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Drittes Kapitel

Trüber Tag und trübe Empfindungen – Burtons Boma – Ein verhindertes Abendessen – Die Stimme in der Finsternis – Mlomu, der Vielfrass – Nächtliches Zwiegespräch – Zwei misslungene Schnappschüsse – Was es mit einem Elefantenwechsel auf sich hat – Die Hölle des Matete

 

Wir legten am Nachmittag noch eine tüchtige Strecke zurück, und um Burtons Boma nicht zu verfehlen, verglich ich unterwegs immer wieder die eingezeichneten Einzelheiten auf seiner Karte mit der Wirklichkeit. Manche stimmten, wie zum Beispiel drei nebeneinanderstehende verlassene Termitenhügel, aus deren mittlerem ein Baum hervorgewachsen war, eine Gruppe von Akazienbäumen mit merkwürdig hellroten Stämmen, ein einzelner steiniger Hügel mit der flachwelligen Landschaft. Aber von den angegebenen Dumpalmen auf dem Hügel war keine Spur zu entdecken – wahrscheinlich hatte ein Steppenbrand sie vernichtet –, und ebenso fand sich keine Spur mehr von den Resten eines alten Massai-Krals, die unweit einer scharfen Biegung des Korongos eingezeichnet waren. Bis hierher war zu unserer Rechten das dunkle Grün der Ufervegetation immer in Sichtweite gewesen.

Gerade hier war es wichtig, die rechte Stelle zu finden, denn hier sollte die Route einen weiten westlichen Bogen des Korongos abschneiden und etwa auf der Mitte des Weges die Boma liegen. Es musste nunmehr schon gegen fünf Uhr sein; wir hatten nur noch eine Stunde Tageslicht, denn hier, fast unmittelbar auf dem Äquator, geht die Sonne ja das ganze Jahr hindurch mit nur wenigen Minuten Differenz morgens um sechs auf und abends um sechs unter. Eine Dämmerung wie in europäischen Breiten gibt es kaum und an bedeckten Tagen wie diesem überhaupt nicht. – Soeben ist es noch Tag und drei bis fünf Minuten später tiefe Nacht. Und der Gedanke, von der Nacht, der heute selbst der matte Schein von Mond und Sternen fehlen würde, mitten auf der kahlen Steppe, ohne jeden Schutz und jede Deckung überrascht zu werden, verursachte mir Herzbeklemmungen – ich dachte an die Löwen!

Auch die fabelhaften Augen Mzes konnten keine Andeutung von einem alten Massai-Kral entdecken, aber ich mochte nicht schon hier im Schutze des Korongos lagern, denn dann wäre die ohnehin schon lange Strecke des morgigen Tages noch länger geworden. Ein paar Minuten stand ich unentschlossen und starrte hinaus in die in Grau verschwimmende Ferne. Ein heftiger Wind, dessen Kühle nach der lastenden Schwüle doppelt spürbar war, hatte sich erhoben; mit melancholischem Heulen fuhr er über die nackte, busch- und baumlose Ebene dahin. Etwas abweisend Verschlossenes, düster Drohendes lag über den unermesslichen Weiten.

Ein seltsames Gefühl unsäglich verlorener Einsamkeit überkam mich plötzlich, als ich dort unter dem trüben Abendhimmel stand und dem leisen, eintönigen Rauschen des windbewegten Steppengrases lauschte. Mir war auf einmal, als wäre meine Knabensehnsucht, alle Weiten dieser Erde zu durchwandern, längst keine Sehnsucht mehr, als wäre sie Schicksal und Bestimmung geworden, als würde der Weg meines Lebens für immer nur durch unermessliche, graue, einsame Weiten führen. Zum erstenmal fühlte ich mich müde, innerlich müde. – Später wurde mir dann klar, dass diese mir bis dahin ganz unbekannte Empfindung zum grössten Teil körperlich bedingt war: als Vorbote eines Malariaanfalls, meines ersten in Afrika.

Meine Leute standen in stummer Erwartung um mich herum. Alle die grossen Negeraugen waren auf mich gerichtet, auf den »Msungu«, den Weissen, der alles kann, der stets alles am besten weiss, der allein entscheidet und allein die Verantwortung trägt; und mit einem Ruck schüttelte ich die jähe Bedrücktheit ab und setzte mich schweigend und raschen Schrittes in Bewegung, unmittelbar in die graue Einöde hinein.

Allüberall standen oder zogen auch hier Rudel von Wild herum, doch jetzt hatte ich für sie kein Auge mehr, mich beherrschte nur der eine Gedanke, in dieser von Raubtieren durchschwärmten Gegend ein schützendes Nachtquartier für uns zu finden. Nach einer halben Marschstunde atmete ich erleichtert auf, denn in der mit dünnem bleichem Graswuchs bedeckten Ebene tauchte der dunkle Saum einer dornbuschbestandenen Fläche auf, die auf der Karte vermerkt war. Bald darauf erkannte ich durchs Glas auch die Landmarke, die die Nähe des Lagerplatzes verkündete, eine einzelne, gewaltige Euphorbie. Eine Viertelstunde später, kurz vor dem Verschwinden des letzten Tageslichts, hatten wir die Boma erreicht, einen kreisförmigen, gut zwei Meter hohen Wall aus abgehauenem, dornigem Buschwerk. Das Innere hätte Platz für eine fünfmal so grosse Trägerschar wie die meine geboten; in der Mitte erkannte ich sogar noch die sorgfältig eingeebnete Fläche, wo einstmals Burtons Zelt gestanden hatte. Es dünkte mich doch ein wenig bitter, dass ich kein Zelt besass, das mich und vor allem mein unersetzbares Photomaterial vor dem Regen schützen würde, den der immer ungestümer daherbrausende Wind möglicherweise bringen konnte.

Es war gerade noch Zeit, dass jeder von den Trägern draussen alles an dürrem Holz zusammenraffte, was ihm unter die Hände oder das Buschmesser kam, ehe das letzte Tageslicht verlosch. Ich selbst hatte zusammen mit meinem Boy rasch noch ein paar Dornbüsche abgeschlagen und sie auf zusammengesunkenen Stellen des Walles aufgehäuft; mit den beiden grössten Büschen verstopften wir dann, nachdem wir als letzte in die Boma gekommen waren, den schmalen Eingang. Meine Leute hatten schon zwei Kochfeuer angezündet; Mze half mir, mein leichtes Harmonikafeldbett aufzustellen, und Tumbo machte sich daran, mir ein Abendessen zu richten. Ich hatte ihm bereits in Uganda die Grundbegriffe der Koch- und Backkunst beigebracht; da er selber gern etwas Gutes – und dann um so reichlicher! – ass, lag ihm diese Beschäftigung sehr. Er hatte mir früher schon wiederholt angedeutet, dass er am liebsten überhaupt nur noch Koch bei mir sein möchte, und dass ich einen andern Mann für die Boy-Arbeit annehmen sollte. Aber erstens hatte ich kein Geld für zwei persönliche Diener, und zweitens mochte ich ihn, seiner unbezahlbaren Bierruhe wegen, nicht als ständigen Begleiter und Kameraträger entbehren.

Heute gab es noch eine üppige Mahlzeit, nämlich mit Speck gebratene Eier und Röstkartoffeln, und als Nachtisch eine Tasse Kakao, der mit Kondensmilch angemacht war. Von derartigen Delikatessen hatte ich aus Transport- und auch aus Haltbarkeitsgründen natürlich nur Vorräte für ein paar Tage mitnehmen können, späterhin würde meine Speisekarte nur noch eine Abwechslung zwischen Bohnen, Erbsen, Reis und Mais kennen. Serviert wurde das Essen auf einem meiner beiden Tropenkoffer aus Stahlblech, auf dem auch die brennende Sturmlaterne stand. Als Sitz diente der andere Koffer, der mein Photomaterial barg. Unsere Feuer gaben Licht genug, so schraubte ich den Docht der Lampe tief herunter, denn wie mit allem musste ich auch mit Petroleum sparen. In ihre Decken gehüllt, leise schwatzend und den brodelnden Kessel mit Maisbrei beobachtend, hockten die Leute um die hochauflodernden Flammen; in grotesken Sprüngen huschten ihre Schattenbilder über die bleichgraue Mauer des Dornenwalles. In der bizarr gestalteten Krone der grossen Euphorbie draussen, die kohlschwarz vor dem lichtlosen Nachthimmel stand, sauste und pfiff der Wind.

Ich hatte mir noch rasch einige Notizen über den heutigen Marsch gemacht, als die Stimme Tumbos mahnte: » Bwana, chakula anapata baridi – Das Essen wird kalt!« Während ich mit der Rechten weiterschrieb, spiesste ich mechanisch mit der Linken ein Spiegelei auf die Gabel. Doch es war mir nicht bestimmt, dieses Ei zu essen! Denn im selben Augenblick zuckte ich, zuckte auch der vor mir stehende Boy zusammen, verstummte mit einem Schlage das Schwatzen der Träger, verstummte sogar der dumpfe Ruf einer Eule im Geäst der Euphorbie – ein Ton war durch die Finsternis gedrungen, ein stossendes, tiefes Keuchen, das sich zu langanhaltendem donnerndem Gebrüll steigerte – die Stimme eines Löwen. Noch ehe sie verklungen war, wurde der machtvolle Ruf aus anderer Richtung aufgenommen und wieder und wiederum in der Runde beantwortet. In auf- und abschwellender gewaltiger Woge rollte das Gebrüll über die Steppe, bis es endlich als dumpfes Murren in den Tiefen der nächtlichen Wildnis verhallte.

Die erste Stimme war ganz in unserer Nähe erklungen; so nahe war sie gewesen – oder war sie wenigstens mir erschienen –, dass ich vor Schreck das Ei von der Gabel verloren hatte. Eine Sekunde, nachdem der letzte Laut erstorben und eine fast noch unerträglichere Stille herabgesunken war, sass ich noch wie erstarrt und mit heftig pochendem Herzen da. Dann gab ich mir jenen Ruck, den ich mir in ähnlichen Lagen schon so oft hatte geben müssen, und der hier, vor zehn Paar auf mich gerichteten, weitaufgerissenen Negeraugen, besonders nötig war, schraubte mit einem scharfen » Tinginezeni moto – Schürt die Feuer!« den Lampendocht höher, sprang auf und holte meine schwere Repetierpistole aus dem Koffer.

Unwillkürlich suchten meine Augen die des alten Mze. Er hatte sich erhoben, trat gelassen zu mir heran und sagte, mit seinem Rührlöffel hinausdeutend: »Jener › Bwana Simba‹ war nicht sehr weit von hier, Bwana! Vielleicht hat er sich über unsere Feuer geärgert. Wäre es nicht gut, wenn ich deine Schrotflinte zur Hand nähme, falls er noch näher herankommen sollte? Ich kann mit jeder Art von Gewehr umgehen.«

» Bwana Simba – Herr Löwe« hatte er voller Respekt gesagt –!

Noch ehe ich antworten konnte, wurde die beklemmende Lautlosigkeit draussen unterbrochen; aufs neue drang das nahe dumpfe Keuchen, das dröhnende Brüllen durch die Nacht. Ich drückte dem Alten die Flinte und ein paar Saupostenpatronen in die Hand, sogleich wurden die Flammen jetzt noch höher geschürt, bewaffneten sich einige der Leute mit Feuerbränden und fingen die anderen ein so wahnsinniges Gekreisch, Geheul, Gebrüll und Getrommel auf Kisten und Blechgefässen an, dass in diesem Tohuwabohu sogar die Donnerstimme draussen unterging.

Ich musste schliesslich Ruhe gebieten, um einmal hinauslauschen zu können. Aus jedem Rascheln im Grase, jedem Knacken dürren Gezweigs glaubte ich das Schleichen schwerer Pranken herauszuhören. Minuten vergingen, dann setzte die Stimme wiederum ein, doch diesmal kam sie zweifellos von ferner her.

Mir fiel ein schwerer Stein vom Herzen und, wie ich glaube, auch ein kalter Tropfen von der Stirn. Doch dann erklang eine neue Stimme, aber diesmal hier in der Boma und im Tone tiefster sittlicher Entrüstung. » A la! Was ist denn das? Du isst das Essen des Herrn! Mschenzi kabisa we, kweli! – Du bist ein richtiger Bauernlümmel, wahrhaftig!«

Tumbo war's, der sich derart ereiferte, und der Wollkopf, über den sich sein Zorn entlud, schaute hinter dem Tropenkoffer hervor und gehörte dem Ungetüm Mlomu. Er kniete zwischen meinem Tischgeschirr, das heruntergefallen war, als ich die Pistole aus dem Koffer genommen hatte. Er hatte den Mund voll Röstkartoffeln, und in der einen Hand hielt er ein sand- und kakaobeschmiertes Spiegelei. Mit der andern kratzte er verlegen seinen nackten schwarzen Bauch.

Das allgemeine wiehernde Gelächter, das jetzt losbrach, war in dieser Lage nicht mit Gold zu bezahlen. Aus schierer Dankbarkeit drückte ich dem kavirondischen Vielfrass auch noch die angebrauchte Büchse Kondensmilch in die schmutzige Faust. Mir selbst aber hatte die drohende Stimme der Wildnis den Appetit verschlagen; ich begnügte mich für diesen Abend mit ein paar Biskuits und liess mir von Tumbo dazu eine Tasse Kaffee machen.

Eine Zigarette nach der andern rauchend, sass ich danach lange Stunden auf meinem Koffer, die schussfertige Waffe in der Rechten. Trotz meiner Müdigkeit nach dem langen Tagesmarsch war mir der Schlaf ebenso vergangen wie der Hunger. Immer wieder vergewisserte sich mein Blick, ob durch die lichteren Stellen im Dornenwall nicht etwa leuchtende Raubtieraugen hereinschauten, immer wieder fuhr mein langsam niedersinkender Kopf bei jedem von draussen hereindringenden Geräusch hoch, und ich lauschte angestrengt hinaus. Nachdem die Angelegenheit mit dem Simba und die fast noch aufregendere mit dem gefrässigen Kavirondo unzählige Male im Kreise der Schwarzen durchgesprochen und durchgelacht worden war, wickelte sich zuletzt doch einer nach dem andern in seine Decke – oder in das, was ihm als Decke galt – und legte sich möglichst nahe den schützenden Feuern und möglichst fern dem bedrohten Dornenwall zum Schlafen und leider auch zum Schnarchen nieder. Und zwar ertönten solch unheimliche Schnarchlaute, dass ich mich mehrere Male täuschen liess und mit dem Gedanken hochfuhr, ein Löwe habe soeben in die Boma hereingegrunzt. In Wirklichkeit wurde in unmittelbarer Nähe unseres Zufluchtorts bis zum Morgengrauen kein einziger mehr hörbar; draussen in der nachtdunkeln Steppe aber grollte es noch lange weiter wie ferne Gewitter.

Ohne dass ich es ihm befohlen hätte, stand Mze von Zeit zu Zeit auf, schob die an den Spitzen brennenden Stämme und dicken Äste näher zusammen und umschritt leisen Ganges, hier und da stehenbleibend und durch eine Lücke hinausspähend, den Kreis des Schutzwalls. Es musste lange nach Mitternacht sein, als er einmal zu mir herantrat und halblaut fragte: »Willst du nicht schlafen, Bwana? Du kannst dich ruhig niederlegen, denn ich achte auf die Feuer, und auch wenn ich ein wenig schlafe, so höre ich doch alles.«

Ich nickte dem braven alten Burschen zu, streckte mich auf meinem Feldbett aus und schloss die Augen. Doch der Schlaf kam noch lange nicht, ich musste einfach unablässig auf die mannigfaltigen Rufe der Vögel und des andern Getiers in der nächtlichen Wildnis, auf das Brausen und Sausen des Sturmes lauschen. Als ich wieder einmal aufschaute, blinkten tröstliche Sterne am reingefegten Nachthimmel; an den prasselnden Flammen des Feuers sass, die Hände um die emporgezogenen Knie geschlungen, einsam der Alte und summte leise vor sich hin.

»Welche Stunde ist es, Mze?« fragte ich ihn leise.

»Ungefähr die neunte; in drei Stunden kommt der Tag. Du solltest nun schlafen, Bwana!«

»Ja, aber ich kann nicht. Ich bin es noch nicht gewöhnt, Löwen um mich herum zu wissen.«

»Ich verstehe. Doch du wirst dich daran gewöhnen, Bwana. Mir ist es auch so ergangen.«

»Welche Arbeit hast du eigentlich früher getan, Mze? Du warst doch nicht immer Träger?«

»Nein, Bwana. In meinen jungen Jahren war ich Polizei-Askari und später Wildhüter, hier im Reservat. Aber ich habe gefehlt und bin daraufhin entlassen worden. Meine beiden Söhne haben mich verlassen, meine Frau ist gestorben, und ich habe kein Geld, um eine neue zu kaufen, dass sie das Feld bestelle. So bin ich Träger geworden, obgleich meine Beine schon ein bisschen alt und schwach sind. – Nafanya nini, Bwana – Was will man machen!«

»Was hast du dir zuschulden kommen lassen, dass dich die Regierung entlassen hat?«

»Ein Msungu hatte eine Giraffe im Reservat geschossen, und ich habe das Bakschisch genommen, das er mir anbot, und ihn nicht gemeldet, Bwana«, antwortete er ruhig.

»Bleibe bei mir, Mze! Ich glaube, du kannst mir viel nützen, und du sollst es gut haben.«

» Ndio, Bwana«, sagte er einfach und versank wieder in seinen summenden Gesang. Bald nach dieser unerwarteten Zwiesprache in tiefer Nacht schlief ich endlich ein und erwachte erst durch die bittere Kälte des anbrechenden Tages. Gerade als ich die Augen aufschlug, trug der Morgenwind ein letztes, von weither kommendes Löwengebrüll herüber. Beim Frühstück holte ich nach, was ich beim Nachtessen versäumt hatte; die vor Kälte zitternden Träger schlangen hastig die Überbleibsel ihres gestrigen Maisbreis herunter und drängten, um warm zu werden, selbst zum Aufbruch. Als die Spitzen der Euphorbie in den ersten rotgoldenen Sonnenstrahlen erglühten, verliessen wir unser Dornenasyl und wanderten in die lichtdurchflutete Steppe hinein.

Im Gegensatz zu der grauen Trübe des gestrigen Tages war es ein Morgen von einer Klarheit und Reinheit der Luft und der Farben, wie sie kaum ein Wintertag in unseren Breiten erreicht. Der Charakter der Landschaft aber blieb derselbe wie gestern: langgestreckte Bodenwellen mit dürftigem Gras und stellenweise noch dürftigeren Akazienbüschen und Bäumchen, mit vereinzelten Kandelaber-Euphorbien, Borassus- und Dumpalmen bestanden. Auch das tierische Leben zeigte die gleiche oder womöglich eine noch grössere Überfülle als tags zuvor. Im dichteren Graswuchs der Bodensenken sprangen immer wieder die federleichten Gestalten von Zwergböckchen fast vor meinen Füssen auf und in schier unglaublichen Sprüngen davon. Die zierlichen Geschöpfe sind nicht viel grösser als Hasen und dabei doch echte Antilopen. Und gleichzeitig schreckte ich immer aufs neue durch ein plötzliches Brausen in den hohen Gräsern zusammen: aufstiebende Schwärme von Hunderten winziger Vögelchen, deren buntes Gefieder im Morgensonnenlicht funkelte wie Edelsteine. Sie lebten anscheinend von den Samen der Gräser; als ich bei der Beobachtung eines wie besessen nach Wurzeln wühlenden Wildebers eine Weile unbeweglich dastand, sah ich zwei dieser Vogelzwerge an einem einzigen Grashalm hängen, ohne dass er sich zu Boden bog.

Neben diesen kleinsten machten sich jedoch auch grössere Vertreter der gefiederten Welt in reicher Zahl und Mannigfaltigkeit bemerkbar. Verschiedene Male wurden Völker von bunten Frankolinen, von Perl-, Sand- und Steppenhühnern vor mir flüchtig, und aus Busch- und Baumgruppen ertönten immer neue fremdartige Vogelstimmen. Die meisten waren mir unbekannt; ich konnte nur das über alle Massen klägliche Kleinkindergeschrei der grotesk geschnäbelten Hornraben, den schwermütigen Gesang der tiefschwarzen Trauerkiebitze, das unaufhörliche dumpfe Rucksen der Wildtauben und in regelmässigen Abständen den unvergleichlich schönen, glockenreinen Ruf der Orgelwürger unterscheiden. Von dürren Baumwipfeln herab begrüssten nackthalsige Geier mein Erscheinen mit pfeifendem Gekrächze, und aus den blauen Tiefen des Himmels fiel immer wieder der helle, schmetternde Schrei grosser, weissköpfiger Adler herab. Auf den offenen, spärlich begrasten Flächen aber tummelten sich geradezu unfassbare Massen von Grosswild. Obgleich ich wusste, dass wir heute einen langen Marsch machen mussten, konnte ich doch nicht umhin, immer wieder stehenzubleiben und mich in die Betrachtung der Rudel von vielartigen Gazellen und Antilopen, der Herden von Gnus und Zebras zu verlieren. Der leichte frische Wind dieses Morgens wehte von den nunmehr schon näher gerückten Bergen im Süden her und mir entgegen, so dass ich mehrere Male ziemlich nahe an einzelne Wildgruppen herangelangte. Wenn sie das ruhige Näherkommen meiner fremdartigen Menschengestalt, wahrscheinlich aus blosser Neugierde, noch ertragen und mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt hatten, so jagte sie das Stehenbleiben und Anvisieren mit dem Kodak doch jedesmal in sofortige wilde Flucht. Zu einer Teleaufnahme mit der grossen Kamera aus weiterer Entfernung aber hatte ich heute nicht die Zeit.

Dennoch machte ich im Laufe des Vormittags zwei Schnappschüsse auf plötzlich auftauchende Objekte. Leider stellte sich später heraus, dass die Bilder schlecht eingestellt und somit unbrauchbar waren; ich hatte in der Überraschung beide Male den Auszug bis auf »Unendlich« herausgerissen. Das erste Tier, das mir auf kaum fünf Schritt Entfernung zwischen breitästigen Schirmakazien auf einmal vor die Augen und die Linse kam, war ein mächtiger alter Hundsaffe, der Vertreter einer in Ostafrika sehr häufig vorkommenden Pavianart. Den graubemähnten Papa warf das Entsetzen über mein unvermutetes Erscheinen mit einem förmlichen Schlag zurück. Er stiess einen bellenden Drohruf aus, fletschte das Gebiss – ein Gebiss übrigens, zwischen das ich nicht hätte geraten mögen – und ergriff mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Flucht, wobei er sich durch öfteres Zurückblicken vergewisserte, dass ich ihm nicht nachsetzte. Und ich hörte, wie sich seine zahlreiche Familie im Gebüsch, ebenfalls unter wildem Gebell und Gegrunze, mit der gleichen Schnelligkeit davonmachte.

Eine knappe Viertelstunde darauf sah ich in einem Geländeeinschnitt auf einmal die Uferbäume des Korongos wieder vor mir liegen, und als ich aus der Mittagshitze aufatmend in ihren Schatten trat, bot sich mir Gelegenheit zu der zweiten misslungenen Aufnahme. Eine ganz unbeschreibliche Gestalt wurde da plötzlich mit Gepolter vor mir flüchtig, vor ihrem Verschwinden aber doch noch schnell von mir photographiert. Erst nach längerem Nachdenken kam ich zu der Überzeugung, dass dieses Untier mit den sichelförmigen, gelben Hauern und den unförmlichen Buckeln und Knollen am Schädel ein Warzenschwein gewesen sein musste – eine Gestalt der afrikanischen Wildnis, die aussieht, als wäre sie von einem Karikaturenzeichner erfunden worden.

Unter dem Blätterdach machte die Safari eine zweistündige Ruhepause. Meine eigene war weniger lang, denn am Grunde der Schlucht hatte eine tiefeingerissene, feuchte Stelle meine Aufmerksamkeit erregt, und ich ging mit Tumbo daran, sie noch zu vertiefen. In dem entstandenen Loch lief innerhalb einer Stunde auch wirklich genug Wasser zusammen, dass wir einen der in Afrika für alle möglichen Zwecke benutzten Benzinkanister füllen konnten. Daraufhin liess ich meine eigenen Leute sich alle satt trinken und ihre Kürbisflaschen füllen; der Kavirondo übernahm willig mein Feldbett aus der Last Mzes zu seiner bisherigen und ein anderer Träger, wenn auch weniger willig, den Rest. Somit wurde der Alte für den Transport einer Wasserlast frei, und ich konnte die Leute des Goa leer von hier zurückschicken. Sie erhielten ein Bakschisch und brachen augenblicklich auf; wie sie versicherten, würden sie streckenweise traben und noch vor dem Einnachten die Station erreichen.

Bald darauf setzten auch wir unseren Marsch fort. Genau wie es Burtons Karte zeigte, gelangten wir nach einer guten Wegstunde ans Ende oder, richtiger, an den Anfang des grossen Korongos, den wir von der Station bis hierher fast ständig zu unserer Rechten gehabt hatten. Sein Bett bildete während der Regenzeit den Abfluss einer weitausgedehnten und ziemlich tief gelegenen Niederung. Sie erstreckte sich am Fusse einer Hügelkette, die dem hohen Massiv der Ongole-Berge vorgelagert war. Vom Rande der steilabfallenden Senke aus sah ich die dunkler getönten Bänder zahlreicher Wildwechsel durch das leuchtendgrüne Grasmeer des Tales führen, und auf dem von grossen Felstrümmern übersäten Hang des gegenüberliegenden Hügels erkannte ich durchs Glas auch die beiden Affenbrotbäume, die laut meiner Karte die Mündung des Mto Kauka bezeichneten – dort drüben lag unser Tagesziel.

Ich wunderte mich, dass es schon so nahe sein sollte, und war überzeugt, dass wir es nach zweistündigem Marsch erreichen würden. Eine halbe Stunde darauf aber wusste ich es besser – die ganze Niederung war mit Elefantengras bestanden, und dieses Gewächs ist bestimmt nicht von Gott, sondern vom Teufel erschaffen worden. Wobei ich gleich bemerken möchte, dass es seinen Namen nicht etwa trägt, weil die Elefanten es verzehren, sondern wegen seines gigantischen Wuchses.

Nach Rücksprache mit dem erfahrenen Mze nahmen wir einen der Wildwechsel auf, der in annähernd gerader Linie quer durch das Tal zu führen schien. Aber schon nach einer Viertelstunde dachte ich, dass ich heute nimmermehr ans Ziel kommen würde. Die Rispen der mehr als drei Meter hohen Grashalme hingen über den Pfad herab und machten ihn zu einem halbdunklen Tunnel, und der Boden bestand sozusagen aus lauter nebeneinandergestellten Sitzbadewannen, jede ungefähr einen halben Meter tief – es war ein Elefantenwechsel. Die letzten der Dickhäuter waren offenbar kurz nach der Regenzeit hier durchgegangen, als der Grund noch feucht und weich war. Jetzt hatte sich der Schlamm verhärtet; bei jedem Schritt stauchte man in eine der Wannen hinein. An ein Durchkommen ausserhalb dieses Höllenwegs war aber nicht zu denken, denn die Halme des Grases sind starr wie Bambus und ihre jungen Seitensprossen scharf wie Messer. Mit unsagbar drückender Schwüle lastete die Luft in diesem Pflanzentunnel; Myriaden von Moskitos und kleinen, nicht weniger blutgierigen Zecken überfielen uns. Wenn der Fuss wirklich einmal nicht in eine Elefantenspur hineinstolperte, verfing er sich in den verfilzten Wurzeln dieses Teufelsgrases, und diese Wurzeln besassen die Zugfestigkeit von Rohhautriemen. Zu alledem überkam mich durch den nun schon siebenstündigen Marsch nach ungenügender Nachtruhe eine bleierne Müdigkeit. Verzweifelt um mich schlagend, kratzend, keuchend und schweissgeblendet wankte ich zuletzt nur noch vorwärts. Nur der Gedanke an meine armen Kerle, die es mit ihren Lasten ja noch viel schwerer hatten, hinderte mich daran, mich schliesslich einfach hinzuwerfen. Alle Viertelstunde mussten wir eine Atempause einschalten und auf Nachzügler warten, und so brauchten wir für die drei bis vier Kilometer Weg durch das Tal gut drei Stunden.

Als ich, halbtot vor Qual und Anstrengung, endlich, endlich aus den letzten Halmen des Matete-Grases hinausstolperte, lag goldener Abendsonnenschein über den felsigen Hügeln. Wie ich noch hinauf und in die kühle Schlucht des Mto Kauka gekommen bin, weiss ich nicht mehr. Unbekümmert um alles, um Abendessen, Feldbett, Nachtkälte und Löwengebrüll, warf ich mich an der ersten besten Stelle hin, goss den jauchig schmeckenden Kaffeerest aus meiner Feldflasche herunter und versank augenblicklich in einen Bärenschlaf.


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