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8.

Im Eisenbahnzuge. Oktober 1899.

Lieber Freund, wir haben das reizende Banff verlassen. Die Bergketten, die tieferen grünen Wälder liegen längst hinter uns. Einen ganzen Tag schon fahren wir durch die weite Ebene. Wir haben zum Fenster hinausgeschaut, haben hier und da ein paar Seiten eines Buches gelesen und die anderen Reisenden beobachtet. Nun wird es Abend, die Schatten werden länger, und im fernen purpurnen Westen neigt sich die Sonne anderen Welten zu. Mir ist, als ob graue Wesen aus der Erde aufsteigen, die mich stumm anblicken und in deren toten Augen ich die Frage lese: »Was hast Du aus uns gemacht?« Es sind Pläne und Hoffnungen, Träume, Wünsche und Ideale – lauter Dinge, mit denen wir vor langen Zeiten, am frühen Morgen des Gebens, die Fahrt begannen, die wir damals hüteten, als das kostbarste, was wir mit uns nahmen, als unseren höchsten Besitz. Es war, als gehörten uns seltene, goldige Samenkörner, aus denen ein märchenhafter Garten entstehen sollte, voll schöner, noch nie dagewesener Blumen. Aber statt einen Garten anlegen zu können, haben wir im Laufe der Reise die Samenkörner alle allmählich am Wege verloren, die einen früh, die anderen spät. Manche sind verschwunden, ohne daß wir es selbst recht merkten, wie Träume, die beim Erwachen verweht sind, niemand weiß wohin, die Erinnerung an sie sogar ist tot. Um andere haben wir gekämpft und wollten sie durchaus festhalten, sie sollten ja zum stolzesten oder liebsten Schmuck des künftigen Gartens werden – und wir haben sie doch hingeben müssen, haben auch sie verloren in bitterem, alle Freude vernichtendem Schmerz.

In den Mühen und Sorgen des täglichen Gebens, die uns wie Opium vom Schicksal gegeben werden, um die größeren Leiden zu vergessen, denken wir kaum all des vielen Verlorenen. Aber an den Abenden langer Reisetage, wenn das Buch der Hand entgleitet und wir müde aus dem Fenster hinausstarren, wenn der Zug durch weite Ebenen braust und sein Schatten, riesengroß verlängert, über der wehenden Grasfläche neben uns dahineilt, wenn überall um uns die festen Formen sich auflösen und verschwimmen in dämmerigem Grau – dann greifen uns unsichtbare Hände kalt ans Herz, unendliche Wehmut, vergebliches Sehnen, bitteres Erinnern erfüllen uns ganz. Das ist die Stunde, wo Verlorenes, Totes aufersteht, wo wir plötzlich gewahr werden, wie arm wir geworden.

Der geträumte Märchengarten liegt plötzlich wieder vor uns, so schön, so beglückend, wie wir ihn einst geplant, in jener Zeit, da wir das felsenfeste Bewußtsein hatten, zu ganz Besonderem berufen zu sein; aber statt der damaligen Zuversicht, statt des Glaubens an uns und unsere Bestimmung, erfüllt uns heute nur bitteres Weh; wir wissen ja, daß wir all die goldigen Blumensaaten verloren haben, die einen erstarrten in Eis und Schnee, die anderen verbrannten in sengender Glut – nimmer werden sie keimen und blühen. Mit Nichtigkeiten und Eitelkeiten sind die Jahre verstrichen, wir haben sie vergeudet in der Jagd nach dem Unwesentlichen und vertrauert in den Sümpfen der Entmutigung – und darüber ist das Höchste und Beste in uns gestorben, das Kostbarste ist verlorengegangen.

Und nun ist es zu spät! –

Wir möchten die Zeit anhalten, zurückeilen, nochmals anfangen und alles so ganz anders und besser beginnen! Aber nie können die Räder der Zeit sich für uns rückwärts drehen, und der Zug braust unaufhaltsam über die Ebene weiter; wie ein Ungeheuer breitet sich sein Schatten über die Fläche, wie ein Ungeheuer führt uns das Schicksal eilend weiter. Willenlos müssen wir ihm folgen, die wir nicht stark genug waren, selbst Schicksal zu werden, die wir die Jahre vergeudet und dann vertrauert.

Und die ganze Fahrt – wohin? wozu? – Selig, wer sich aus der Kette der Verluste, als Opium letzter Stunde, den Glauben an ein Ziel gerettet.


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