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Zehntes Kapitel

Die unerreichbaren Elefanten – Rekordschnupfer – Ohne Atem und ohne Hosen hinter zwei menschlichen Windhunden her – Die verscheuchten Simbas – Von allerlei zwei- und vierbeinigen Gierschlünden – Die sterbende Löwin – Der Distriktskommissar von Taveta, ein toter Wildeber und drei verdachterregende Schüsse

 

Es dauerte lange, bis ich diesen Schlag verwunden hatte. Und er hätte mich noch viel mehr niedergeschmettert, wenn ein mitleidiges Schicksal es nicht gefügt hätte, dass am selben Nachmittag plötzlich die beiden Ndorobbo im Lager erschienen und mich durch Mze aufforderten, sogleich mit ihnen zu kommen: sie hätten Elefanten gesichtet.

Mir war gar nicht unternehmungslustig zumute, aber sooft mir bei den Vorbereitungen die Hände sinken wollten, rief ich mir immer wieder Burtons Worte ins Gedächtnis: »Denken Sie nur immer daran, dass es bei diesem Sport das Schwierigste ist, die Enttäuschungen zu schlucken, lieber Junge!«

Auf meine Frage, wo die Elefanten wären, zeigte Loldogo mit seinem Speer stumm auf die Urwälder droben am Berge; an eine Rückkehr ins Lager war demnach vor morgen oder übermorgen nicht zu denken. So nahm ich ausser Tumbo und Mze, den ich ja als Dolmetscher brauchte, noch Mlomu mit. Er bekam eine Decke, einen Kochtopf und einigen Proviant zu tragen. Ich hätte auch Mtoto mitgenommen, aber er war unauffindbar. Als ich ihn in ganz ruhigem Tone, aber wohl mit entsprechendem Augenausdruck gefragt hatte, warum er den Plattenbock angerührt hätte, war er angstzitternd zurückgewichen und hatte sich dann irgendwo verkrochen.

Die drei folgenden Tage habe ich bis heute nicht vergessen. Ich hatte mir immer eingebildet, ein Fussgänger zu sein, der es mit jedem aufnehmen konnte, doch meine beiden Ndorobbo belehrten mich bald eines Besseren. Schon nach einer Stunde blieben meine drei Leute zurück, und ich selbst glaubte, dieses wahnsinnige Tempo keine weitere Minute mehr aushalten zu können. Die beiden liefen in gleichmässigem, weitausgreifendem Schritt wie Maschinen vor mir her, schlüpften mit der Gewandtheit von Gazellen durch das wildeste Dornendickicht hindurch und sprangen mit der Mühelosigkeit von Gemsen über die Felstrümmer, die die steilen Hänge besäten. Auf ebenem Boden hatte ich mit Aufbietung aller Willenskraft gerade noch Schritt halten können, als es aber bergan ging, musste ich die beiden immer wieder hinten am Fellumhang zupfen und durch Gebärden bedeuten, doch um des Himmels willen ein menschenmögliches Tempo einzuhalten. Sie lächelten, nickten und schritten darauf fünf Minuten lang nur achtzig Zentimeter weit aus, in der sechsten aber wiederum hundertzwanzig. Es war zum Verzweifeln ...

Kurz nach Sonnenuntergang erreichten wir die Waldgrenze, und hier warf ich mich einfach hin und stand bis zum nächsten Morgen nicht mehr auf. Ddonje ging noch einmal bergab, meinen Leuten entgegen; sein Vater brannte ein Feuer an, bedeutete mir, hier auf ihn zu warten, und verschwand ebenfalls in der Dunkelheit. Nach einer halben Stunde kam er zurück und hielt mir eine Kalebasse voll herrlichem frischem Honig vor die Nase. Bei der liebevollen Beschäftigung mit dieser unerwarteten Labe legte sich meine stille Wut auf diese menschlichen Rennpferde ein bisschen, und für eine Weile vergass ich auch meine geschwollenen Füsse und steifen Knochen.

Die Nachzügler kamen unter Führung Ndonjes erst ungefähr zwei Stunden später an, und auch sie waren mehr tot als lebendig. Nach einer höchst ungemütlichen, feuchtkalten Nacht ging es anderntags in weissem Morgennebel weiter. Anfangs ohne Weg und Steg quer durch den Wald, aus dessen Wipfeln unaufhörlich kalte Tropfenschauer herabprasselten, während unter jedem Schritt Schlammwasser aus dem Boden quoll und Kräuter und Stauden, Lianen und Flechten, modernde Stämme und Äste das Vorwärtskommen zu einer alle Kräfte erschöpfenden Anstrengung machten. Endlich traten wir aufatmend in eine breite Gasse hinaus, aber diese Gasse war von Elefanten gebrochen und getreten, und als ich sie hinter den beiden menschlichen Windhunden her eine gute Stunde gegangen war, hatte ich das Gefühl, nunmehr alle Sünden meines Lebens abgebüsst zu haben.

Dann kreuzte eine frischgebrochene Bahn die unsere. Die beiden erfühlten mit den Zehen die Temperatur eines Haufens Losung und glitten, durch einen Wink zur Vorsicht mahnend, geräuschlos weiter. Etwas später nahm ich bereits den Geruch der Dickhäuter wahr: sie mussten dicht vor uns sein. Gleich darauf duckten sich meine Führer und wiesen stumm ins Dickicht. Da drin bewegte sich etwas, doch es wäre zwecklos gewesen, näher heranzugehen, denn Tumbo war mit der Kamera weit zurückgeblieben. Die beiden winkten und winkten, aber ich konnte nur den Kopf schütteln, da ich nicht wusste, wie ich ihnen begreiflich machen sollte, dass man ohne Kamera nicht zu photographieren vermag.

Als der Boy endlich mit dem Kasten erschien, war von den Elefanten natürlich nichts mehr zu sehen. Nunmehr steckte ich, da ich den beiden mit der grossen Kamera unmöglich folgen konnte, den Kodak zu mir, und wieder ging es den Dickhäutern nach, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden lang, bis wir sie endlich wieder eingeholt hatten. Diesmal bekam ich auch etwas von ihnen zu Gesicht, nämlich die Hinterteile von zweien, die gerade im Wald, und zwar in einem besonders dichtverwachsenen Stück, verschwanden. Doch bei diesem Lichte war keine Aufnahme zu machen. So legte ich erst einmal eine kurze Mittagspause ein. Am Nachmittag ging die Verfolgung weiter, doch es blieb immer dasselbe: wenn wir wirklich nahe genug an die Tiere herankamen, war wegen des schlechten Lichtes keine Aufnahme möglich. Und als am Spätnachmittag plötzlich die Luftströmung umsprang, bekamen die grauen Riesen Witterung von uns. Wir hörten auf einmal ein wildes Krachen und Brechen, ein langsam verklingendes Rauschen, und dann war es für heute mit den Elefanten zu Ende und auch mit meiner Leistungsfähigkeit. Mit Ausnahme der halbstündigen Mittagsrast war ich elf Stunden auf den Beinen gewesen.

Den ganzen nächsten und den halben übernächsten Tag wiederholte sich genau dasselbe. Wahnsinnige Anstrengungen, immer wieder aufflammende und immer wieder getäuschte Hoffnungen und dazwischen zwei feuchtkalte schlaflose Nächte im wolkenverhangenen Urwald. Dann gab ich's auf und zog, ohne eine einzige Aufnahme gemacht zu haben, nach Hause. Es ist sonderbar: im ganzen Verlauf des damaligen und eines weiteren Jahres in späterer Zeit bin ich trotz allen Bemühungen niemals zu einer verwertbaren Aufnahme von Elefanten gekommen. Wie Mze sagte, lag es nur daran, dass ich von seiner »Elefanten-Daua« nichts wissen wollte, die er mir eines Tages zu dem unverschämten Preise von zehn Rupien angeboten hatte.

Aus meinen beiden Marathonläufern war auf keine Weise herauszukriegen, was sie für ihre Dienstleistung verlangten. So drückte ich ihnen, als ein paar Wochen darauf meine Leute von einer neuen Safari nach Station Simba mit einer Ladung Bretter und der eingelaufenen Post zurückkehrten, das ganze seinerzeit bestellte Kilopaket Schnupftabak in die Hände. Sie konnten es gar nicht fassen, dass dieser Schatz ihnen gehören sollte, verschwanden schliesslich damit und liessen sich zehn Tage lang nicht wieder sehen. Wahrscheinlich haben sie im Kreise ihrer Familien die zehn Tage und zehn Nächte damit verbracht, den »Schmalzler« aufzuschnupfen.

Ausserdem hatten die Träger wiederum sechs Ziegen mitgebracht; eine weitere war ihnen nach bekanntem Muster unterwegs »abhanden« gekommen. Drei von den sechsen wurden ein paar Tage später nachts von einem in den Kral eingedrungenen Leoparden erledigt. Verspeist hatte der »Chui« allerdings nur eine, so dass die andern beiden wenigstens den Mägen meiner Leute zugute kamen. Die restlichen drei aber gingen eines späteren Tages alle miteinander an irgend etwas Schädlichem, das sie gefressen hatten, zugrunde, und hierauf gab ich das Ziegenhalten auf.

Dafür kamen wir einige Zeit danach auf sehr unerwartete Art zu einem wahren Festgelage mit frischem Fleisch. Der Anlass war, dass meine zwei Führer, mit denen ich nach und nach in ein sehr angenehmes, fast freundschaftliches Verhältnis gekommen war, eines Nachts plötzlich an meinem Bett erschienen und mich sehr rücksichtsvoll durch ein immer lauter werdendes Murmeln weckten. Sie hätten »nicht sehr weit weg« eine grosse Herde Büffel entdeckt, die sie bejagen wollten. Ob ich mitkäme? – Unsere gegenseitige Verständigung ging jetzt, nachdem ich einige Brocken Kindorobbo und Ndonje etwas mehr Kisuaheli gelernt hatte, viel besser vonstatten.

Eine halbe Stunde später brachen wir auf. Die vier Träger, die ich ausser Tumbo und Mtoto in richtiger Einschätzung der Entfernungsbegriffe meiner langbeinigen Freunde mitnahm, machten trostlose Gesichter. Erstens wegen ihrer gestörten Nachtruhe und zweitens wegen der Hetzjagd, die ihnen nun hinter diesen leichtfüssigen Wilden und ihrem kaum minder rennwütigen Bwana her blühen würde. Mit den Ndorobbo als Schrittmacher hatte ich in den vergangenen Wochen, teils aus Notwendigkeit und teils aus reinem Ehrgeiz, gelernt, vier bis fünf Stunden lang ohne Pause im Siebenkilometertempo zu marschieren und, wenn es nötig war, ihnen auch eine Stunde lang in ihrem eigentümlichen Hundetrab zu folgen. Zum Glück war meine Gegend hier vor knipswütigen Touristen sicher, denn ein Bild von uns dreien in voller Fahrt wäre mir peinlich gewesen – ich zog nämlich dabei stets die Hosen aus, hing sie mir zusammengerollt auf den Rücken und sockelte in Hemd, Gamaschen und Stiefeln hinter den beiden her.

Es mochte gegen drei Uhr morgens sein, als wir das Lager verliessen. Die Steppe lag in hellem weissem Vollmondlicht; Baum und Busch warfen harte schwarze Schlagschatten auf die taufeuchten silberschimmernden Grasflächen. Hier und da schnob es erschreckt im Dickicht auf: dunkle Tiergestalten brachen prasselnd heraus und verschwanden wie Schatten im milchigen Zwielicht. Der an das Muhen der Ochsen erinnernde tiefe Ruf einer Rohrdommel dröhnte vom oberen Wasserloch herüber; von einer Kandelaber-Euphorbie herab, die wie aus schwarzem Stein gehauen vor dem bleichen Nachthimmel stand, klangen die melodischen Kadenzen eines Orgelwürgers durch die Stille. Einmal rollte auch fernes Löwengebrüll über die Ebene, und aus dem schwarzen Schlund eines Korongos antwortete das langgezogene Heulen einer Hyäne. In leise verhallendem Echo brachen sich die Töne am Bergeshang, dann sank die nächtliche Wildnis wieder in ihr tiefes, brütendes Schweigen zurück.

Die Speere geschultert, wortlos und mit unbeirrbarem Richtungssinn pendelten meine beiden wilden Gefährten vor mir dahin. Wir waren schon weit über eine Stunde unterwegs, als der Alte am Rande einer kleinen Buga mit einem halblauten Wort und einem warnenden Heben des Speeres auf einmal stehenblieb und in die tiefen Schatten eines hohen Gebüschs hinüberspähte.

»Was ist?« fragte ich leise.

»Löwen. Zwei oder drei. Sie fressen«, flüsterte Ndonje.

Ich beschrieb mit der Hand einen Halbkreis, um anzudeuten, dass wir die Lichtung umgehen sollten, da wandte sich Loldogo um, raunte lächelnd seinem Sohne ein paar Worte zu, und im nächsten Augenblick fuhr ich unter einem schrillen Geschrei zusammen, das die beiden plötzlich in den höchsten Fisteltönen ausstiessen. Und zu meinem noch grösseren Schrecken setzten sie sich gleichzeitig in kurzem Trabe in Bewegung, geradeswegs auf die Löwen zu. Ich dachte wirklich, die beiden seien plötzlich irrsinnig geworden.

Zu den unheimlichen Tönen in kurzem Takte stampfend, die hocherhobenen Speere in den Händen und die steifen Zöpfe auf den Rücken schüttelnd, rückten sie langsam vor. Nunmehr begriff ich, was sie beabsichtigten, und ich stimmte – es fiel mir wahrhaftig nicht schwer – aus vollem Halse in das Tollhäuslergekreisch mit ein. Aus lauter Angst natürlich!

Und das Unglaubliche geschah – ich selbst sah, wie sich einer der Simbas, der in das Mondlicht herausgetreten war, ein paar Sekunden lang unschlüssig hin und her drehte und dann in flachem Sprunge abging. Aus dem Schatten heraus ertönte ein drohendes Knurren und Grollen, das von den beiden Ndorobbo mit einem noch gesteigerten, trillernden Gekreisch beantwortet wurde, und dann stürmten sie plötzlich in langen Sprüngen vorwärts, auf eine dortliegende dunkle Masse hinauf, und schwangen mit einem hallenden Triumphruf ihre Speere.

Ich trat kopfschüttelnd hinzu und konnte mich lange Zeit nicht ob der Tatsache beruhigen, dass vor meinen eigenen Augen hier soeben drei Löwen vor dem Gekreisch zweier Ndorobbo davongelaufen waren, fort von dem kaum angeschnittenen und noch warmen Kadaver eines gerissenen Gnubullen. Es war unglaublich; aber noch unglaublicher war das, was dann geschah, als meine Leute herangekommen waren. Ich habe oftmals Schwärme von Aasvögeln und einige Male auch Rudel von Hyänen und Schakalen beim Mahle beobachtet, aber so etwas von wilder Gier, von gegenseitiger Missgunst und wüster Katzbalgerei um die besten Brocken, von hemmungsloser Gehässigkeit wie das, was sich dann unter meinen nach Fleisch ausgehungerten Leuten abspielte, hatte ich noch nie gesehen. Dass der Kavirondo einfach in den Bauch des Gnus hineinkroch und sich darinnen an irgendwelchen Dingen gütlich tat, wunderte mich nicht – von ihm hatte ich nichts anderes erwartet. Aber auch der Nyampara, der Boy und der kleine Mtoto rissen sich gegenseitig die nur flüchtig zwischen zwei Fingern ausgepressten Gedärme vom Munde weg und schlangen sie mit viehischer Gier hinunter.

Zuletzt konnte ich es nicht mehr mit ansehen und trieb sie mit Schimpfworten, und als das nichts half, mit dem geschwungenen Speerschaft von dem Kadaver weg. Am anständigsten benahmen sich die beiden »Wilden«: sie schnitten sich flink und sauber je ein grosses Stück Lendenfleisch heraus und hingen es sich an einem ausgequetschten Darm über die Schulter. Dann ergriffen sie ihre Speere und forderten mich auf, mit ihnen weiterzuziehen. Aber so sehr mir auch an Aufnahmen lag, von hier konnte ich jetzt nicht weggehen, denn meine zweibeinigen Hyänen hätten sich krank und marschunfähig gefressen, und ausserdem wollte ich so viel wie möglich von diesem Geschenk der afrikanischen Götter heimschaffen und konservieren lassen. So setzten die beiden ihren Weg allein fort, und ich kommandierte und prügelte herum, bis der Bulle gestreift und die besten Fleischstücke in Lasten zerlegt waren. Für mich selbst briet ich ein Stück Leber am Spiess. Während ich den seltenen Leckerbissen verzehrte, war ich jeden Augenblick darauf gefasst, dass der Hunger die Simbas zu ihrem Bullen zurücktreiben würde, und dass sie uns durch ein paar Prankenhiebe belehren würden, wem er eigentlich gehörte.

Doch sie kamen nicht zurück. Kurz vor Sonnenaufgang schickte ich meine sechs Vielfrasse schwerbeladen und mit der Weisung nach Hause, nochmals zurückzukommen, um den Rest des Fleisches und die Haut, die allerdings durch die Prankenschläge der Löwen arg zerrissen war, zu holen. Damit sich aber unterdessen keine vierbeinigen Liebhaber für »unser« Fleisch einfanden, sollte Tumbo daheimbleiben und es mittlerweile in Streifen schneiden.

Schon als wir die Löwen weggejagt hatten, war im Dickicht ringsum das Winseln, Kläffen und Heulen hungriger Schakale und Hyänen hörbar gewesen, und im Laufe der Stunden waren ihre Kopfzahl und auch ihre Dreistigkeit noch fortwährend gewachsen. Jedes etwas weiter fortgeschleuderte Stück Abfall wurde sofort von einer oder auch mehreren schattenhaften Gestalten unter giftigem Gefauch und Geknurr gepackt und verschlungen, und mit dem ersten Sonnenstrahl kamen dann noch neue ungebetene Gäste durch die Luft herbei. Zuletzt zählte ich sechzehn Geier, drei Marabus und ein paar Dutzend Bussarde und Milane, die innerhalb meines Gesichtskreises auf Büschen und Bäumen sassen. Wahrscheinlich haben weiter weg noch mehr gesessen; ich konnte es nicht feststellen, denn sowie ich mich von dem Kadaver weggerührt hätte, wäre die ganze zwei- und vierbeinige Gesellschaft sofort darüber hergefallen.

Gegen Mittag kamen meine Leute, faul und unlustig, denn sie hatten sich natürlich überfressen, endlich angetrottet, und wir hatten kaum die Rücken zum Heimmarsch gewendet, als sich der geflügelte Schwarm keifend, zischend und Schnabelhiebe austeilend auf die schäbigen Reste stürzte.

Im Lager Ol Matun aber roch es dann bis in die späte Nacht hinein wie in München auf der Oktoberwiese. Das in kleine Stückchen geschnittene Fleisch wurde auf Stäbchen gespiesst und diese dann, schräg nach innen geneigt, rings um grosse Feuer in den Boden gesteckt. An jedem der Feuer sass ein Mann und sorgte durch langsames Umdrehen der Stäbchen dafür, dass die Fleischstückchen gut durchgeröstet wurden. So zubereitetes und dann noch luftgetrocknetes Fleisch hält sich auch in tropischem Klima längere Zeit. Meine Ndorobbo trugen auf weiten Märschen diesen Proviant, auf Fäden gezogen, wie eine Schmuckkette um den Hals; wenn sie die Hände nicht frei hatten, fassten sie einfach ein Stück mit dem Munde und kauten es während des Gehens, ein Brauch, den ich neben manchem anderen prompt von ihnen übernahm.

Einige Wochen darauf war ich eines Spätnachmittags mit meinen Führern unterwegs nach Hause. Dieser und der vorhergegangene Tag waren für mich ausserordentlich erfolgreich gewesen. Dank der Geschicklichkeit der beiden, die nunmehr ganz gut begriffen hatten, worauf es bei der Kamerajagd ankam, hatte ich sechzehn Aufnahmen von verschiedenen Gazellen- und Antilopenarten und von einem Trupp Giraffen erlangen können; zusammen mit den seither gemachten war ich jetzt bereits im glücklichen Besitz von achtunddreissig Tierbildern. Keines war zwar so aussergewöhnlich und selten wie die von dem sprungbereiten Leoparden und von den kämpfenden Pavianen, als Illustrierung meiner Artikel aber waren sie alle gut verwertbar. Seit einiger Zeit hatte ich auf längeren Märschen keinen von meinen Leuten mehr mitgenommen; so sonderbar es klingen mag, sie hatten sich – obwohl sie Eingeborene waren – als ausserstande erwiesen, sich dem Schritt und den mehr als frugalen Marschgewohnheiten der Ndorobbo so anzupassen wie ich, der Europäer. So hatte sich Ndonje eines Tages aus freien Stücken erboten, meine grosse Kamera in seinem Rückennetz zu tragen; ich selbst übernahm neben dem Kodak die Lederhülse mit dem Stativ, die ich wie einen Pfeilköcher an einem Schulterriemen trug, und Papa Loldogo belud sich mit einem Bündel gefüllter Wasserkalebassen. Proviant nahmen die beiden in der Regel überhaupt nicht mit, und ich begnügte mich meistens mit einem Stück Brot oder mit Schokolade, die ich in meiner Felltasche trug. Wenn einmal die Mägen der Ndorobbo allzu vernehmlich knurrten, kostete es sie meistens keine Viertelstunde, bis sie wenigstens einen geniessbaren Vogel mit einem Pfeilschuss erlegt hatten, und natürlich bekam auch ich dann ein Stück von dem leicht angerösteten Fleisch.

Manchmal bestand ihre Beute allerdings auch nur in einer Handvoll Heuschrecken, ein paar Fröschen, einer Schlange oder einem angebrüteten Straussenei – in solchen Fällen hielt ich es mit Schiller: »... da wendet sich der Gast mit Grausen.« Eine Decke für die Nacht hatte ich mir ebenfalls abgewöhnt; wenn wir uns zum Schlafen niederlegten, zog ich einfach Rock und Hosen an und machte es wie meine wilden Weggenossen, indem ich mich auf der vorher natürlich abgefegten warmen Feuerstelle zusammenrollte. Es fehlte nur noch, dass ich meinen lang herniederwallenden Schopf mit Fett und roter Erde eingeschmiert und in Zöpfe geflochten hätte, um ihnen in allem zu gleichen, wie mir eines Abends der alte Mze schmunzelnd sagte. »Dein Körper, Bwana, und deine dünnen Beine sind ohnehin wie bei einem Ndorobbo«, setzte er, nicht ganz zu meinem Beifall, hinzu.

Steifbeinig, müde, ausgehungert und nach einem Mokka schmachtend, wackelte ich an jenem Nachmittag über die glutheisse Steppe. Meine beiden unermüdlichen Windhunde waren mir seit einer Viertelstunde ausser Sicht gekommen; ich dachte schon, sie seien gar nicht zu meinem Lager, sondern wortlos, wie sie so vieles taten, zu dem ihrer Sippe weitergegangen, als auf einmal Ndonje in vollem Laufe über eine Bodenwelle herab- und mir entgegengerannt kam. Aus dem, was er in seinem Kindorobbo-Kisuaheli-Gemisch keuchend hervorstiess, erfasste ich die Worte »Komm schnell! – Mann weiss kommen – klein Weg von Ol Matun!« und darauf folgte mit emporgezogenen Brauen und nachdrücklicher Betonung wiederholt das rätselhafte Wort » Dischikomscha!!«

Wer oder was » Dischikomscha« war, konnte ich nicht aus ihm herausbekommen. Fest stand nur, dass ein Weisser auf dem Marsch nach Ol Matun und nicht mehr weit davon entfernt war. So zog ich, als dringendstes Gebot der Schicklichkeit für einen Gastgeber, erst einmal meine Hosen an und stiefelte dann in freudigem Eifer mit dem Jüngling los – seit über drei Monaten hatte ich keinen Weissen mehr gesehen.

Einen Kilometer weiter hob mein Begleiter den Speer und zeigte auf einen Streifen Steppenwald. Eine Reihe von Menschengestalten bewegte sich dort entlang und dazwischen, von der tiefstehenden Sonne beleuchtet, tauchte immer wieder etwas Blitzendes auf. Gleichzeitig aber hörte ich links hinter mir einen schwachen Ruf erschallen und sah dann den alten Mze mit aufgeregten Gebärden auf mich zugelaufen kommen.

» Bwana, wir haben wieder Fleisch!« berichtete er atemlos. »Ein Schwein. Mlomu hat es beim Holzsammeln gefunden. Es ist tot. Und nicht weit davon liegt ein Simba. Er ist beinahe tot, aber ein bisschen lebt er noch.« Der Alte nahm eine Prise, schaute mich blinzelnd an und setzte kopfnickend hinzu: » Bwana, es ist ›unsere‹ Löwin, ich bin ganz sicher!«

Ein gefundenes Wildschwein war eine nahrhafte und auch interessante Sache, ein ankommender Weisser ebenfalls, ein sterbender Löwe aber die allerinteressanteste. Wenigstens für mich. Und auch, wenn es doch nicht »unsere« Löwin war.

So bog ich, ungeachtet des erstaunten Gesichts Ndonjes, stracks vom Wege ab und stand, von Mze geleitet, nach zehn Minuten dem sterbenden Löwen gegenüber.

Er lag in einer von den Wurzeln eines Baumes gebildeten schmalen Mulde in der steilen Erdwand eines kleinen Nebenkorongos. Von drunten war nicht viel mehr als eine über eine Wurzel schlaff herabhängende Pranke zu sehen, in der gespreizte weisse Krallen blinkten. Von oben verdeckte die Baumkrone jede Sicht. So klomm ich an der gegenüberliegenden Wand der engen Schlucht hinauf, doch auch von hier waren nur ein Teil des Halses und des Kopfes und der helle Bauch des auf der Seite liegenden Tieres zu erblicken. Es war eine Löwin. Sie lag völlig reglos; erst als ich, so weit wie möglich vorgebeugt, eine ganze Weile die Brust beobachtet hatte, bemerkte ich, dass sie sich noch leise hob und senkte.

So gut es bei meiner verrenkten Stellung und dem rasch schwächer werdenden Tageslicht ging, machte ich zwei Aufnahmen mit dem Kodak; wie ich mir schon gedacht hatte, zeigten sie jedoch nach dem Entwickeln nicht gerade viel. Hätte ich ein Buschmesser zur Hand gehabt, so wäre nach dem Wegschlagen von Gezweig vielleicht eine bessere Aufnahme von oben möglich gewesen.

Solange ich mich halten konnte, hing ich, an einen Strauch geklammert, an der Wand und sah mit seltsamen Empfindungen zu der sterbenden Löwin hinüber. Es war sehr still ringsherum, die friedvolle Stille der letzten Tagesstunde. Der Alte sass, die Hände um die Knie geschlungen, unter mir auf einem Steinblock und sah schweigend vor sich hin. Ein schwaches Röcheln drang aus der Mulde heraus, gleichzeitig vernahm ich ein Rauschen in den Lüften, dann musste ich loslassen. Noch einmal emporblickend sah ich, wie sich soeben ein Geier auf einem Ast über der Löwin niederliess, und in jäher Wut riss ich die Pistole aus dem Gürtel und feuerte rasch nacheinander drei Schüsse auf den Aasjäger ab. Ich hatte ihn nicht getroffen, krächzend erhob er sich und begann hoch droben am verglühenden Himmel ein langsames Kreisen. Nunmehr kletterte auch Mze rasch bis zu dem Strauch hinauf, doch er liess sich mit den Worten: » Amekufa, Bwana! – Sie ist gestorben, Herr« sofort wieder herunter. – »Es ist bestimmt ›unsere‹ Löwin«, fuhr er fort. »Sie hat Junge, und deshalb musste sie auch bei Tage nach Nahrung ausgehen, was Löwen sonst nicht tun. Dort ist die Stelle, wo sie das Schwein getötet hat und von ihm verwundet worden ist. Es ist ein alter Eber mit sehr grossen Hauzähnen. Wollen wir heute nacht gehen und die Kinder der Löwin suchen, Bwana

Ich schüttelte den Kopf; so sehr mich auch die Vorstellung bekümmerte, dass jene reizenden Löwenbabies nunmehr einem elenden Ende durch Hunger oder durch die Zähne einer stinkenden Hyäne preisgegeben waren, ich war heute zu keiner weiteren Unternehmung mehr fähig. Und ausserdem liess mich der Gedanke an den dornigen Schlupfwinkel der Löwenfamilie unwillkürlich mit der Hand an eine bestimmte, immer noch leicht schmerzende Stelle im Hintergrund greifen.

Mit gesenktem Kopfe und mit Beinen, die kaum noch fortzuschleppen waren, stolperte ich durch die rasch sinkende Nacht. Aus dem Korongo drang der helle, weisse Schein von Petrolgaslampen und Stimmengemurmel herauf. Vor dem Lagereingang stand ein dichtgedrängter Haufen Menschen; es waren meine eigenen und eine Anzahl fremder Träger, dazwischen mehrere uniformierte Askari. In der Mitte des Kreises lag ein ungeheurer Wildeber am Boden, ein langer dünner Mann in kurzen Hosen und Khakihemd, der eine Laterne in der Hand trug, richtete sich von der Besichtigung des Kadavers auf und trat mir mit den Worten entgegen: »Guten Abend. Mein Name ist Delafontaine. Ich bin der Distriktskommissar von Taveta. – Haben Sie die drei Schüsse abgefeuert, die ich vor einer Viertelstunde dort draussen hörte, Mister Heye? Und worauf haben Sie geschossen, wenn ich fragen darf?«

Ich sah ihn, blinzelnd vor Müdigkeit, an und zuckte die Achseln. »Entschuldigen Sie, Mister Delafontaine, aber ich muss wirklich erst ein bisschen absitzen und mir etwas in den Magen tun, ehe ich vernehmungsfähig bin. Wenn Sie an meinem bescheidenen Abendbrot teilnehmen wollen, sind Sie herzlich willkommen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte ich nach meinem Hause weiter, liess mich krachend aufs Bett fallen und streckte alle viere von mir. Ich hatte mir mein erstes Zusammentreffen mit einem Weissen nach so langer Zeit ein wenig anders vorgestellt.


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