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19.

New York, Januar 1900.

Ich wurde gestern unterbrochen, lieber Freund! Weiß nicht, wie lange ich Ihnen sonst noch grau in graue Weltenbetrachtungen geschrieben hätte! Seien Sie also dankbar, daß gestern die Tür wirklich aufging und Madame Baltykoff bei mir eintrat, ein Pelzmützchen auf dem Kopf, das ihr so natürlich gut stand, wie jeder Katze ihr Fell.

»Nein, wie beneidenswert unbeschäftigt Sie aussehen!« sagte Madame Baltykoff. »Und ich bin so abgehetzt durch alles, was ich mitmachen und wobei ich gesehen werden soll. In keinem Lande der Welt habe ich noch so viel von »sozialen Pflichten« reden hören! Ich glaube, sie ersetzen alle anderen! Heute war ich schon mit einer New Yorkerin, die mich ins Schlepptau genommen, auf einem Dejeuner, einem Wohltätigkeitsbazar und drei Jours. Und jedesmal, wenn ich die gewisse Ankunftslangeweile überwunden hatte und gerade anfing, mich etwas zu amüsieren, machte mir mein sozialer Pilot verzweifelte Aufbruchszeichen, weil wir noch in so und soviel Häusern gesehen werden müßten. Ich kam mir schließlich wie eine Verbrecherin vor, die sich Alibis schafft! Nun habe ich noch einen Besuch vor, bei einer ehemaligen Landsmännin, und da müssen Sie mich durchaus begleiten. Es ist Ihnen auch gar nicht gut, so vor sich hinzubrüten, wie ein weiblicher Oblomoff.«

Und da all mein Tätigkeitsdrang von jeher damit geendet hat, mich von äußeren Mächten treiben zu lassen, ging ich mit Madame Baltykoff hinaus in die kalte graue Winterwelt und lernte Miß Tatiana de Gribojedoff kennen.

Wenn Sie den Namen auch dreimal lesen, lieber Freund, sie heißt wirklich so, und das Miß hat auch seine Berechtigung.

Tatianas Vater war natürlich Russe, ihre Mutter dagegen war die Tochter eines aus Illinois stammenden amerikanischen Konsuls Carmichael in Archangel, und in jener kalten Weltecke hat auch die Wiege der kleinen Tatiana gestanden. Madame de Gribojedoff, née Carmichael, scheint sich dort aber nie so recht behaglich gefühlt zu haben, woraus ihr meinerseits kein Vorwurf gemacht werden soll. Ihr Bestreben ging dahin, Tatiana in der Kritik und Mißachtung alles Russischen zu erziehen und ihr eine unbedingte Bewunderung für alles Angelsächsische beizubringen. Als der Vater Tatianas starb, ein bedeutendes Vermögen hinterlassend, wanderten beide Damen nach Amerika zurück; seit dem Tode ihrer Mutter lebt Tatiana als unabhängige alte Jungfer in New York.

Ihr Häuschen ist vollgepfropft mit all denjenigen Dingen, die gewitzigte Leute auf Reisen sorgfältig zu kaufen vermeiden. So hat sie sich von den Niagarafällen indianische Mokassins mitgebracht, die an einer Wand hängen, dicht neben einem spanischen Fächer, auf dem ein Stiergefecht abgebildet ist. In Mexiko hat sie allerhand aus dortigem Marmor verfertigte Früchte gekauft, rosa Pfirsiche, grüne Mangoes, braune Feigen liegen auf einer Konsole, zusammen mit den Ergebnissen eines Ausflugs nach Havanna, großen schillernden Muscheln und Mustern verschiedener Korallensorten. Der dahinter aufgehängte Spiegel gestattet auch, die Rückseiten zu bewundern. Von Sorrent hat Miß Tatiana kleine, aus Olivenholz verfertigte Bücherbretter mitgebracht, und auf diesen steht, neben römischen Mosaikschälchen und einer Miniaturnachbildung des Vestatempels, eine ganze Batterie von Gläsern aus verschiedenen Badeorten, deren Brunnen Miß Tatiana getrunken hat. Allerhand Inschriften sind auf diese Gläser geschliffen: »Zur freundlichen Erinnerung an Schlangenbad«, »Wohl bekomm's«, auch eine Abbildung der Trinkhalle in Baden-Baden. Vielleicht ist es eine Folge all dieser gesundheitsfördernden Flüssigkeit, daß Miß Tatiana so lang, spitz und mager ist.

Sie saß an einer Seite des Kamins, und auf der andern saß ein kleiner, dicker, älterer Herr, den Madame Baltykoff als Iwan Iwanowitsch begrüßte und der mir als Herr Baschmakoff vorgestellt wurde. Die Wirtin und ihr Gast schienen eben eine politische Debatte gehabt zu haben; sie sah erregt aus, und nachdem wir uns gesetzt hatten, fuhr sie in dem begonnenen Gespräch fort: »Wahrlich, Mr. Baschmakoff, jeden Tag, wenn ich von der Unterdrückung der armen Finnen lese, bin ich dankbar, daß ich auswanderte und eine freie amerikanische Bürgerin geworden bin.«

»Aber liebe Tatiana Feodorowna,« antwortete der kleine, dicke Herr, »es wäre Ihnen doch nichts in Rußland geschehen. Sie sind ja gar keine Finnländerin.«

»Das ist eine feige Ausrede. In solchen Fällen muß man sich eins fühlen mit den Unterdrückten. Da ich all dem Unrecht, daß in Rußland geschieht, nicht abhelfen konnte, habe ich wenigstens durch meine Auswanderung dagegen protestiert.«

»Immer die gleiche, immer dasselbe Feuer bei unserer lieben Tatiana Feodorowna,« seufzte der alte Herr.

»Und bei Ihnen immer der gleiche Eigensinn, in jedem Satz wenigstens einmal diese komische russische Anrede anzubringen – Tatiana Feodorowna!«

Herr Baschmakoff legte die Hand auf seinen vorspringenden Magen, in der Gegend, wo hinter all dem Fett das Herz sitzen muß, und erwiderte: »Es ist mir eben mein Leben lang der liebste Name der Welt gewesen.«

Das alte Fräulein schien hierdurch etwas besänftigt, wandte sich zu. mir und sagte: »Sie werden mir zugeben, daß es bei meinen Ansichten und als freie Amerikanerin hart ist, den Namen Tatiana de Gribojedoff zu tragen.«

»Vergessen Sie nicht, liebe Tatiana Feodorowna, wie oft ich Ihnen angeboten habe, diesen Namen zu vertauschen,« sagte der kleine dicke Herr und drückte wieder die Hand auf den vorspringenden Magen.

Da lachte die alte Dame laut. »Nein, wissen Sie, Gribojedoff oder Baschmakoff – das bleibt sich nun schon gleich. Ja, wenn Sie Washington, Lincoln oder meinethalben auch nur Brown oder Smith hießen, hätte ich's mir überlegen können – aber so!«

Und beide, der alte Herr und das alte Fräulein, lachten über diese Neckerei, die immer wieder aufgefrischt wird, wenn Herr Baschmakoff alljährlich aus Archangel nach New York kommt, um seine Jugendliebe im Lande ihrer Wahl zu besuchen.

»Die Philippinen machen mir viel Sorge,« erzählte uns die russische Amerikanerin, indem sie auf eine neben ihr liegende Zeitung wies, »es ist offenbar notwendig, daß neue Truppen hingeschickt werden. Ich hoffe nur, daß das State Departement zu äußerster Energie in der Bekämpfung der Rebellen entschlossen ist. Sicherlich müssen fremde Intrigen und Aufwiegelungen derjenigen dahinter stecken, denen es ein Greuel ist, daß wir in dem geknechteten Orient Fuß fassen, sonst hätte jenes arme, umnachtete Volk doch längst eingesehen, daß wir ihm das Licht der Freiheit bringen.«

»Vielleicht werden Ihre westlichen Methoden im fernen Osten nicht so recht gewürdigt und verstanden, liebe Tatiana Feodorowna, vielleicht passen sie auch nicht so recht dorthin,« warf Herr Baschmakoff schüchtern ein.

»Die Wahrheit und das Recht passen überall, aber ihr Russen denkt immer, daß ihr allein den Osten versteht. Ich gebe euch ja gern zu, daß ihr jenen Völkern näher steht als wir, aber warum sollen sie erst noch auf dem weiten Umweg über Knute, Sibirien und Orthodoxie zu endlicher Freiheit und wahrem Glauben geführt werden?«

»Was ist denn der wahre Glaube?« fragte Madame Baltykoff.

»Der wahre Glaube?« Miß Tatiana stockte einen Augenblick und antwortete dann rasch entschlossen: »Der wahre Glaube ist, was man in den Vereinigten Staaten glaubt.«

»So, so,« sagte Madame Baltykoff und fuhr dann nachdenklich fort, als sinne sie über ein schweres Rechenexempel nach, »Methodisten und Baptisten, Kongregationalisten und Christian Scientists, vereinigte Brüder und Jünger Christi, Heilige der letzten Tage, Quäker und Shaker – und gar die Mormonen – die haben also alle den wahren Glauben?«

Miß Tatiana unterhielt uns noch längere Zeit mit der erregten Diskussion verschiedener politischer Fragen. Der geduldige Baschmakoff bekam noch viel Schlimmes über Rußland von ihr zu hören und sie gab ihm zu verstehen, daß, wer nicht angelsächsischer Abstammung ist, nur schlaue Berechnung und Eigennutz zu Motiven seiner Handlungen haben könne.

Wenn Madame Baltykoff mir zuweilen als wandelndes Fragezeichen erscheint, so habe ich in Miß Tatiana eine lebende Assertion kennengelernt. Sie erinnert mich an eine pommersche Gutsbesitzerin, die ich vor Jahren gegen direkte Steuern eifern hörte; in meiner damaligen Jugend und Unwissenheit fragte ich sie, was das sei, und erhielt die Antwort: direkte Steuern sind die, die man selbst bezahlt, indirekte Steuern solche, die andere Leute bezahlen, drum sind die ersteren schlecht und die anderen gut.

Miß Tatiana besitzt auch diese Gabe anschaulicher Definition und rascher Schlußfolgerung.


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