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Sechstes Kapitel

Das liebe Geld – Die Obstgartensteppe – Der unerkannte Honigdachs und das unsichtbare Rhinozeros – Ein gefiederter Spielverderber – Hindernisrennen in den Athi River Plains – Inschriften der Wildnis – Das vom Tode umlauerte Wasserloch

 

Während der folgenden zwei Tage herrschte Arbeitsruhe im Lager Ol Matun. Das heisst nur bei meiner Mannschaft, die auf Safari nach der Station gehen sollte. Ich selbst sass wie angenagelt in meiner Behausung und hämmerte auf meine Schreibmaschine los, dass mir der Kopf rauchte. Das Ergebnis waren vier Zeitungsartikel und ein paar Briefe. Die Artikel gingen an meinen Freund und Gönner Dr. Morgenstern, der in meiner fernen Heimatstadt, unablässig schimpfend und mit Grobheiten um sich werfend, aber innerlich voll nie ermüdender Hingabe, das Feuilleton einer Arbeiterzeitung leitete. Er hatte es übernommen, meine Artikel in seinem eigenen Blatt herauszubringen und sie als Nachdrucke bei andern Zeitungen »zu verhökern«, wie er sich ausdrückte. Die dafür bezahlten Honorare bildeten einen Teil meiner Einkünfte, und zwar den kleineren und unsicheren. Der grössere und regelmässige Teil floss mir durch eine Abmachung mit einer amerikanischen Zeitschrift zu, wonach ich jeden Monat einen Artikel mit Bildern zu liefern hatte und als Gegenleistung fünfzig Dollar erhielt. Auch diese einträgliche Verbindung hatte ich Morgenstern zu verdanken.

Die insgesamt vier- bis fünfhundert Franken, die mir meine Schreiberei monatlich einbrachte, waren vorläufig alles, was mir zur Verfügung stand, um ein so kostspieliges Unternehmen, wie es die Kamerajagd in Afrika ist, zu betreiben. Wenn mir bei meinem wilden Hämmern einfiel, was ich an laufenden Ausgaben und vielerlei unumgänglich notwendigen Anschaffungen zu bestreiten hatte, so wollte mir neben dem Arbeitsschweiss fast noch der Angstschweiss ausbrechen. Und das auch noch aus einem andern Grunde: der ganze Plan, in Afrika auf die Kamerajagd zu gehen, wäre für mich völlig unausführbar gewesen, wenn ich nicht – ausser einigen Ersparnissen, die ich einer früheren festen Anstellung in Ägypten verdankte – im Besitz einer vorzüglichen Tropenkamera gewesen wäre, geliefert von einer Zeitschrift, die mich für eine Reporterreise um die Erde verpflichtet hatte. Diesen Vertrag hatte ich zugunsten meiner neuen Pläne gekündigt, und dabei hatte ich mich, gerade herausgesagt, eines verwerflichen Schwindels schuldig gemacht: ich hatte der Redaktion nämlich geschrieben, dass die Kamera sehr mitgenommen und reparaturbedürftig wäre. Das war auch tatsächlich der Fall gewesen, aber ich hatte verschwiegen, dass sie auf meine Kosten bereits wieder in Ordnung gebracht worden war und nur an äusserer Schönheit eingebüsst hatte, was ihrem Wert für meine jetzigen Zwecke keinen Abbruch tat. Mir lief es kalt über den Rücken, sobald ich nur daran dachte, dass meine Leute bei ihrer Rückkehr von der Station einen Brief der Redaktion mitbringen könnten, in dem ich vielleicht aufgefordert würde, die Kamera zurückzuschicken ... Nicht nur, dass ich gar keine Möglichkeit sah, mir eine andere anzuschaffen – auch die Tatsache, dass ich mich an den gewichtigen und komplizierten, aber äusserst soliden und zuverlässigen Kasten gewöhnt und ihn gewissermassen liebgewonnen hatte, beschwerte mein Herz. – Es sei schon an dieser Stelle bemerkt, dass sich unter der einlaufenden Post wirklich ein Brief der Redaktion befand; zu meiner Erleichterung stand darin jedoch, ich könne die Kamera unter der Voraussetzung behalten, dass die »Mussestunde« – so hiess die Zeitschrift – ab und zu eine meiner Tieraufnahmen zur Veröffentlichung bekäme. Diese Abmachung habe ich getreulich eingehalten, bis im August des folgenden Jahres der eiserne Vorhang hinter mir fiel. –

Als letzten schrieb ich in später Nacht noch einen Brief an den Stationsvorsteher von Simba, in dem ich ihn bat, die beiliegende Post weiterzubefördern, meinen Leuten sechs genau bezeichnete Lasten von den bei ihm lagernden auszuhändigen und mir überdies aus Tsavo oder Nairobi eine Anzahl Ziegen zu besorgen. Meine Träger würden in etwa zehn Tagen wiederum zur Station kommen und die Tiere dann mitnehmen. Als Anzahlung legte ich dem Schreiben eine Fünfzig-Rupien-Note bei.

Mit dem ersten Lichtschimmer des nächsten Morgens standen die sechs Leute marschbereit. Ausser der Schlafdecke, der Wurfkeule und einigen persönlichen Habseligkeiten, die jeder bei sich hatte, trug einer den allgemeinen Kochkessel, ein zweiter, in ein Tuch eingeknüpft, einen Vorrat von ungeschältem Reis; die andern hatten sich mit Wasser in Kalebassen – Flaschenkürbissen – beladen. Mze, ihr Vormann, rollte das in Wachstuch eingewickelte Briefpaket, zusammen mit einer grossen Büchse Corned beef, in sein Bündel. Ich hatte sie ihm heimlich zugesteckt mit der Weisung, am übernächsten Tage mit dem Fleisch ihrer Reismahlzeit eine etwas kräftigere Grundlage zu geben, und ausserdem den Stationsvorsteher gebeten, den sechsen, wenn irgendmöglich, auf der Station etwas frisches Fleisch abzulassen. Ermahnungen und Verhaltungsmassregeln brauchte ich dem umsichtigen und vielerfahrenen alten Mze nicht mit auf den Weg zu geben. Als er mir aber mit einem » Kwaheri, Bwana – Lebwohl, Herr« seine runzlige grauschwarze Hand entgegenstreckte, drehte ich mich in einem raschen Impuls um, holte meine Schrotflinte und ein halbes Dutzend Patronen herbei und drückte sie ihm in die Faust. Den Leuten konnte auf ihrem Marsche durch die Wildnis eher etwas zustossen als mir hier im Lager, und auch wenn nichts geschah, so verlieh ihnen das Bewusstsein, eine Feuerwaffe mitzuführen, das Gefühl grösserer Sicherheit und steigerte dadurch ihre Bereitwilligkeit, die unvermeidlichen Strapazen des langen Marsches auf sich zu nehmen. Für meine Sicherheit kam ja notfalls auch noch die in den Tiefen eines Koffers ruhende verbotene Mauserpistole in Frage.

In den nächsten fünf Tagen träumte der Weiher von Ol Matun so ruhevoll unter seinen Uferbäumen und spielte sich das tausendfältige Leben in Luft und Wasser und im dunkelschattigen Dickicht so unbekümmert ab, als hätte noch nie eines Menschen Fuss diese einsame Oase in der grossen Einöde betreten. Zusammen mit Tumbo war ich fast dauernd unterwegs, um mein Revier zu erkunden. Ich hatte mir vorgenommen, am sechsten Tage meinen Trägern ein Stück Weges entgegenzugehen, aber es war wie verhext: täglich geriet ich in eine Lage, in der mir schon das blosse Heimkommen höchst fraglich erschien.

Am ersten und dann nochmals am fünften Tage – beide zeichneten sich durch bedeckten Himmel aus – handelte es sich um ein regelrechtes Verirren. Die weiten Steppen östlich und westlich von meinem Standquartier waren in ihrem landschaftlichen Charakter so gleichförmig und eintönig, dass es ohne Sonnenlicht auch meinem Boy unmöglich war, genau anzugeben, in welcher Richtung sich das Lager befand. Es handelte sich überwiegend um sogenannte »Obstgartensteppe«, verhältnismässig lichtstehende, niedere und breitkronige Akazien- und Mimosenarten, die auf spärlich begraster, von Unterholz fast völlig freier Fläche wuchsen. In einem ausgedehnten Gebiet westlich von Ol Matun waren die Bäume zum grossen Teile noch in Blüte. Als ich dort von einer Bodenerhebung aus auf die weiss- und rosarotschimmernden Baumkronen herabblickte, war die Ähnlichkeit mit einem heimatlichen Obstgarten im Monat Mai ganz unverkennbar; unwillkürlich suchten meine Augen in diesem Blütenmeer den ragenden Kirchturm eines friedlichen Dörfchens.

Es mochte zwischen zwei und drei Uhr nachmittags sein, als ich auf jenem Hügel sass und in die vorgetäuschte Frühlingsflur hinausträumte. Seit dem frühen Morgen hatte ich wiederholt versucht, zu einer Tieraufnahme zu kommen, aber stets war es vorbeigelungen. Zuerst hatte mich ein alter Gnubulle enttäuscht, der voller Tücken und Ränke steckte und immer wieder, wenn ich glaubte, ihn nunmehr erwischen zu können, davongebraust war. Nachdem ich ihn schliesslich mit einem frommen Wunsche aufgegeben hatte, war ich drei gute Stunden lang von einem Trupp Grantgazellen kreuz und quer durch einige Quadratmeilen Obstgartensteppe an der Nase herumgeführt worden, bis ich auch diese Hoffnung fahren liess. Ein paar Schritte unterhalb von mir hockte Tumbo, scheuerte mit schläfrigen Bewegungen mein Kochgeschirr und griff sich dazwischen immer wieder seufzend an seine Zehen. Er hatte Sandflöhe darin, und das ist wirklich ein Grund zum Seufzen. Auf einmal verharrte er regungslos, sah starr zu einer dunkelbewaldeten Schlucht am Berghang hinüber und wandte sich mit einem geraunten » Bwana, da drüben kommen Elefanten!« nach mir um. Ich musste das Glas zu Hilfe nehmen, um in den grauen Punkten, die sich dort bewegten, Elefanten zu erkennen. Da immer wieder einzelne durch Fels- und Baumgruppen verdeckt wurden, konnte ich sie nicht genau zählen; es mochte eine Herde von zwölf bis fünfzehn Tieren sein.

Sie kamen den Berg herunter, und bei dem Gedanken, dass ich sie vielleicht vor das Objektiv bekommen und somit als erste Wildaufnahme ein Elefantenbild erlangen könnte, schlug mein Herz rascher. Wenn ich ihnen aber den Weg abschneiden wollte, ehe sie rechts im zerrissenen Hügelgelände verschwinden würden, musste ich laufen wie der Teufel. Zwei Minuten darauf lief ich auch schon, schoss den Hügel hinab und in langen Sätzen blindlings zwischen die Bäume hinein. Doch man soll in den Athi River Plains niemals blindlings dahinrasen! Das erste, was mir unversehens zwischen die Beine und dann mit bösartigem Gefauch an die rechte Gamasche fuhr, war ein zu Tode erschrockenes, niederes und langgestrecktes Wesen mit auffällig heller Rückenbehaarung. Ich machte – nicht weniger erschrocken – einen Sprung nach rechts, der Weissrück einen nach links, und ohne mich mit der Feststellung seiner Identität aufzuhalten, rannte ich weiter. Sonderbarerweise vergingen danach volle dreizehn Jahre, ehe ich wieder ein solches Tier zu Gesicht bekam, und erst dann erfuhr ich, dass es sich um einen Honigdachs gehandelt hatte.

Das nächste, was mich aufhielt, war ein wüstes Prasseln, Krachen und Stampfen, das sich plötzlich vor mir hinter einer dichteren Baumgruppe erhob. Was da eigentlich flüchtig geworden war und quer zu meiner Laufrichtung zwischen den Bäumen dahinstob, konnte ich ebenfalls nicht feststellen. Da mir aber der durch das Nashorn am Termitenbau verursachte Schrecken noch frisch im Gedächtnis haftete, war ich im nächsten Augenblick mit einer Behendigkeit, die einem ausgelernten Hundsaffen Ehre gemacht hätte, auf einer Akazie droben. Durch das dichte Blättergewirr vermochte ich nichts zu sehen, doch ich hörte das Geprassel in einem bedrohlichen Halbkreis um mich herum toben, und obwohl ich es ausserordentlich eilig hatte, stieg ich nicht früher hinunter, als bis alles wieder still geworden war.

Ich hatte zehn Minuten verloren, deshalb rannte ich mit erhöhter Geschwindigkeit, aber nunmehr doch ein bisschen vorsichtiger, weiter, immer in Sorge, ob ich auch die rechte Richtung einhielt. Hier und da flüchtete ein einzelnes Stück Wild vor mir; ein mittelgrosser, grau- und braungesprenkelter Vogel begleitete, von Baum zu Baum fliegend, meinen Dauerlauf mit weithin hallendem Schimpfen. Dann lichtete sich der Hain; eine freie, flache Senke tat sich vor mir auf: eine ungeheure Wildherde tummelte sich auf der weiten Grasfläche. Wie überall in diesen Gegenden bestand sie zur Hauptsache aus Zebras. Es mussten viele Hunderte sein; dazwischen waren Rudel von Gnus, Wasserböcken, Kuhantilopen und andern Antilopenarten zu sehen.

Bei diesem Anblick schwante mir sogleich Unheil, denn wenn ich die ganze »Buga« umgehen wollte, so wären die Elefanten, von denen ich seit meinem Losrennen nichts mehr gesehen hatte, längst über alle Berge gewesen. Also in ruhigem Schritt mitten durch das Gewimmel hindurch! Einen Augenblick stand ich noch verschnaufend unter dem letzten Baume und wischte mir den strömenden Schweiss von Gesicht und Brillengläsern, aber kaum hatte ich die Brille wieder aufgesetzt, da sah ich schon, wie ein Rudel Thompsongazellen unweit von mir mit grotesken Sprüngen abging, und als dann das niederträchtige Vogeltier plötzlich ein erneutes gellendes Warnungszeichen ausstiess, kam die ganze Masse in Bewegung. Alles stob in wildem Schrecken auseinander; selbst die entferntesten Rudel wurden mit in die Panik hineingerissen. In der verzweifelten Hoffnung, noch zeitig genug drüben am Hang anlangen zu können, ehe meine Dickhäuter ebenfalls ausrissen, brauste ich hinterdrein, was nur die Beine hergaben.

Die unbewegte Luft war schwer von den Ausdünstungen und dem aufgewirbelten Staub der flüchtenden Wildmassen. Keuchend, schweissgeblendet jagte ich über den zerstampften Boden der Niederung dahin. Meine Knie drohten zu brechen, ich glaubte, meine Lungen würden bersten, aber immer noch hoffte ich, wenigstens einen Blick auf die Elefanten und vielleicht doch noch einen Schnappschuss erlangen zu können – da brach mein rechter Fuss ein, mit einem Krach schlug ich der Länge nach hin und landete mit dem Gesicht in dem aufgewühlten Erdreich, so plötzlich und so heftig, dass mir die Funken aus den Augen spritzten. Offenbar war mir der Bau eines Erdferkels zum Verhängnis geworden.

Es war ein sehr beschädigter, schmutziger und kleinlauter Kamerajäger, der dann, mit einem zerbrochenen Brillengestell auf der zerschundenen Nase und immer noch eine Mischung von roter Erde und Wilddung ausspuckend, eine Viertelstunde später allein auf der weiten Buga stand, keine Aufnahme erzielt und keine Ahnung hatte, wo er sich selber und wo sich sein Boy mit der Kaffeeflasche befand.

Alles Rufen und Brüllen nützte nichts; auf gut Glück den Rückweg anzutreten, hätte jedoch noch viel weniger genützt, denn ich hatte natürlich bei meinem Hindernisrennen auf keinerlei Merkmale geachtet. So setzte ich mich schliesslich ergeben hin, zündete ein rauchendes Grasfeuer an und war nicht gerade strahlender Laune, als Tumbo nach einer guten Stunde endlich angehinkt kam. Ich fuhr mit der Frage auf ihn los, wo zum Teufel er denn so lange geblieben sei, doch er erwiderte nur schmerzvollen Angesichts: » Funza, Bwana! – Sandflöhe, Herr!« Als er aber hinzufügte: »Wo ist das Lager, Bwana?« setzte ich vor Schrecken die Feldflasche wieder vom Munde ab. Er wusste es also auch nicht, und als eine weitere Stunde darauf der bedeckte Himmel im Westen schwach zu glühen begann und die Nacht ankündete, da waren wir beide immer noch nicht sicher, ob wir wenigstens in der ungefähren Richtung auf Ol Matun zustolperten.

Dann kam die Nacht – rabenschwarz, schwül und unheimlich lautlos sank sie herab. Im allerletzten, schwachen Lichtschimmer aber erspähte ich noch auf einer Anhöhe die urweltliche Form eines Affenbrotbaums und wusste nunmehr wenigstens, dass wir nicht allzusehr aus der Richtung gekommen und nur noch eine knappe Stunde vom Lager entfernt waren. Als wir an dem Baume vorbeigingen, rollte aus der Ferne das erste Löwengebrüll heran; zwei, drei andere Löwen antworteten ringsum in der Dunkelheit, und in der nächsten Viertelstunde schwieg das Brüllen nicht eine Sekunde lang. Ich gebe zu, dass ich vor Angst zuletzt kaum noch gehen konnte – die Angst vor den Löwen lähmte mich und gleichermaßen die Angst, in der Stockfinsternis die Richtung doch noch zu verlieren. Mehr als einmal war ich drauf und dran, auf den nächsten dicken Baum zu klettern und dort oben die Nacht zu verbringen, doch die Scham vor dem gleichmütig dahinstapfenden Tumbo, dem nur seine Sandflöhe Kummer zu machen schienen, hielt mich davon ab.

Selten bin ich so über alle Maßen froh gewesen, daheim anzulangen, wie nach jenem Marsche in der von Löwengebrüll erfüllten Finsternis. Meine Nerven aber waren nach den Anstrengungen dieses Tages und den Ängsten der Nacht so angegriffen, dass ich erst kurz vor Tagesgrauen Schlaf fand und dann erst gegen Mittag erwachte.

Am Nachmittag ging ich allein den Korongo hinauf, um die obere, die »zahme« Tränkstelle kennenzulernen. Tumbo war daheim geblieben, um Brot zu backen und seine Funza aus den Zehen zu operieren. Diese Pest der Tropen, die – ursprünglich in Südamerika beheimatet – einen Eroberungszug um den Äquatorgürtel der ganzen Erde angetreten hat, wimmelt, mikroskopisch klein, auf allen von Menschen und weichpfotigen Tieren betretenen Stätten. Das Weibchen bohrt sich nach der Befruchtung unter die Zehennägel eines Vorübergehenden ein, ein Vorgang, den der Betreffende gar nicht bemerkt. Er merkt erst dann etwas, wenn die abgelegten Eier unter den Nägeln zu schwellen und zu jucken beginnen, bis sie zuletzt höllisch schmerzen und recht bösartige Entzündungen und Vereiterungen hervorrufen. Ich habe im Laufe der Jahre Hunderte von Negern gesehen, die durch diese Parasiten einzelne oder auch sämtliche Fusszehen verloren hatten und zu Krüppeln geworden waren. Es gibt nur einen einzigen Schutz gegen diese Plage: man muss stets festes Schuhwerk tragen und sich davor hüten, jemals den Boden mit blossen Füssen zu berühren.

Über der sonnenheissen Steppe lag die Stille des Mittags; der einzige Laut, den ich bei meinem lässigen Dahinschlendern ausser dem hohen schrillen Geigen der Zikadenheere vernahm, war das nie endende, in seiner Einförmigkeit schwermütig stimmende Rucksen der Wildtauben in Büschen und Bäumen. Vor mir baute sich düster und wolkenverhangen die Kette der Olongeberge auf; die sanftgeneigte Anhöhe, die ich hinaufstieg, bildete den letzten Ausläufer ihrer Flanken. Ein Stück weiter oben waren sie von tiefen, baumbestandenen Schluchten durchfurcht. Grosse Felstrümmer übersäten die steilabfallenden Hänge; zwischen den Felsen ragte hier und da ein riesenhafter, silbergrauer Affenbrotbaum empor. Drei- bis vierhundert Meter weiter oberhalb begann das Gebiet der Urwälder, deren schwarzgrüne Massen sich im grauen Gewoge der Wolken verloren.

Wie der alte Mze gesagt hatte, war die obere Wasserstelle nicht viel weiter als zwei Kilometer von unserem Lager entfernt; schon nach einer knappen halben Stunde stand ich davor. Bei meiner Annäherung flog eine rosenrotschimmernde Wolke von Flamingos auf; einige weisse und graue Reiher, ein paar Störche und ein einzelner Klaffschnabel – vielleicht war es der Schimpfbold von Ol Matun – besannen sich noch eine Weile, ehe sie sich ebenfalls davonmachten. Der einzige der ganzen feuchtfröhlichen Gesellschaft, der von seiner Baumwurzel nicht wankte und wich, war ein alter Marabu. Möglicherweise war es sogar ein ganz junger Marabu, aber diese sonderbaren Vogelwesen mit den eingezogenen Glatzköpfen und der unerschütterlichen philosophischen Ruhe wirken von Jugend auf uralt und urweise.

Der Tümpel lag auf der Sohle desselben Korongos wie Ol Matun; seine Wände waren jedoch viel weniger hoch und steil und überall leicht begehbar. Nur einzelne und ein wenig dürftig aussehende Bäume standen an den teilweise sumpfigen Ufern des Gewässers, das anscheinend etwas brackig war. Die romantische Schönheit von Ol Matun fehlte; der Boden ringsum aber stellte eine in ihrer Anschaulichkeit und Reichhaltigkeit einzigartige Offenbarung der afrikanischen Tierwelt dar – es gab kein Fleckchen, das nicht von Tierfüssen zertreten war. Hier mussten alltäglich, und wahrscheinlich mehr noch allnächtlich, Hunderte von Bewohnern der Wildnis jeglicher Art und Sippe herkommen, um ihren Durst zu löschen.

Der Anblick war bezwingend! Tief gebückt buchstabierte ich beim langsamen Gehen diese Inschriften der Wildnis, bis mir der Rücken weh tat. Doch es war und blieb nur ein mühsames Buchstabieren; zum flüssigen Lesen hätten die Erfahrung und die Sehschärfe meines alten Mze gehört. Ich ärgerte mich, dass er jetzt nicht hier war. In schier unerschöpflicher Mannigfaltigkeit liefen die Fährten durch- und übereinander, anfangs verwischt und undeutlich, dann immer schärfer und plastischer, je näher ich dem feuchten Ufer kam.

Neben den gröberen Spuren der Gnus und Zebras, die fast allerwärts in den Wildgebieten Ostafrikas die Rolle der »grossen Masse« spielen, neben den zierlichen Hufeindrücken der Gazellen und kleinen Antilopen, die bei näherer Betrachtung immer wieder arteigentümliche Abweichungen in der Form zeigten, neben den zahlreichen mächtigen Katzenpfoten der Löwen und den etwas kleineren der Leoparden, die ich beide schon allzugut kannte, gab es eine Menge von Eindrücken, die ich beim besten Willen nicht zu deuten vermochte. Und allenthalben sah man zwischen diesen Zeichen des Lebens die nicht minder eindringlichen des Todes – Knochen und Gehörne von Geschöpfen, die den lebensnotwendigen Trunk Wasser mit dem Leben hatten bezahlen müssen. Ueberall lagen sie herum, frische, an denen eben noch Geier und Milane gepickt hatten, und verwitterte, sonnengebleichte, die Mäusen, Skorpionen und Ameisen als Wohnstätten dienten.

Nachdenklich drehte ich den wahrscheinlich durch einen Prankenschlag zerschmetterten Schädel irgendeiner Antilope in den Händen, und als ich mir die Dramen, die sich hier so manche Nacht abspielten, vorzustellen versuchte, kam mir der Gedanke, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, derartige Tierszenen zu photographieren. Welch hinreissende Wirkung, welch grossen naturgeschichtlichen Wert mussten solche Aufnahmen haben, von ihrem geldlichen Wert für mich ganz zu schweigen!

Aus Büchern über die Kamerajagd in Afrika wusste ich freilich, wie schwierig und kostspielig Blitzlichtaufnahmen in der Wildnis sind; vielleicht konnte ich sie aber doch durch restlosen persönlichen Einsatz erzwingen! Wenn ich mir nun einen hohen geräumigen Ansitz, etwa in einem der grösseren Bäume jener Gruppe dort, einrichtete ...? Ich liess den Schädel fallen, ergriff meinen Wanderstab, den Somali-Speer, und drang in die dunkle Bauminsel ein. Sie war dicht verwachsen; ein tunnelartiger, vielbegangener Wildpfad führte hindurch. Herabhängende Ranken verhinderten hier und da die Betrachtung der Bäume; wieder schob ich eine mit der Spitze des Speeres beiseite – und sprang im selben Augenblick entsetzt zurück. Unmittelbar vor mir krachte etwas Dunkles, Schweres mit solcher Wucht aus der Baumkrone herab, dass die weiche Erde aufspritzte. Ich weiss nicht, was es gewesen war, das mich augenblicklich zurückprallen liess: vielleicht ein Geräusch oder irgendeine flüchtig wahrgenommene Bewegung oder vielleicht auch nur das, was man behelfsmässig »Instinkt« nennt – jedenfalls hätte ich nicht zwanzig Zentimeter weiter vorn sein dürfen, sonst hätte mir der zentnerschwere Baumklotz der Wildfalle den Schädel zermalmt. Die Ranke, die ich mit dem Speer berührt hatte, war die Abzugsschnur gewesen ...

Ich muss gestehen, dass ich nach diesem Schrecken das dringende Bedürfnis verspürte, mich erst eine Weile still hinzusetzen und nachdenklich eine Zigarette zu rauchen. Dann verzichtete ich auf weitere Erkundungen an diesem vom Tode umlauerten Wasserloch und ging, noch immer still und nachdenklich, nach Hause.

Aus den erwähnten Büchern war mir auch bekannt, dass der Jägerstamm der Ndorobbo an verkehrsreichen Wildwechseln solche Fallen einrichtet; demnach musste sich ein Trupp dieser menschlichen Kinder der Wildnis, die fast noch scheuer sind als die tierischen, seit kurzem hier in der Nähe aufhalten. Vor ein paar Tagen war die Falle bestimmt noch nicht dagewesen, denn dann hätte Mze sie bei seinem Besuch der Wasserstelle unweigerlich entdeckt. Dass ich keinerlei Fährten der Eingeborenen oder sonstige Spuren von ihrer Anwesenheit wahrgenommen hatte, wunderte mich nicht, denn sie sind viel zu gute Jäger, um nicht zu wissen, dass das Wild mit seinem scharfen Seh- und Riechvermögen auch die schwächste Spur wahrnimmt und mit sofortiger Flucht beantwortet. In diesem Falle kam noch hinzu, dass diese einsam schweifenden Nomaden, die jede Berührung mit andern Stämmen grundsätzlich vermeiden, erst recht vor mir, von dessen Vorhandensein sie natürlich längst wussten, ihre Anwesenheit verheimlichen wollten. Auf mich traf aber gerade das Gegenteil zu: ich musste unbedingt eine Verbindung mit diesen besten Kennern von Wild und Wildnis anknüpfen, um zu wirklichen Erfolgen zu gelangen.

Auf dem ganzen Heimweg überlegte ich, wie das zu machen sei, ohne dass mir etwas Aussichtsreiches einfiel, und erst spät in der Nacht, als mich meine Chininpille wieder einmal schlaflos gemacht hatte, kam ich auf einen brauchbaren Gedanken.


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