissen Sie noch?« Ich weiß es ja, daß Sie noch wissen, daß Sie sich erinnern – denn jene Jahre sind Ihnen das, was sie mir sind – das, worauf man von Anfang an gewartet, was man nie vergißt, was in letzter Stunde noch vor den Augen stehen wird, als einziges, was zu leben wert gewesen.


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