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43.

New York, den 21. Juni 1900.

Der entsetzliche Traum dauert weiter, keine Nachricht aus Peking, und schlimmer als alles, keine Nachricht von Ihnen. Ach, wo sind Sie, lieber Freund? Meine tägliche Hoffnung ist, ein Telegramm von Ihnen zu erhalten, daß Sie in Schanghai von Ihrer großen Reise ins Innere zurückgekehrt sind. Um diese Zeit müßten Sie doch dort eingetroffen sein. Was kann Sie so lang aufgehalten haben? Ich sehne mich so sehr danach, von Ihnen zu hören, daß das Warten zu einem physischen Schmerz wird.

Die Hitze liegt bleiern auf der Stadt. Tag und Nacht keine Abkühlung. Die Nächte sind am schlimmsten. Sie scheinen so endlos mit den wirren Gedanken, dem fiebrigen Einschlummern und den verschwommenen beängstigenden Visionen, die sie bringen. Dann wird die Hitze zu einem greifbaren Wesen, im Dunkeln lastet sie auf mir wie ein Alpdrücken, ich glaube, sie fühlen und fassen zu können. In den Zeitungen steht, wie alle Jahre, es sei dies ein anormaler Sommer, noch nie hätten Menschen und Tiere so sehr unter der Hitze gelitten, noch nie seien so viel Hitzschläge vorgekommen. Es scheint, als sei es den Menschen ein Trost, sich einzubilden, daß gerade ihre Leiden ausnahmsweise groß seien, so groß, daß sie dadurch von einer gewissen Bedeutung würden. Und es ist doch alles bedeutungslos. Leiden scheint nur ausnahmsweise groß, wenn es gerade unser persönliches Leiden ist. Könnten wir den Begriff unseres Ichs erweitern und dadurch mehr Leiden umfassen, so würden uns diese neuen Qualen, die wir bisher kaum ahnten, auch wieder als ganz ausnahmsweise groß erscheinen.

Wenn einst in Millionen von Jahren die Erde tot und eisig durch die Weltenräume kreist, wer wird dann nach den kleinen Wesen fragen, die mal auf ihr an Hitzschlag starben!

Die Stadt ist ganz leer. Wir sind noch hier. Ich möchte auch gar nicht fort. Gerade hier in der furchtbaren Hitze glaube ich manchmal wirklich dort zu sein, wo all meine Gedanken sind. Hinter den hohen Pekinger Stadtmauern. Allein schon die Hitze dort in dieser Jahreszeit, ohne alles andere – welche Marter! Ich bilde mir ein, daran teilzunehmen, von hier aus mittragen zu helfen.

Wie schön wäre es doch, wenn man für andere tragen könnte, wenn man sagen könnte: »Ruh Du Dich jetzt aus, denn nun schieb ich die Schulter unter die Last.« Das Weh der Welt ist aber nicht wie ein Brot bestimmter Größe, je mehr davon essen sollen, desto kleiner müssen die Teile werden. Nein, es wächst mit jedem neuen Gast, es ist immer in Überfluß auf dem Tisch und kämen auch immer wieder neue Millionen hinzu. Tragen helfen! auch so eine Illusion, mit der die große Hoffnungslosigkeit verborgen werden soll. Jeder trägt, was schon mit ihm in der Wiege lag, was mit ihm selbst gewachsen ist, trägt, weil es eben nicht anders geht. Und vor, neben und hinter ihm stehen unabsehbare Reihen von Wesen, die auch alle tragen, jedes seine Last. In Wahrheit abnehmen kann keiner dem andern etwas, so daß der wirklich frei aufatmete – wir können nur zum eigenen Leid uns noch das des anderen hinzudenken – mit ihm mitleiden.

Mitleiden – ach, wie sehr leide ich hier mit jenen, die ich in Peking gelassen, leide mit Ihnen, lieber Freund! Bald suchen meine Gedanken Sie hinter den düstern Stadtmauern, die mit unheimlichem Schweigen unbekanntes Schicksal so vieler umgeben, bald in dem großen, brodelnden China, von dem aus allen Teilen Nachrichten über Aufstände und Metzeleien eintreffen.

Und mit all meinem Mitleid kann ich so gar nichts helfen!


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