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48.

New York, den 26. Juni 1900.

Vor einigen Tagen lasen wir, daß der Provikar Hofer, dessen Warnungen niemand in Europa glauben wollte, und der nach China zurückgekehrt ist, sich in Schanghai befindet. Ich telegraphierte ihm, ob er wisse, wo Sie sind, denn ich konnte die Ungewißheit nicht mehr länger ertragen. Und soeben kommt die Antwort: »Muß nach letzten Nachrichten unmittelbar vor Beginn Belagerung Peking eingetroffen sein.«

Also nicht mal mehr die eine schwache Hoffnung, daß Sie vielleicht irgendwo im Innern Chinas sicher und verborgen seien! Daran hatte ich mich während der letzten Tage geklammert. Je schlimmer die Nachrichten über Peking lauteten, desto sicherer und bestimmter nahm ich an, daß Sie nicht dort seien, suchte mir zu beweisen, daß Sie gar nicht dort sein könnten, wollte es nicht zugeben.

Und nun sind Sie doch dort! – All die entsetzlichen Nachrichten, die wir seit Tagen mit Grauen lesen, sie sind zu lebenden Wirklichkeiten, zu Bildern geworden, die mich unablässig verfolgen, seit ich weiß, daß Sie mit eingeschlossen sind in der Stadt des Leidens.

Jeder einzelne, der dort hinter den finsteren Mauern der Erlösung harrt, muß ja den fremdesten Menschen Mitleid einflößen – aber was ist das neben der Angst und Verzweiflung, die mir das Herz zerreißen um Sie – um Sie, liebster Freund!

Und jetzt gar nichts tun zu können, wo man so gern das eigene Leben gäbe, wo es schon Glück wäre, auch nur mit leiden zu dürfen!

Und inmitten all der Marter plötzlich vor dem eigenen Herzen wie vor einer Offenbarung stehen und sich staunend fragen: Kann das denn sein? Bin ich es denn wirklich?


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