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Viertes Kapitel

Die »zufällig« erlegte Schopfantilope – Ein stiller und nachdenklicher Beobachter – Harte Entsagungen – Die verkannten Hundsaffen – Der Honig- und der Leberwurstbaum – »Die Nashörner sind alle verrückt, Bwana!«– Gewaltmarsch im Fieber – Das Paradies in der Wildnis

 

Es war wirklich ein ausgezeichneter Lagerplatz, an dem ich tags zuvor das Rennen aufgegeben hatte. Zu beiden Seiten war er durch die haushohen Steilwände der Schlucht geschützt. Talaufwärts hatten angeschwemmte Felsblöcke, Baumstämme und Dornengestrüpp eine natürliche Schranke gebildet, die von meinen Leuten noch vervollständigt worden war, und am unteren Ende hatte der umsichtige Mze einen Wall von mächtigen Feuern anlegen lassen.

Mein Tumbo war menschenfreundlich genug gewesen, mir einen Haufen trockenes Gras unterzustopfen und meine Decken über mich zu breiten. Gleich beim Erwachen drang mir lieblicher Kaffeeduft in die Nase. In dem schmalen Himmelsausschnitt über mir schwebten rosenrot getönte Wölkchen, die zusammen mit den vielfältigen Vogelstimmen ringsum wieder einen schönen Tag verkündeten. All das und dazu noch die Feststellung, dass ich auch diese Nacht nicht von einem Löwen gefressen worden war, bewirkten, dass ich mich recht zufrieden fühlte. Die ungewohnte Schwere, die ich beim Aufstehen in den Gliedern verspürte, schob ich den vierzig Kilometern von gestern und dem abschliessenden Hindernisrennen durch einige hundert Sitzbadewannen zu. Als ich allerdings an die »gut dreissig Meilen«, also rund fünfzig Kilometer, dachte, die mich laut Burton hier noch von Ol Matun trennten, wurden mir die Beine noch schwerer. Immerhin: ich würde es schaffen; ob aber meine Leute mit ihren schweren Lasten noch diesen Gewaltmarsch nach der gestrigen Schinderei leisten konnten, war nicht so sicher.

Als ich an ihr Feuer trat, um mich davon zu überzeugen, dass sie alle wohlauf waren, und ein paar ermunternde Worte an sie zu richten, blieb mir jedoch sogleich das zweite im Halse stecken – mein Blick war auf eine frische kleine Tierhaut gefallen, die mit Pflöcken auf dem Erdboden aufgespannt war. » Nini hii? Mali ya nane?« fragte ich scharf.

Fünf Paar Kugelaugen drehten sich mir zu und langsam wieder weg; nur der Alte stiess den neben ihm sitzenden Pesambili in die Rippen und sagte: »Steh auf und sag dem Bwana, was du für ein Dummkopf gewesen bist, und dass du es nicht wieder tun willst!«

Was der junge Pesambili – der Name bedeutet »Zwei Heller« – darauf mit gesenktem Kopfe und unter ständigem, verlegenem Kratzen an seinem Körper herausstotterte, war bezeichnend für diese schwarzen Kindergemüter. »Gestern, als wir drüben am Tale hielten, habe ich meine Wurfkeule ins Gras geschleudert, Bwana. Ich tat es nur, um mich im Werfen zu üben. Aber als ich sie wieder holte, sah ich, dass ich die kleine Antilope da getroffen hatte. Da sie schon so gut wie tot war, habe ich sie mitgenommen, und wir haben sie abends gegessen.«

Fast jedes Negerlein, das über Land geht, hat eine derartige, aus schwerem Holz geschnitzte und mit einem Knauf versehene Keule bei sich, und wenn im Grase etwas raschelt, so wirft es eben danach – es mag die Waffe hundertmal vergebens schleudern, einmal erwischt es vielleicht doch ein Stück Wild. Dass aber dieser unselige »Zweiheller« seine Keule auch hier, auf dem geheiligten Boden des Wildschutzgebiets, geworfen und unglücklicherweise auch etwas getroffen hatte, war mir höchst peinlich. Wenn die Behörden es erfuhren – und sie erfahren durch die meist gar nicht böse gemeinte Schwatzhaftigkeit der Schwarzen wirklich alles –, konnten sie mir einen derben Strick daraus drehen. So wiederholte ich meinen »sieben Schwaben« eindringlich die Predigt, die ich ihnen schon in Nairobi gehalten hatte, dass hier alles, was da kreucht und fleucht, ganz und gar unantastbar sei. Dem Sünder aber verkündete ich, dass ich die Haut der Schopfantilope auf seine Kosten an die Reservatsverwaltung schicken und ihm die Geldstrafe, die ich wahrscheinlich zu erwarten hätte, von seinem Lohn abziehen würde.

Ein schwer zu haltendes Gelübde hatte ich da auf mich genommen: inmitten von Tausenden allerwärts herumwimmelnder leckerer Rost- und Lendenbraten musste ich für die ganze Dauer meines Aufenthaltes auf frisches Fleisch verzichten. Sowohl die Entfernungen, als auch das Klima machten es unmöglich, von der Station Fleisch zu beziehen. Ich selbst konnte mir bei aller Magerkeit meines Geldbeutels dann und wann vielleicht doch eine Büchse Corned beef gestatten; wie aber meine Leute die grossen Märsche, die meine Aufgabe mit sich brachte, bei ewigen ungeschmälzten Mais- und Hirsebreien durchhalten sollten, vermochte ich mir nicht recht vorzustellen.

Während ich mein Frühstück – das nach dem gestrigen Fasten doppelt bemessen war – zu mir nahm, erkundigte ich mich, ob auch in dieser Nacht Löwen zu hören gewesen seien. Die Frage wurde mit einem fast vorwurfsvollen: » Ndio, Bwana, vingi sana – Ja, sehr viele«, beantwortet. Allerdings habe in dieser Nacht kein Löwe so nahe dem Lager »gesungen« wie in der vorhergegangenen. Kaum war dieser tröstliche Zusatz ausgesprochen worden, da winkte mir Mze, der droben zwischen den Felsblöcken auftauchte, verstohlen zu und gab mir zu verstehen, dass ich doch einmal hinaufkommen sollte. Als er auf den Schwemmsand wies, vergass ich für eine ganze Weile, an meinem zähen Stück Frühstücksspeck weiterzukauen – es waren Löwenfährten, so frisch in den leicht feuchten Sand zwischen zwei grossen Steinblöcken eingedrückt, dass die Ränder noch nicht trocken geworden waren. Der Simba musste kurz vor Tagesgrauen hier gestanden und unter ein paar quer über den Steinen liegenden Treibholz-Stämmen in unser Lager hereingespäht haben, und zwar mir gerade ins Gesicht, denn vier oder fünf Schritte unterhalb dieser Stelle lag noch der Grashaufen, auf dem ich geschlafen hatte!

»Er hat sich ganz still verhalten, Bwana«, sagte der Alte und nahm gedankenvoll eine Prise. »Entweder war es ein sehr neugieriger oder ein sehr übelwollender Simba; wer kann es wissen?« Mit einem blinzelnden Blick auf mein betroffenes Gesicht setzte er hinzu: »Aber sieh, Bwana, ich habe schon viele, viele Nächte ohne Zelt und ohne Boma hier in der Wildnis verbracht, manchmal sogar ganz allein, und doch bin ich nie von einem Löwen angegriffen worden. Allerdings kannte ich zwei Männer, denen dieses Schicksal beschieden war. Was soll man da machen, Bwana ... Amri ya mungu – Wie Gott will!« Damit versorgte er die Schnupftabakhülse wieder in seinem weitausgehöhlten Ohrläppchen und schlurfte auf dürren Beinen seiner bereitliegenden Last zu.

Ich blieb dennoch eine Zeitlang sehr nachdenklich, als ich kurz darauf an der Spitze meiner Safari in den funkelnden Morgen hineinmarschierte. Es nahm mich wunder, ob meine Nerven der Tatsache gewachsen sein würden, in ständiger, unmittelbarer Nachbarschaft mit Löwenrudeln zu leben.

Der Weg, dem ich folgte, war ein alter, tief und glatt ausgetretener Nashornwechsel; viele, viele Generationen der Dickhäuter mussten unentwegt auf der Spur der vorhergegangenen über diesen Hügel gewandert sein. Trotz ihrer scheinbaren Schwerfälligkeit sind diese Kolosse äusserst gewandte Bergsteiger. Ihre Wechsel sind schon auf Gebirgspässen in viertausend Meter Höhe gefunden worden. Zwischen blankgescheuerten Felsblöcken und wahren Mauern dichtverfilzter Dornbüsche ging es steil bergan. Glühende Hitze lagerte schon jetzt, eine Stunde nach Sonnenaufgang, auf dem Hang; meine Kleidung klebte am Körper, als ich mit einem tiefen Atemzug droben auf dem Kamme ankam. Nicht nur atmete ich auf, weil die Anstrengung überwunden war, sondern auch, weil der beklemmende Gedanke hinter mir lag, was sich wohl ereignet hätte, wenn uns auf diesem Pfade, wo kein Ausweichen möglich war, ein Nashorn entgegengekommen wäre!

Um so grösser war meine Freude, als sich jetzt ein weites, flaches Tal vor mir öffnete, das mit seinem kurzen Graswuchs und seinen malerischen Busch- und Baumgruppen den Eindruck eines wohlgepflegten Parkes machte, richtiger gesagt, eines Tierparks, denn überall, auf den sonnenüberfluteten Grasflächen wie im Schattengesprenkel der breitästigen Akazien- und Mimosenbäume, regte sich hundertfältiges Leben, zogen Wildrudel, ruhig äsend oder einander im Spiele jagend, dahin.

Etwa in der Mitte der Niederung erkannte ich durchs Glas einen kleinen Trupp von Oryx-Antilopen, und nicht weit von ihnen entfernt stand – wahrscheinlich als Vorposten einer durch Bäume verdeckten Herde – ein einzelner gewaltiger Elenbulle. Es war das erste Mal, dass ich diese beiden Tierarten hier in ihrer Heimat erblickte. Mir erging es wie an den beiden ersten Marschtagen: ich konnte mich kaum von der Betrachtung dieser paradiesischen Bilder losreissen. Als ich endlich das Glas langsam sinken liess, zuckte ich zusammen, und einen Augenblick stockte mir der Atem – dort drunten, in gerader Linie nicht mehr als zweihundert Meter von meinem Standort entfernt, war soeben ein Löwe in den Schatten eines Gebüschs getaucht; ganz deutlich hatte ich noch seinen mähnenumwallten Kopf gesehen.

Hinter mir raschelte es: Tumbo war nachgekommen. Auch er hatte mit seinen scharfen Eingeborenenaugen das Tier bemerkt; ich hörte sein leises erregtes » Lo!« Gleich darauf zupft er mich am Ärmel, seine Hand deutete weiter hinaus, und heiser flüsterte er: »Da kommen noch mehr über die Lichtung, Bwana! Siehst du sie? Fünf, sechs, nein sieben! Ah, wie sie laufen! Lo, hast du gesehen, der grosse ist auf den Baum geklettert!«

»Auf den Baum? Den Teufel wird er tun!« knurrte ich und bemühte mich, diese sonderbare Angelegenheit ins Glas zu bekommen. »Seit wann klettern denn Löwen auf Bäume? Du siehst wohl Gespenster!«

»Löwen?« fragte er erstaunt. »Es sind doch Hundsaffen, Bwana, und jener erste, grosse war der Vater von allen.«

Mit einem etwas gezwungenen Auflachen liess ich das Glas sinken. Er hatte recht: was dort draussen zwischen den Bäumen hindurchrannte und auf die Bäume hinauffuhr, waren keine Löwen; wie schon so mancher Beobachter vor mir war ich auf das bemähnte Haupt eines riesigen alten Pavianpapas hereingefallen!

Unweit des Schauplatzes dieser optischen Täuschung angelangt, entdeckte ich – zum ersten Male seit unserem Abmarsch von der Station – in der Krone einer Schirmakazie ein Zeichen, dass auch diese Einöde dann und wann von Menschen aufgesucht wurde. Es waren zwei freischwebend an den Ästen aufgehängte, ausgehöhlte Stammstücke von ungefähr einem Meter Länge. Sie mussten entweder von Massai-Hirten oder von Ndorobbo-Jägern als Obdach für wilde Bienen hier angebracht worden sein. Ein tiefes Summen in der Baumkrone verkündete, dass die Stöcke bewohnt waren, und meine Leute schienen nicht übel Lust zu haben, die Bienen auszuräuchern und anderer Leute Honig zu ernten. Ich hätte ihnen – und, offen gestanden, auch mir selbst – diese köstliche Labe gerne gegönnt, denn der Honig der afrikanischen Wildbienen ist ausserordentlich würzig und wohlschmeckend, aber mir lag daran, mit den hier umherschweifenden Ndorobbo auf gutem Fuss zu stehen, und so verhärtete ich mein Herz und trieb meine schwarze Herde weiter. Einer der nächsten Bäume, der mir ins Auge fiel, erzeugte gleich eine weitere appetiterregende Gedankenverbindung. Es war eine Kigelie, auf Deutsch: ein Leberwurstbaum. Seine an Ranken herabhängenden Früchte weisen tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit dieser leckeren Wurstsorte auf.

An dem noch fernen Hange der Hügelkette, die die Niederung begrenzte, erspähte ich durchs Glas eine Gruppe besonders hoher, dunkelbelaubter Bäume, die ein schattiges Plätzchen für eine Rast verhiessen. Mit einem ermunternden Zuruf an die Träger, deren stillem Wesen und müder Gangart die zurückgelegten langen Tagesstrecken anzumerken waren, wanderte ich weiter. Es war furchtbar heiss, die Luft zitterte in Wellen auf der weiten, schon in ihre Mittagsstille versinkenden Ebene; nur zögernd wichen die Wildrudel aus meiner Marschrichtung beiseite und drückten sich so bald wie möglich wieder in die flimmernden Schatten der Steppenbäume.

In der Ferne wurde jetzt ein besonders grosser Termitenbau sichtbar. Er mochte wohl drei Meter hoch sein; die verwitterten, tiefrot leuchtenden Formen sahen aus wie das Modell einer alten Burgruine. Lag an seiner Basis ein grosser, wie ein Totenschädel geformter Stein, so war ich nach den Angaben der Karte auf dem rechten Wege. In weitausgreifendem, schwingendem Marschschritt strebte ich darauf zu; nunmehr glaubte ich auch den Stein zu erkennen. Eine ausgedehnte, mit Schlingpflanzen übersponnene Buschinsel war im Wege; ich umging sie in weitem Bogen, schaute jenseits wieder auf, und ... liess den schon erhobenen Fuss nicht mehr sinken. Der Stein war da, aber er war plötzlich lebendig geworden, wuchs mit einem Ruck empor und reckte ein gewaltiges, gekrümmtes Horn in die Höhe. Ein paarmal schwang es im Halbkreis hin und her, dann blieb es in meiner Richtung stehen. Das Tier hatte eine unsichere Witterung von mir bekommen, aber jetzt wusste es, wo ich war! Im nächsten Augenblick hatte ich meine Lähmung überwunden, flog mit einem gewaltigen Sprunge zur Seite, brach prasselnd durch ein Dickicht und blieb hinter dem nächsten dicken Baume mit angehaltenem Atem lauschend stehen. Ich war im rechten Augenblick ausgerückt; vor meinem Dickicht polterte etwas dröhnend vorbei, und ein paar Sekunden darauf sah ich rechts von dem Gebüsch die klobige Nashornform, in eine Staubwolke gehüllt, auftauchen und in die Steppe hinausstürzen. Wenn das verrückte Biest diese Richtung innehielt, konnte es möglicherweise auf Tumbo oder die Spitze der Safari stossen! Wütend wischte ich den lästigen Schweiss von Stirn und Brille und spähte in den Sonnenglast hinaus. Die Staubwolke schwebte noch zwischen den lichtstehenden Bäumen, doch von dem Tier selbst war nichts mehr zu sehen und zu hören. Aber auch nichts von Tumbo, der doch höchstens zweihundert Schritte hinter mir gewesen war!

Aufs höchste besorgt nahm ich das Glas vor die Augen. Da hörte ich einen Ruf durch die heisse Stille dringen, einen Ruf, der aber seltsamerweise aus der Höhe kam. Und beim nächsten unzweifelhaften » Bwana!« erblickte ich dann auch Meister Tumbo: wie ein riesiger schwarzer Frosch hing er in halber Höhe am Stamme einer Dumpalme.

» Faru wapi na safari wapi – Wo ist das Nashorn und wo die Safari?« schrie ich ihm zu.

»Es muss dort drüben zwischen den Bäumen stehengeblieben sein, denn ich habe es jenseits nicht hervorkommen sehen. Vielleicht ist es wieder eingeschlafen. Die Träger erscheinen dort hinten; sie haben von der ganzen Sache nichts bemerkt. Faru wazimu wote, Bwana – Die Nashörner sind alle verrückt, Herr«, antwortete er mit philosophischer Ruhe und rutschte gelassen am Stamme herunter.

Es war ein Schrecken mit Nachzündung: er fuhr mir erst jetzt so richtig in die Beine, so dass ich mich ein paar Minuten niedersetzen musste. Eine Zigarette rauchend, überdachte ich das Geschehene. Ich hatte schon auf meiner Reise durch Uganda mehrfach Nashörner zu Gesicht bekommen, zweimal sogar aus ziemlicher Nähe. Aber niemals hatte mich eines angenommen oder auch nur beachtet und so war ich bereits geneigt gewesen, die zahllosen Moritaten, die über diese Ungetüme im Umlauf sind, als Jägerlatein abzutun. Nunmehr wusste ich es besser, denn dieser alte Satan vorhin hatte es ganz bestimmt auf mich abgesehen gehabt, wahrscheinlich weil ich ihn in seinem Mittagsschlaf gestört hatte. Ich beschloss, in Zukunft auf grosse, graue Steine mit geziemender Vorsicht zuzugehen.

Die Beine waren mir steif und bleischwer, als ich mich seufzend erhob und mich aufs neue in Bewegung setzte, und sie schienen mit jedem Schritte noch schwerer und lahmer zu werden. An der verhängnisvollen Termitenburg angekommen, fand ich zu meiner grossen Erleichterung doch noch den richtigen, den Totenkopf-Stein vor; er war ganz mit dem roten Staub bedeckt, den das gehörnte Untier bei seinem Suhlen aufgewirbelt hatte. Heilfroh, wenigstens noch im rechten Kurs zu liegen, stapfte ich weiter und mit grosser Mühe die nächste Hügellinie hinauf. Hier kam zu der schweren Mattigkeit meiner Glieder auch noch ein dumpfes Kopfweh hinzu, und langsam wurde mir nun klar, dass irgend etwas mit meiner Gesundheit nicht stimmte.

Bei der Rast im herrlich kühlen Schatten jener hohen Bäume verfiel ich sofort in ein bleiernes, von verworrenen Traumgesichten durchgeistigtes Dämmern. Als ich erwachte, fühlte ich mich noch zerschlagener, und ich glaubte, mein Kopf müsste zerspringen.

Bei ständig zunehmender Schwäche marschierte ich weiter, lange, brütendheisse Nachmittagsstunden hindurch, bis ich in einem jähen Schwindelanfall mich niedersetzen und nochmals eine kurze Rast einschalten musste. Die Anzeichen deuteten auf Malaria; ich schluckte als Vorbeugungsmittel gegen das kommende Fieber eine Pille Chinin, gegen die überhandnehmende Mattigkeit aber mein persönliches Hausmittel, eine Tasse starken schwarzen Kaffee, den mir Tumbo auf dem Hartspritkocher bereitete. Ich musste heute noch Ol Matun erreichen, des Wassers wegen, und auch weil ich nur allzugenau fühlte, dass ich am nächsten Tage nicht mehr marschfähig sein würde.

Beim Aufstehen vermeinte ich, keine hundert Schritte mehr gehen zu können; mir war über alle Maßen elend zumute. Doch mir blieb nichts anderes übrig, ich musste es schaffen, und ich glaube, nie noch in meinem Leben habe ich derart den wirklich allerletzten Rest von Willenskraft zusammengerissen, um meinen versagenden Körper zum Gehorsam zu zwingen, wie beim Aufbruch nach jener Rast. Die ganzen letzten acht bis zehn Kilometer wankte und taumelte ich nur noch weiter; über meinem Gehirn lag es wie ein glühender Nebel, nur ein einziger Impuls arbeitete noch darin: »Vorwärts!«

Ich hatte die Träger angewiesen, dicht hinter mir zu marschieren, während Tumbo unmittelbar vor mir gehen musste. Mitunter, wenn der rote Schleier auch über meine Augen sank, liess ich den Boy nach den Landmarken Ausschau halten. Zum Glück brauchten wir sie in der letzten Stunde nicht mehr; ein mässig tiefer Korongo, auf den wir nachmittags gegen vier Uhr stiessen, musste der Engare Matun sein, denn jenseits sprang aus der Ostwand eines hohen, wolkenumschwebten Berges eine scharfe Felsnase hervor, die als Merkmal auf der Karte angegeben war. Am oberen Ende dieses Korongos lag unser Ziel.

Mehrmals setzte ich mich oder, richtiger: sank ich hin, und nochmals musste Tumbo Kocher und Kaffeebüchse aus der Kiste holen und zu meiner Wiederbelebung einen Mokka brauen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich erst, dass drei der Träger zurückgeblieben waren. »Sie haben gesagt, sie könnten nicht mehr weiter, und sie würden sterben, Bwana!«

Ich wusste, dass solche Worte bei Negern keine blosse Redensart sind; sie können auf einmal von jedem Funken Lebenswillen verlassen werden und dann wirklich einfach sterben. So schickte ich Mlomu mit dem letzten Rest unseres Wasservorrates zurück, die Leute zu laben und die Last des Schwächsten zu übernehmen. Falls auch die andern ihre Kisten nicht mehr weiterschleppen konnten, sollte er ihnen sagen, dass sie die Sachen so gut wie möglich am Wege verbergen und unter allen Umständen wenigstens ohne Last nachkommen müssten.

Der Kaffee hatte mir zwar ganz und gar nicht geschmeckt und der blosse Gedanke an die üblicherweise darauf folgende Zigarette nichts als Widerwillen erregt – untrügliche Zeichen, dass etwas gründlich verkehrt mit mir war –, aber eine Aufpulverung hatte das starke Getränk dennoch bedeutet, denn die letzte unserer neun Marschstunden fiel mir ein wenig leichter. Allerdings trug dazu auch der unsäglich wohltuende Fallwind bei, der jetzt von den vor uns aufgetürmten Bergen herabwehte und die höllische Hitze milderte.

Obgleich mich das Schicksal der zurückgebliebenen Träger ziemlich beunruhigte, obgleich ich nicht wusste, ob in der mir bevorstehenden fieberheissen Nacht die Kiste mit der Reiseapotheke oder wenigstens mein Feldbett zur Stelle sein würde, ob wir vor Eintritt der Dunkelheit noch irgendeinen provisorischen Schutzwall gegen die Raubtiergefahr errichten konnten, ob wir wirklich Wasser vorfinden und damit überhaupt am Leben bleiben würden, obgleich ich all dies nicht wusste, war ich doch ausschliesslich von der brennenden Sehnsucht erfüllt, endlich ans Ziel zu gelangen. Dieses Ziel, ein winziger, verlorener Punkt in der Wildnis, der mir als Örtlichkeit noch gänzlich unbekannt war, schwebte meinen fiebrigen Sinnen wie der Inbegriff aller Fülle und Geborgenheit, wie das Paradies selber vor. – Ich habe natürlich bei meinen vielen Wanderungen auf dieser weiten Erde schon häufig solche Vorstellungen von meinem jeweiligen Ziel gehabt; in den allermeisten Fällen aber bin ich mehr oder weniger stark enttäuscht worden. Der einzige Ort, wo die Wirklichkeit meinen Vorstellungen in jeder Hinsicht entsprach, war das Ziel jenes qualvollen Tagesmarsches, war Ol Matun.

Ich glaube, ich bin die letzten paar hundert Meter nur noch mit halbgeschlossenen Augen dahingestolpert, rechts und links gestützt von Tumbo und dem jungen Träger Pesambili. Sie müssen mich vorwärtsgeschleift, auf die hohen Felsstufen hinaufgeschoben und gezerrt haben, denn als ich viele Tage später diesen Weg zum ersten Male zurückging, glaubte ich, ihn noch nie betreten zu haben, denn jede Einzelheit war mir fremd und neu.

Plötzlich drang ein Ausruf der beiden braven Kerle in mein halbbetäubtes Gehirn; Tumbo schüttelte mich an der Schulter, seine durstheisere Stimme rief mir ins Ohr: » Tozama kulle, Bwana! Maji! Tumefika! – Sieh dort, Herr! Wasser! Wir sind angekommen!«

Er hätte es gar nicht zu sagen brauchen, ich hatte den feuchten Hauch des Wassers mit jäher, belebender Frische in jedem Nerv gespürt. Ich kauerte an einem Steine, körperlich gänzlich erschöpft, aber geistig wieder klar und wach; unter mir erblickte ich zum ersten Male das Bild, das mir auch heute noch, nach so vielen Jahren, in gleicher leuchtender Schönheit vor Augen steht: graue, braune und blutrote Stämme, die über einer grüngoldenen Wasserfläche aufstiegen ... leise schwankende Behänge von Lianen und buntblühenden Winden ... gewaltige dunkle Laubgewölbe und vom Abendsonnenglanz umsponnene Wipfel ... in schlanker Kurve abwärtsgeneigte, lackglänzende Wedel von Raphiapalmen, an langen Fäden schwingende Kugelnester, umschwärmt von gelben Weberfinken ... rastlos flatternde, buntfarbige Papageientauben ... lärmende Affenbanden ... kreisende Seeadler ... und das alles als Spiegelbild noch einmal wiedergegeben in der stillen goldgesprenkelten Flut des Quellbeckens – so träumte hier zu meinen Füssen, verborgen in tiefer öder Wildnis, das Paradies von Ol Matun.


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