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Erstes Kapitel

Unfrohes Wiedersehen in Nairobi – Sonderbare Passanten in den Strassen einer Landeshauptstadt – Ein kostbares Dokument – Schrotflinte kontra Nashorn – »Ohne Wege, Wasser und Bewohner« – Was schwarze Träger leisten – Wie ich zu dem Uebernamen »Herr Zebra« kam

 

Ende April des Jahres 1913 stieg ich in Nairobi aus dem Zuge der Urgandabahn, der damals zweimal in der Woche von Kisumu am Victoria-See nach Mombasa am Indischen Ozean fuhr, sagte »Uff!« und reckte die von sechsundvierzig Fahrstunden steifgewordenen Glieder. Hinter mir her torkelte, mit verschlafenem Gesicht und mit einem Haufen von Photo- und Handkoffern beladen, mein getreuer schwarzer Knecht Tumbo. Er hiess eigentlich Tumbolianiuma, und dieses Kisuaheli-Wort bedeutet schlecht und recht: »Mein Bauch schmerzt mich«. Der Zeitersparnis halber hatte ich diesem Bandwurm von Namen, gleich nachdem sein Träger droben im fernen Uganda in meine Dienste getreten war, zwei Drittel seiner Länge abgeschnitten; das übriggebliebene Tumbo heisst »Bauch«. Suchend um mich blickend drängte ich mich durch das Gewimmel von hinaus- und hereinströmenden Reisenden, die alle vorstellbaren Hautschattierungen aufwiesen, doch erst draussen vor dem Bahnhofeingang entdeckte ich den Freund, den ich erwartete. Er stieg aus einer Rikscha, und ob seines ganzen Aussehens und der Art und Weise, wie er herauskletterte, fuhr mir ein eisiger Schrecken durchs Gebein.

Der Mann, der mir da, auf einen Stock gestützt, mit einem mühsamen Lächeln auf dem faltigen, gelben Gesicht die Hand entgegenstreckte, war Sir Goodfrey Kingsley Burton. Vor etwa einem halben Jahre war ich ihm an einem sehr kritischen Tage droben im Süden von Somaliland an einem einsamen Wüstenbrunnen begegnet; wir hatten uns bald angefreundet, waren von dort aus miteinander nach Chisimaio und Mombasa und schliesslich hierher nach Nairobi – der Hauptstadt Britisch-Ostafrikas, das seit dem ersten Weltkrieg Kenia-Kolonie heisst – gezogen. Seit achtzehn Jahren hatte sich Burton mit photographischen Aufnahmen von afrikanischem Wild beschäftigt, und was ich unterwegs von ihm über diesen für die Wissenschaft ebenso notwendigen und wertvollen wie für den Ausübenden fesselnden und aufregenden »Sport« erfahren hatte, war für mich hinreichend gewesen, um meinen Vertrag mit einer illustrierten Zeitschrift über eine Reporterreise um die Welt zu kündigen und mich künftighin ausschliesslich dieser neuen Aufgabe zu widmen.

Burton hatte sich schon bei unserer Ankunft in Chisimaio nicht wohlgefühlt; ein altes Leberleiden machte ihm wieder Beschwerden. Auf der Weiterreise wurde er immer elender, und in Mombasa warf ihn eine Malaria vollends über den Haufen. – »Es muss die zwei- oder dreiundzwanzigste sein, die ich erwischt habe – weiss nicht mehr genau. Wollen wir wetten, dass ich das zweite Dutzend voll kriege, ehe ich mit den Biestern drüben in den ewigen Jagdgründen anfange?« hatte er mir, in einem Fieber von vierzig Grad glühend, aus seinem Hotelbett heraus zugemurmelt. – »Was meinen Sie, ob im Jenseits auch die alten Saurier und Urelefanten noch 'rumtoben? Grosser Brahma, das gäbe Aufnahmen ...!«

Als er wieder einigermassen auf den Beinen stehen konnte, waren wir zusammen nach Nairobi gefahren. Beim Durchkreuzen des grossen Wildschutzgebietes der Athi River Plains war mir der überwältigendste Anblick meines Lebens geworden, und mein kranker Freund hatte mir in jener Stunde das Versprechen abgenommen, jenen Gestalten der Wildnis fortan mein Leben zu widmen – wie mir jetzt schien, hatte er es als Versprechen gemeint, sein Werk fortzusetzen. Als er sich bei unserer Ankunft in Nairobi von seinem Sitz im Abteil erhoben hatte, war er ein paarmal hin- und hergeschwankt und mir dann bewusstlos in die Arme gefallen.

Ich hatte mich noch in der Stadt aufgehalten, bis er aus dem Spital entlassen wurde. Die Ärzte rieten ihm dringend, einmal auf längere Zeit aus den Tropen wegzugehen; aber er hatte sich hartnäckig geweigert. Er vertraute auf seine Konstitution, doch gerade er hätte wissen sollen, dass bei der Art seiner Beschäftigung nach achtzehn Jahren auch eine stählerne Konstitution eines Tages endgültig versagen musste. – Ich war hernach, um meinen Vertrag zu erfüllen, für meine Zeitschrift auf eine Rundreise durch Uganda und den östlichen Kongo gegangen; in den seltenen Briefen, die ich zwischendurch mit Burton wechselte, hatte er auf meine Fragen nach seinem Gesundheitszustand stets ausweichend geantwortet. Jetzt sah ich, warum.

Sooft ich, neben ihm in der Rikscha sitzend, die Augen von dieser grotesken, aus Latten, Wellblech und Teerpappe zusammengenagelten Landeshauptstadt weg auf das verfallene Gesicht meines Freundes richtete, schnürte es mir die Brust zusammen. Auf unserer mühe- und gefahrvollen Reise durch Somaliland hatte ich diesen in seinem Auftreten so schlichten und jovialen Mann aufs höchste achten, ja geradezu bewundern gelernt, und nachdem er mich für die ungeheure Leistung seines Lebens so begeistert hatte, dass ich meine eigene Aufgabe darin sah, ihm nachzueifern, war in mir die leise, nie ausgesprochene Hoffnung erwacht, dass ich das erste Stück meines Weges als Kamerajäger vielleicht mit ihm zusammen, unter seiner Lehre und Leitung, zurücklegen könnte. Aber dieser Mann da neben mir würde nie wieder hinausgehen in die glühenden Steppeneinöden Afrikas, um Bilder vom Leben ihrer flüchtigen, wilden Bewohner zu machen ...

Burton hatte mich eingeladen, während meines Aufenthalts in Nairobi sein Gast zu sein. Sein kleines Haus lag weit draussen am Rande der Stadt, dort, wo sie in die Grenzenlosigkeit der Hochsteppe verlief. Allnächtlich kläfften Schakale und heulten Hyänen draussen am Gartenzaun; mehr als einmal waren schon ganze Trupps von Zebras und Antilopen in seinen Garten und Leoparden in seinen Geflügelhof eingedrungen. Und in den Strassen der Stadt war schon mancher abendliche Kinobesucher oder ahnungslos spazierengehende Hotelgast einem Löwen begegnet, den jagdliche Geschäfte bis ins Zentrum, ja einmal am hellichten Tage sogar bis in die Bahnhofhalle der Metropole geführt hatten.

Gleich am ersten Abend sagte mir Burton, dass er nunmehr die unvermeidbare Notwendigkeit eines Aufenthalts in einem gemässigten Klima eingesehen und seine Abreise nach Südafrika als erstem Ziel auf Anfang nächster Woche festgesetzt habe. Er sprach von einem halben, vielleicht auch einem ganzen Jahr, bis er für die nächste Safari ins Blaue zurechtgeflickt sei ... Mir war es, als ob mir bei diesen Worten eine verstohlene Träne in die Augen getreten wäre. Wenn ich es nicht schon an seinem erschreckend veränderten Aussehen und Wesen gesehen hätte, würde ein furchtbarer Anfall von Herzschwäche, der ihn später in der Nacht überfiel, und ein flüchtiger, aber allessagender Blick, den der herbeigerufene Arzt mir zuwarf, mir endgültig klargemacht haben, dass es zu spät, dass hier keine Hoffnung mehr war.

Burton hatte mich am nächsten Tage zum Verwaltungsbüro der Wildschutzgebiete begleiten wollen; nach der Verschlimmerung seines Zustandes war das nun nicht mehr möglich. So gab er mir seine Visitenkarte und die mühsam geflüsterte Weisung auf den Weg: »Halten Sie sich hier nicht mit ganz unnötigen Pflegediensten auf, alter Junge, sondern machen Sie, dass Sie auf das Büro kommen! Es ist heute Samstag, und um elf treffen Sie schon keinen einzigen mehr von den faulen Kerlen dort an. Sie brauchen den Leuten nur noch Ihren Pass zu zeigen, etliche Erklärungen abzugeben und Dokumente zu unterschreiben. Alles andere habe ich für Sie schon in Ordnung gebracht. Richten Sie es ein, dass Sie bis nachmittags drei wieder hier sind, weil ich einen Agenten mit einem Trupp von Kerlen herbestellt habe, unter denen Sie sich Ihre Träger aussuchen sollen. Los nun; hauen Sie ab!«

So haute ich ab und kam nach einigem Herumfragen im Regierungsgebäude kurz nach zehn Uhr endlich vor die zuständige Persönlichkeit. Sie stellte sich als ein hemdärmeliger, semmelblonder und ungeheuer gelangweilt aussehender junger Mann dar, der anscheinend an einer Lähmung beider Hände litt, denn er brachte sie kein einzigesmal aus den Hosentaschen heraus. Die notwendigen Handreichungen wie die Inempfangnahme meines Passes und das Vorlegen der von mir zu unterschreibenden Dokumente, wurden von einem goanesischen Schreiber besorgt. Es ging alles sehr schnell und reibungslos. Binnen einer halben Stunde war ich im Besitz einer schriftlichen Spezialerlaubnis, mich im Wildschutzgebiet Athi River Plains zwecks photographischer Tieraufnahmen auf unbeschränkte Zeit aufhalten zu dürfen, angemessene Bodenflächen zu roden, um ein Standlager und die notwendigen Ansitze zu errichten, Fusspfade auszuhauen und so weiter. Wogegen mir die Verpflichtung erwuchs, alle Wildschutzbestimmungen und Verhaltungsmassregeln auf das sorgfältigste zu beachten, wie zum Beispiel keinen Schuss auf ein lebendiges Wesen, sei es Säugetier, Vogel oder Reptil, ausser in absoluter Selbstverteidigung, abzufeuern, keine lebenden Tiere irgendwelcher Art zu fangen, keine Eier zu sammeln und so fort, und mich ausserdem mindestens alle drei Monate beim nächsten Bezirks- oder Wildschutzkommissar zu melden, bei dem ich auch alle zufällig gefundenen Stosszähne, Gehörne, verwendungsfähigen Häute und anderes mehr abzuliefern hätte.

Ich nahm alles Vorgelegte und Vorgelesene zur Kenntnis und unterschrieb bereitwillig alles, was verlangt wurde. Auf dem letzten Dokument entdeckte ich aber plötzlich den Nachsatz: »Jede Zuwiderhandlung hat neben dem sofortigen Entzug dieser Spezialerlaubnis die in den allgemeinen Bestimmungen angedrohten Strafen und ausserdem den Verfall der geleisteten Kaution von eintausend Rupien zur Folge.«

»Was ist das hier?« fragte ich. »Ich habe keine derartige Kaution geleistet, und ich fürchte, ich werde sie auch nicht leisten können.«

» That's allright«, nuschelte der junge Mann, erhob sich, ohne dass jedoch dabei seine Hände sichtbar wurden, warf einen sprechenden Blick auf die Bürouhr und fuhr, durchs Fenster hinausblickend, fort: »Das Geld ist schon von Sir Kingsley Burton deponiert worden.«

Ohne ein weiteres Wort, doch mit einem tiefbewegten Atemzug, nahm ich zur Kenntnis, was mein Freund hier in schweigender Selbstverständlichkeit für mich getan hatte. Dann zahlte ich zwanzig Rupien Ausfertigungsgebühr für ein Dokument, für das ich auch zwanzigtausend Rupien bezahlt haben würde – wenn ich sie besessen hätte –, und empfahl mich. Draussen auf dem Gang las ich es noch einmal durch; dabei stiess ich allerdings unter der Rubrik »Mitzuführende Waffen« auf eine Stelle, die mir Anlass zum Nachdenken und zu sehr unbehaglichen Vorstellungen gab. Es hiess da nämlich, dass mir zur Selbstverteidigung nur die Mitnahme einer Schrotflinte, jedoch keiner Kugelbüchse erlaubt sei. Da stand ich ein paar Minuten still und vergegenwärtigte mir auf der einen Seite zum Beispiel ein angreifendes Nashorn – eine Sache, die im Effekt ungefähr einer durchgegangenen Schnellzugslokomotive entspricht – und auf der andern Seite mich selbst, »bewaffnet« mit einer Schrotspritze; dabei wurde mir ein bisschen beklommen zumute.

Als ich Burton daheim diesen Passus zeigte, murmelte er eine Bemerkung über Bürokraten vor sich hin, die auch in gemilderter Form nicht wiederzugeben ist. Nach einigem Nachdenken setzte er hinzu: » Well, ich würde Ihnen nicht raten, Ihre alte Winchester-Büchse dennoch mitzunehmen, denn die Behörden hierzulande erfahren schlechthin alles. Nämlich durch die Mohren. Und ohne die geht's nun einmal nicht. Aber Ihre schwere Mauserpistole ist leichter zu verbergen als ein Gewehr, und sie kann im Falle höchster Not aus grosser Nähe eine verdammt wirksame Waffe sein. Dieses Ding würde ich bei mir behalten – mit oder ohne behördliche Erlaubnis. – Wie meinen Sie? – Ach was, halten Sie hier keine Dankreden; wir können die Zeit besser ausnutzen. Wollte, ich hätte noch etwas mehr tun können, als die paar dreckigen Geldscheine für Sie zu deponieren. Bin ja ohnehin sicher, dass ich sie wiederkriege. Hol der Teufel meinen Kadaver! Wäre er nicht so verrottet, so hätte ich Sie aufgefordert, auf meiner nächsten Safari als Eleve mitzukommen. So müssen Sie gleich vom ersten Tage an ganz auf den eigenen Beinen stehen, lieber Junge. Wobei ich nochmals betonen will: lassen Sie sich vor allen Dingen nicht von den Enttäuschungen unterkriegen, die unausbleiblich sind! Die gleichfalls unvermeidliche ewige Schinderei und die gelegentliche dicke Luft, die mit diesem Sport verbunden sind, sind nicht der Rede wert; sie bilden nur das Salz in der Suppe.«

Das Sprechen und sogar das Atmen fielen ihm schwer. Schweiss glänzte auf seiner gelben Stirn, nur seine grauen Augen leuchteten plötzlich wieder in alter Lebendigkeit und Kraft. Er streckte seine abgemagerte, zitternde Hand nach einer Schachtel aus, nahm eine Pille und nach kurzem Besinnen und einem gemurmelten »Ach was, läuft ja alles auf dasselbe heraus!« gleich noch eine, und winkte nach dem Schreibtisch hin. » Well, geben Sie mir mal die Mappe dort her! Wir haben noch 'ne halbe Stunde, bis der Seelenverkäufer mit seinen Mohren ankommt. – Ach, dummes Zeug, ich halt' schon durch; der Medizinmann hat mir vorhin eine aufpulvernde Spritze verabreicht.«

Es war eine grosse Karte des Wildschutzgebiets, die er aus der Mappe nahm und auf seiner Decke ausbreitete. Das Charakteristischste auf der fast weissen Fläche bildeten die beinahe über das ganze Gebiet hinweggedruckten grossen Buchstaben »W. W. W. A. I.«, die Abkürzung für »Without Ways, Water And Inhabitants = Ohne Wege, Wasser und Bewohner«. Das allermeiste vom sonstigen Inhalt der Karte war nicht gedruckt, sondern von Burtons eigener Hand eingezeichnet.

»Sehen Sie her! Hier ist die Station Simba Simba ist das Kisuaheli-Wort für Löwe.. Bis dahin fahren Sie mit der Bahn. Der Stationsvorstand ist ein Goa und ein netter Kerl. Geben Sie ihm diese Visitenkarte hier, dann wird er einiges und noch mehr für Sie tun. Von dort aus marschieren Sie am ersten Tage bis hierher. Wahrscheinlich finden Sie an einer Stelle noch den Rest einer Boma vor, die ich vor zwei Jahren gebaut habe. Am nächsten Abend müssen Sie hier sein, am Mto Kauka. Wie schon der Name sagt, ist das schäbige Bächlein meistens trocken. Wenn Sie lange genug im Flussbett buddeln, läuft vielleicht ein bisschen lehmige Brühe für einen Topf Tee zusammen. Auf alle Fälle müssen Sie also Wasser für drei Tage von der Station aus mitnehmen. Am nächsten Abend – oder auch erst am folgenden Mittag, denn es sind gut dreissig Meilen Weges – kommen Sie dann hier, bei Ol Matun, an. Was dieser Massai-Name bedeutet, habe ich nie herauskriegen können. Hier gibt's das ganze Jahr hindurch Wasser im Ueberfluss, und im übrigen ist es einer der idealsten Plätze für ein Standlager, der mir jemals vor die Augen gekommen ist. Dort können Sie bleiben, bis Sie Wurzeln schlagen. Langeweile werden Sie niemals haben, denn da herum ist immer was los und immer was unterwegs, vom Zwergböckchen angefangen bis zum Elefanten. Und alles meistens gleich herdenweise – die Simbas inbegriffen!– –« Er blinzelte mich an, und ein hintergründiges Lächeln glitt über seine verfallenen Züge. Dann schob er mir die Karte zu. »Da, nehmen Sie das Ding nur mit – ich glaube, ich brauche es wirklich nicht mehr.« – – In einem Schwächeanfall lehnte er sich zurück, presste die Lippen zusammen und schloss die Augen.

Als bald darauf der Agent mit den Leuten ankam, war der Kranke eingeschlafen. So ging ich allein hinaus, um mir die Neger auszusuchen, die mich als Helfer und Kameraden in die Wildnis begleiten sollten, und die – wer weiss auf wie lange? – die einzigen Menschen sein würden, mit denen ich noch in Berührung kam.

Zur damaligen Zeit waren schwarze Träger die alleinigen »Transportmittel« in den ostafrikanischen Ländern, Gegenden, in denen aus Gründen, die noch zur Sprache kommen werden, ein Weisser nicht allein reisen kann. Erst im Verlauf des ersten Weltkrieges hat es sich erwiesen, dass die ausgedehnten, flachen Steppengebiete dieser Länder auch ohne das Vorhandensein von Strassen mit Autos befahren werden können, und davon wird heutzutage allgemein Gebrauch gemacht. Natürlich kann man nicht in der Regenzeit fahren, und nicht im Hundert-, sondern gewöhnlich nur im Zehnkilometertempo, was aber immerhin die doppelte Geschwindigkeit und das Zehn- bis Fünfzigfache der Belastungsfähigkeit eines guten Trägers bedeutet. Als Höchstgewicht einer Trägerlast gelten dreissig Kilogramm, und als durchschnittliche Tagesstrecke rechnet man zwanzig Kilometer. Aber man stelle sich einmal vor, was es heisst, zwanzig, oder wenn es sein muss, auch dreissig, vierzig, ja fünfzig Kilometer mit einer Last von einem halben Zentner auf dem Kopfe in tropischer Sonnenglut, durch pfadlose Gras-, Busch- und Waldwildnisse, durch unergründliche Sümpfe und brückenlose Flüsse, über viele tausend Meter hohe wilde Gebirge und brennendheisse Salz- und Sandflächen zu marschieren! Und das tage- und wochen-, ja manchmal monatelang! Dann wird man diese Leistung begreifen, soweit sie überhaupt begreifbar ist.

Ich dachte daran, als ich hinaus in den Hof und auf den Trupp schwarzer Gestalten zutrat, der da zusammengedrängt stand und mich aus grossen, weissleuchtenden Augen in scheuer Prüfung ansah, und ich nahm mir vor, mit diesen einfältigen, kindsköpfigen Menschenbrüdern nie wieder unbeherrscht und ungeduldig zu sein, wie ich es leider so oft auf meiner langen Wanderung durch Uganda gewesen war.

Die meisten von den achtzehn Mann waren, wie mir der Agent, ein Grieche, sagte, Leute aus der Landschaft Unyamwezi in der Nachbarkolonie Deutsch-Ostafrika. Die Wanyamwezi – auf Kisuaheli bedeutet »U« als Vorsilbe immer das Land, »Wa« den Stamm und »Ki« die Sprache und Sitte seiner Bewohner – gelten als die ausdauerndsten und zuverlässigsten Träger ganz Ostafrikas. Eigentlich sahen alle miteinander so kreuzbrav aus, dass mir die Auswahl schwer fiel. Schliesslich hatte ich aber sechs Auserkorene beieinander, alles Wanyamwezi. Als ich ihnen dann jedoch in meinem immer noch recht kümmerlichen und holprigen Kisuaheli auseinandersetzte, wohin sie mich begleiten sollten, wurden die runden Gesichter alle auf einmal länger, und zwei erklärten unter heftigem Kratzen an verschiedenen Körperteilen, dass sie auf solche Safari – das Wort bedeutet Reise, aber auch Reisegesellschaft – nicht mitkommen könnten. Der eine schützte die im Sterben liegende Mutter vor, über die jedes Negerlein verfügt, wenn es eine Ausrede braucht, und der andere sagte ehrlicherweise, dass er einfach Angst hätte. Worauf ich an Stelle der beiden einen riesenhaften Kavirondo-Mann, und einen ältlichen, schon ziemlich klapprigen, aber recht zuverlässig und verständig aussehenden Massai-Mischling aus der Gegend von Taveta wählte. Wie sich bald zeigte, hatte ich mit ihm einen guten Griff getan.

Während ich noch die Namen der Angeworbenen aufschrieb und ihnen dabei verkündete, dass wir morgen vormittag mit dem Zug abfahren würden, kam mein Tumbo, der ebenfalls ein Wanyamwezi war, vom Einkaufen zurück. Kaum hatte er seine Stammesgenossen erblickt, als er auch schon prompt ein paar gute Freunde unter ihnen erkannte – keine Gegend in Afrika ist so entlegen, dass ein Neger darin nicht einige gute Freunde wiederträfe. Es gab eine stürmisch-herzliche Begrüssung, worauf mir Tumbo die bei solchen Gelegenheiten stets wiederkehrende Bitte vorlegte, ihnen allen doch je drei Rupien Vorschuss auf ihre Löhnung zu geben. Sie müssten sich vor dem Abmarsch in die Wildnis noch dies und jenes kaufen. Obgleich ich schon wusste, was sich die sieben kaufen würden, nämlich für fünf Cents »dies und jenes« und für zwei Rupien fünfundneunzig Cents einen mordsmässigen Rausch, erhielten sie die erbetenen Silberlinge und zogen mit breitgrinsenden Gesichtern und dem bestimmten Versprechen ab, morgen früh vor Sonnenaufgang vollzählig wieder zur Stelle zu sein. Dass sie natürlich nicht zur Stelle sein würden, hatten mich meine bisherigen afrikanischen Erfahrungen ebenfalls schon gelehrt, weshalb der Abmarschtermin von mir vordatiert worden war; der Zug fuhr nämlich erst am übernächsten Tag.

Als ich den Kopf in Burtons Zimmer steckte, sah ich, dass er immer noch schlief. Da ich meinem Blatt noch einen Artikel schuldete, beschloss ich, die letzte Stunde Tageslicht zu einem photographischen Spaziergang durch die Stadt auszunutzen. Das Schicksal wollte es aber, dass ich diese Stunde dazu ausnutzen sollte, um mich unsterblich zu blamieren. Und zwar mittels zweier Zebras.

Es kam so, dass ich, gar nicht weit von Burtons Haus entfernt, an einer Umhegung aus Stacheldraht entlangschlendernd, plötzlich einen gestreiften Kopf erblickte, der sich zwischen den Drähten durchschob und mich mit zwei Reihen gelber Zähne zu packen versuchte. Trotz dem weiter oben Gesagten war es auch für Nairobi ungewöhnlich, dass hier an offener Strasse auf einmal ein Zebra stand und auch noch die Passanten beissen wollte; deshalb guckte ich ziemlich verblüfft drein. Doch ich bin heute noch stolz darauf, dass ich im nächsten Augenblick bereits die Kamera zückte, um dieses unglaubliche Phänomen für die staunenden Leser meines Blattes festzuhalten. Als ich aber in den Sucher sah, stieg meine Verwunderung noch, denn jetzt nahm ich sogar zwei Zebras wahr. Beim Aufschauen erklärte sich das Ganze: das eine der beiden Tiere trug Sattel und Zaum – ich hatte es also mit »zahmen« Zebras zu tun.

» Want to ride him, Sir? – Ihm sehr fromm. Nur zwei Rupien für ein' Stund' reiten, Sir«, ertönte eine fettige Stimme von einer Wellblechbaracke im Grundstück her, und eilfertig kam der dicke Besitzer – ein Syrier – angewatschelt. Da gab mir der Teufel den Gedanken ein, dass ich mich als Weltreisender mit einem letzten Selbstbildnis hoch zu Zebra von den Lesern meines Blattes am stilvollsten verabschieden könnte.

Während der Syrier weglief, um rasch einen besseren Sattel zu holen, baute ich meine Kamera auf und machte den Selbstauslöser bereit. Aber der Kerl kam und kam nicht wieder, und das Tageslicht verging. So trieb ich schliesslich das gesattelte Tier, das mich ausgesprochen boshaft anschielte, in eine Ecke und sprang ihm plötzlich auf den Rücken – und damit in eine der verrücktesten Situationen meines Lebens hinein. Denn das gestreifte Untier hub sofort ein tolles Bocken an, feuerte mit allen vieren zugleich aus und versuchte, mich abwechselnd in die Beine zu beissen, in einen Dornbusch zu werfen oder an die Wellblechwand zu kleben. Das Allerverrückteste war aber, dass das andere Teufelsvieh sich mit dem meinen solidarisch erklärte, mir mit gebleckten Maiskörnerzähnen nachrannte und mich ein paarmal höchst schmerzhaft in die Waden zwickte. Ich wusste nicht, was ich anfangen sollte. Das Imsattelbleiben war schwierig und gefährlich, das Hinunterspringen aber noch gefährlicher, denn dann war ich wehrlos der Rache dieser beiden Satanskinder anheimgegeben. Ich hockte im Sattel wie der Affe auf dem Kamel; der kalte Schweiss lief mir schon über die Stirn; da kam der dicke Syrier angekeucht, schlug dem bissigen Unhold hinter mir den Peitschenstiel in die Raffzähne und versuchte, den unter mir an der Kandare zu packen. Doch der prallte beiseite, riss dabei meine kostbare Kamera um, setzte mit einem Hechtsprung über den Drahtzaun und brauste mit mir in wahnsinnigem Galopp die Strasse entlang, stadteinwärts. Ich hing, da der Sattel verrutscht war, in inniger Umarmung an seinem gestreiften Halse, und hintennach preschte unentwegt sein Freund und Genosse und versuchte, mich mit den Zähnen zu erwischen. Mensch und Vieh stoben vor uns in wilder Flucht auseinander. Ein Haufe schwarzer Jungen raste mit Gejohl und Geschrei und ein langbärtiger indischer Polizist mit geschwungenem Knüppel hinterher. An einer Strassenkreuzung sah ich flüchtig etwas Nickelblitzendes dicht neben mir auftauchen. Das verrückte Biest unter mir schoss wie eine Rakete in die Höhe und ich selbst noch höher hinauf. Dann gab es ein Gepolter und Gekrach wie Geschützfeuer um mich herum: mit einem dröhnenden Bums fiel mir etwas auf den Bauch und darauf trat friedvolle Stille ein. Ich lag in einem Haufen leerer Benzinkannen und neben mir sass ein niedergerittener schwarzer Radfahrer fassungslos auf seinem verbogenen Velo.

Nach einigem Hin und Her einigte ich mich mit ihm auf zwanzig Rupien Entschädigung; nennenswerten Leibesschaden hatten wir beide nicht erlitten. Ein schwarzer Jüngling brachte meine zum Glück nur leicht beschädigte Kamera und ein grinsender Massai die beiden eingefangenen »Reitzebras« an; zu guter Letzt kam auch ihr schwitzender Besitzer angeschnauft. Er besass noch die Unverschämtheit, von mir das »Reitgeld« und zehn Rupien »Entschädigung« zu verlangen. Ich holte daraufhin nur schweigend mit dem Kamerastativ aus, sprang in eine vorbeikommende leere Rikscha und entzog mich allen weiteren Peinlichkeiten durch die Flucht.

Burton bekam vor Lachen beinahe wieder einen Herzanfall, als ich ihm daheim die Historie erzählte. Mir aber hängten die Schwarzen daraufhin prompt den Übernamen » Bwana Punda Melia – der Herr Zebra« an. Dieser Name ist mir in Afrika für immer geblieben, wenn zu meinem Glück auch schliesslich niemand mehr wusste, warum ich so hiess.


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