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18.

.Und wieder verging eine Nacht und es erschien ein Tag und immer tiefer sanken die schwarzen Todesschatten über das Haus im Park; ich bekam Tante Edith nicht mehr zu sehen, als ich in der Dämmerung hinüberging, um nachzufragen. Auf der obersten Treppenstufe saß Ferra, sie hatte ihr Kind auf dem Schoße und weinte.

»O, Lena!« rief sie und hielt mich am Kleide fest, »ich fürchte mich so dort unten in meinem Zimmer; ich bin nicht abergläubisch, aber so allein zu sein und zu wissen, Mama stirbt, und dort hängt Riedingens und hier Joachims Bild – ich bitte Sie, bleiben Sie bei mir!« Ferra hatte einmal ein wunderbares Talent, jeden guten Eindruck wieder total zu verwischen mit einem Worte.

Mechanisch ließ ich mich von ihr niederziehen und hörte ihr Schluchzen mit an. Und so saßen wir nebeneinander; sie hatte meine Hand fest erfaßt und das Kind schlief ein auf ihrem Schoß. Die Dienerschaft schlich auf den Zehen an uns vorüber: es wurde Gerhards und Charlottes Wohnung in Ordnung gebracht. Endlich ließ die junge Frau Mademoiselle rufen und übergab ihr den Kleinen, sie wollte noch einen Blick in die Zimmer der Geschwister thun.

»Das wird nun so bald alles anders hier werden,« bemerkte sie flüsternd. »Ich glaube nicht, daß mein Bruder hier wohnen bleibt, falls der liebe Gott uns Mama nehmen sollte – er zieht sicher in das alte Herrenhaus –«

»Doch wohl so wie so, Ferra, wenn Gerhard sich verheiratet?«

Sie fuhr überrascht herum und sah fast erschrocken in mein Gesicht. »O ja, Sie haben recht,« bemerkte sie dann, wie sich besinnend, »man vergißt in solchen düsteren Tagen selbst so Naheliegendes.« Und sich zu der Dienerin wendend, welche aus dem Zimmer der Kranken kam, fragte sie: »Wie geht es, Tine?«

.

Das Mädchen fing an zu weinen. »Sie liegt so hin, gnädige Frau; sie hört nichts mehr und fühlt nichts mehr. Ach, es ist zu schrecklich!«

Unwillkürlich falteten sich meine Hände. »Lieber Gott,« bat ich, »laß sie gesund werden, laß sie die Freude noch erleben, nach so langen, schweren Schicksalen endlich ein Glück.«

Ferra begann in dem Korridor auf und ab zu wandern und laut zu weinen; er hatte etwas so Kindisches, Unangenehmes, dieser laute Schmerz. »O, mein Gott, mein Gott!« rief sie, »diese Aufregung tötet mich. O, wenn es doch erst vorbei wäre!«

Und wieder blickte ein Morgen in das Krankenzimmer, und keine Veränderung in dem Zustande der leidenden Frau. Von Gerhard war eben eine Depesche eingetroffen, die den Wagen zu dem Mittagszuge beorderte. – Nun schritt ich zurück nach dem Kloster, ich hatte Tante noch einmal herausrufen lassen und war ihr weinend um den Hals gefallen, und sie hatte mich beruhigt, so zärtlich sie konnte. Sie wußte ja nicht, weshalb ich eigentlich so trostlos war.

Und dann sah ich von meinem Zimmer aus den Wagen heimkehren, welcher die Geschwister brachte; und beider Gesichter musterten im Fluge unsere Fenster. Ich stand hinter den Gardinen, und als der Wagen meinen Blicken entschwunden war, da schlug ich die Hände vor das Gesicht und ein wilder, heißer Schmerz packte mich.

Konnte ich denn fort von hier? War es denn nicht übermenschlich schwer? Aber nein, ich mußte – –! Nur nicht weich werden! Und mit zitternden Händen legte ich einige Sachen in die Reisetasche, mit der ich einst so schweren Herzens hier angekommen war.

Die Sonne wollte untergehen, da rief ich Jette und schickte sie nach Gottlieb. Verwundert schaute mich der alte Mann an, als er ins Zimmer trat. »Was wollen Sie denn, gnädiges Fräulein?« fragte er mitleidig, als er meine verweinten Augen sah.

Ich kam ganz nahe an ihn heran und schmiegte meinen Kopf an seinen groben Tuchrock. »Gottlieb, Ihr habt es immer gut mit mir gemeint –« begann ich, und schon wieder flossen die Thränen.

»Ja, Kindchen, das sollt' ich denken; von der ersten Stunde an. Sehen Sie, als Sie dazumal so hilflos und bange um sich guckten, da dacht' ich gleich, sollst ein Auge haben auf das kleine Püppchen. Gelt, gnädiges Fräulein? Und ich habe immer nach Ihnen gesehen.«

Ich nickte. »Und heute, Gottlieb, sollt Ihr mich wieder wegfahren,« stammelte ich. »Ich muß nach B., ich habe heute einen Brief bekommen, aber es darf niemand wissen, Gottlieb! Nicht wahr, heute abend um acht Uhr? Ihr könnt ja dort im Park an der Ecke warten, braucht nicht vorzufahren.«

»Blitz und Granaten! Gnädiges Fräulein, das – nehmen Sie mir es nicht übel –, das ist wunderbar!« erwiderte der alte Mann und beugte sich herunter, um mir ins Gesicht zu sehen. Ich hielt den Blick aus.

»Es ist nichts Unrechtes,« beteuerte ich. »O, Gottlieb, bitte, bitte!«

»Ja doch! Ja doch!« brummte er, »was hab' ich auch danach zu fragen? Aber – hm – Sie wissen, gnädiges Fräulein, wie es mir schon einmal erging – –«

»O, das ist ganz etwas anderes, bester Gottlieb, ganz gewiß! Mein Vormund will mich sprechen –« stotterte ich.

»Nun, an mir soll es nicht fehlen, gnädiges Fräulein; aber – hm – also um acht Uhr an der Parkecke? Großer Gott, grad' wie dazumal!« Er schüttelte den Kopf und ging.

Ich schlüpfte ihm auf dem Korridor nach. »Gottlieb, wißt Ihr nicht, wie es drüben steht?« fragte ich gepreßt.

»Schlecht, gnädiges Fräulein, schlecht,« antwortete er leise. »Ach, mein Himmel, wie mich Fräulein Charlotte dauert; sie ist nicht wegzukriegen von dem Bette, sie liegt da und jammert und bittet den lieben Gott, er solle ihr doch nicht zu viel nehmen.«

Weinend ging ich zurück. Wo kamen sie nur alle her, die Thränen? Und welch einen Zauber übten sie! Um jedes Möbel in dem alten, traulichen Zimmer, das ich in ihrem feuchten Scheine ansah, woben sie einen silberschimmernden Glanz, daß mir alles so schön vorkam, wie noch nie, daß ich meinte, es nie fassen zu können; als sei ich aus dem Paradiese verstoßen, so stand ich vor dem leeren Fensterplatz Tantes und berührte abschiednehmend jedes der altmodischen Geräte, die sie so oft in die Hand genommen hatte. Ich beugte mich zu ihren Lieblingen und goß ihnen frische Milch in die Schalen, gab den Blumen zu trinken – ich sollte ja dies alles niemals mehr sehen.

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Dann fiel mir ein, daß ich wohl schreiben müsse an Tante Edith, damit sie mich nicht vergeblich suchten. Zögernd griff ich zur Feder, es mochte mir erst gar nichts einfallen, mein Vorhaben zu rechtfertigen; endlich war es geschehen, ich schob den Zettel unter ein Nähkissen, und nun saß ich und wartete auf das Dunkelwerden. Purpurrot versank die Sonne und füllte das Zimmer mit rosigem Schein, und die Uhr auf dem Kaminsims schlug Sieben; noch eine Stunde, eine einzige Stunde unter diesem Dache! Und weiter tickte sie, Sekunden zu Minuten reihend; unaufhaltsam strebte der Zeiger vorwärts.

»Ich kann nicht fort!« rief es in mir. »Du mußt! Du mußt!« tickte die Uhr; und Melanie Steltens schönes Gesicht tauchte vor mir auf, ihre sanften Augen schauten mich an; »er ist so gut, so ehrlich!« flüsterten ihre Lippen. Nein, ich wollte ihn nicht wiedersehen, ich wollte nicht so unglücklich werden wie die sterbende Frau drüben!

Da schlug es acht Uhr. Es war fast dunkel. Ich schreckte empor und band mir Hut und Mantel um; die kleine Tasche in der Hand, schritt ich eilig aus dem Zimmer; im Korridor blieb ich stehen, Minka war mir nachgeschlichen; ich nahm sie auf den Arm und preßte meine weinenden Augen in das samtweiche Fell, dann trug ich sie in das Zimmer zurück. Mit verdoppelter Eile flog ich weiter, niemand begegnete mir auf meinem Wege; eine kühle Luft wehte mir draußen entgegen und fröstelnd schauerte ich zusammen. Da – richtig, in dem allerletzten Tagesschein erkannte ich den Wagen und Gottlieb stand wartend am Schlage.

Es waren seine alten, müden Pferde, es war dasselbe wackelige Gefährt, in dem ich hergekommen. Ich schlüpfte hinein; langsam zogen die Tiere an und hinter mir versank das Kloster und mit ihm alles, alles – –!

Und langsam rollte der Wagen weiter, die Räder ächzten und knirschten; wären wir doch erst ungesehen aus dem Parke.

»Gottlieb, fahrt ein wenig rascher!« bat ich zitternd; mir war ja zu Mute, als begehe ich ein Verbrechen.

»Ja, gnädiges Fräulein, aber die alten Racker, sie waren heute den ganzen Tag auf dem Felde, sie sind wohl müde!«

Ich bog mich weit vor; dort blinkten die erleuchteten Fenster der Villa, dort rang sich jetzt eine Seele los von dem schwachen Körper, dort gab es heiße Thränen und Gebete: Und in solchem Schmerz, da würden sie mich nicht vermissen – überhaupt nicht; nur Tante Edith und Charlotte. Und als jene Fenster hinter mir versanken und ich hinaussah in die dunkle Nacht, da bäumte es sich wild in meinem Herzen auf. – Nein, ich konnte nicht fort! Ich streckte die Arme nach Gottlieb aus, aber der Ruf wollte nicht über meine Lippen.

»Halt!« sagte da eine wohlbekannte Stimme dicht neben mir. Die Pferde standen augenblicklich und eine dunkle, große Gestalt öffnete den Wagenschlag. »Steigen Sie aus, Magdalene!« klang es ruhig.

Eine Hand erfaßte die meine; fast willenlos folgte ich dem Befehle.

»Umkehren!« befahl Gerhard, und zugleich umfaßte mich sein Arm; regungslos verharrte er so, bis der Wagen gewendet und viel schneller, als er gekommen, verschwunden war.

Und nun standen wir allein am Eingange des Parkes. Meine Thränen hatten aufgehört zu fließen. Ich hielt das Gesicht in den Händen verborgen – wie mir zu Mute war in jenen Minuten, vermag ich heut nicht mehr zu sagen.

»Magdalene!« klang es weich, »war das recht von dir, mich jetzt, gerade jetzt, verlassen zu wollen? Konnte derselbe Mund den Befehl zur Abreise geben, der einstmals so süß sprach von einer Liebe, die in Not und Tod, in Leid und Freud' nicht wankt?«

»O, Gerhard!« stammelte ich, »ich – laß mich, was sollte – – sie – Melanie!«

»Magdalene!« Er beugte sich erschrocken zu mir herunter. »Wer sagte dir?«

Ich antwortete nicht.

»Kind, hast du es denn nicht gefühlt, daß mein ganzes Herz in Wendhusen blieb – bei dir? Und doch hast du geglaubt, ich –«

»Nein, nein!« rief ich aufjauchzend in Wonne und Glück und schlang meinen Arm um den Hals des geliebten Mannes; »ich glaube nichts mehr, nur das eine noch, daß ich dich lieb habe, daß ich sterben müßte, wäre ich gegangen!«

Und um uns her toste der Nachtwind, er stürzte sich von den Bergen herunter und fuhr brausend durch den Park, er schüttelte die alten, hohen Bäume und rauschte in den knospenden Zweigen. Das sang und klang in den Lüften, eine gewaltige, feierliche Frühlingsmelodie, ein Dankeslied für den, der mildes Wehen nach hartem Winter sendet, der über ein trauernd Menschenherz eine so unendliche Fülle Glückes schütten kann. Und meine Seele stimmte mit ein in jenen Lobgesang, nun sein Arm mich so fest umfaßt hielt, als ob er mich nimmer lassen wollte.

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Es war Frühling geworden auch bei mir, es blühte und sproßte so farbenbunt, so wunderbar schön in meinem Herzen, und alle die Blumen, die da erblühten in Liebe und Dankbarkeit, sie schlangen sich zu einem einzigen Kranz zusammen um meinen Gerhard! –

Aber dann fuhr ich erschreckt empor. »Deine Mutter, Gerhard!« flüsterte ich.

»Sie schläft, Magdalene,« erwiderte er, »es ist ein Glückstag heute; just in dem Moment, wo mich Gottlieb rufen ließ, um mir deinen Fluchtplan zu verraten, da senkte sich ein erquickender Schlaf auf die Erschöpfte, und Schwester Agnes schickte uns alle hinaus; sonst hätte ich ja mein kleines braunes Mädchen fortfahren lassen müssen – allein, in die weite Welt.«

»Gott sei gelobt!« rief ich aus vollem Herzen; »aber es ist doch häßlich von Gottlieb, daß – –«

»Ruhig! Auf den Alten lasse ich von heute an nichts mehr kommen; er soll einen Vertrauensposten haben in meinem jungen Hausstande. – Aber nun sage mir, wer sprach dir von Melanie Stelten?«

»Ferra, Gerhard. Sie sagte, du habest dich in Italien mit ihr verlobt, weil du so viel Sorgen – du seiest dazu gezwungen, und –«

»Weiter,« bat er, »die Beichte muß vollständig sein.«

»Und Georg und ich – sie deutete an, daß wir dir zur Last sind; und dann der Brief von meinem Vormund –! O, Gerhard, glaube nur, Mama war nicht leichtsinnig! – Da packte mich Scham und Schmerz; ich wollte nicht, daß du unsertwegen –«

»Und das hat dir alles Ferra gesagt?« fragte er gepreßt, »auch von dem Briefe?«

»O Gott, Gerhard, ich habe ihn gesehen, es sind hundertundfünfzig Thaler!« rief ich ängstlich und versuchte sein Gesicht zu erkennen; es war mir gerade, als ob er jetzt lächelte.

»Und du wolltest fort, um mir die große Summe womöglich zu ersetzen, nicht wahr? Und dich und Georg selbständig durch das Leben zu bringen, damit ich eine Last weniger habe?«

Ich nickte. »Ja, Gerhard, aber auch weil –«

»Nun, weil?«

»Ich hätte es nicht ertragen, dich neben einer andern zu sehen –«

Er antwortete nicht; seine Lippen preßten sich fest auf meinen Mund. »Ich nahm mich so in acht,« sagte er dann, »denn ich wußte, was geschehen würde, falls Ferra mein Geheimnis kenne; ich schrieb nicht einmal an meine kleine Magdalene, und doch! Sprich, hat sie irgend etwas geahnt?«

Ich schwieg einen Augenblick. »Nein, nein, Gerhard, ich wußte ja selbst kaum, wie lieb ich dich schon hatte, und sie war nicht hier.« Aber dann fiel mir sein Brief ein. »Anna hat gesehen, wie ich deinen Brief bekam und ihn geküßt habe.«

»So unvorsichtig bist du gewesen?« fragte er scherzend. »Nun weiß ich genug; sage mir nur, du unbesonnenes, leichtgläubiges Mädchen, wie konntest du alles glauben, was dir da vorgeredet ist, nachdem ich so Abschied von dir genommen?«

»O, Gerhard, ich begreife es selbst nicht,« gab ich ehrlich zu, »aber ich meinte, weil du mein Vetter bist –«

Jetzt lachte er. »Nein, Schatz, das machst du mir nicht weis; so recht vettermäßig war mir eben nicht in jenem Augenblick.«

»Aber,« rief ich plötzlich, »ich glaube, Melanie Stelten liebt dich!«

»Nein, Magdalene,« erwiderte er ernst, »nicht so wie du denkst. Melanie steht zu mir wie eine Schwester; frage sie, was sie in Italien ausgestanden! Ich habe ihr den ganzen Tag nur von dir erzählt, und sie hörte alles geduldig mit an. Sie hat Joachim sehr gern gehabt, und er – er streckte erst in der höchsten Not die Hand nach ihr aus; kurz vor seinem Tode hielt er um sie an. Sie besitzt keine Eltern mehr, Lena; da kam sie zu mir und fragte um Rat, sie hatte wohl schon verschiedenes von Joachim gehört; trotzdem wollte sie ihm das Jawort geben, wenn sie im stande sei, ihm auch moralisch zu helfen. Da habe ich sie gewarnt und ihr die Zukunft an seiner Seite vorgestellt; sie fragte mich – ich konnte sie nicht in das Elend fallen lassen; und sie erkannte wohl, daß ich es gut meine, ich kenne sie ja schon als kleines Mädchen und habe ihr immer mit Rat und That beigestanden. Sieh, das ist alles.«

Ja, nun begriff ich Melanies begeistertes Lob; wie war er gut und treu!

»Gerhard,« sagte ich flüsternd, »du bist viel zu gut für mich, ich bin so –«

»Trotzig!« vollendete er. »Verlaß dich darauf, den kleinen Trotzkopf zähmen wir noch.«

»Ja, ich will mich bessern, Gerhard; aber nun noch eins: deine Mutter – wird sie mich auch haben wollen?«

»Sobald sie gesund ist, was Gott bald geben möge, sollst du dir selbst die Antwort von ihr holen; um dich aber zu beruhigen, will ich dir erzählen, was sie mir nach Italien schrieb, im letzten Briefe, ehe sie krank wurde: ›Ich sage Ja, von ganzem Herzen, Gerhard; immer mehr sehe ich ein, wie verbittert ich war; was hat mir auch das arme Kind gethan, daß ich so barsch zu ihr gewesen? Bringe sie mir, Gerhard, ich will alles wieder gut machen, wenn mir Gott das Leben erhält; meine einzige Sehnsucht auf dieser Welt ist die, meine Kinder glücklich zu wissen, glücklicher als Edith und ich es waren –‹«

Und weiter schritten wir durch all das Brausen der Frühlingsstürme; es drängte mich, Charlotte wiederzusehen. »Gerhard,« fragte ich noch einmal, als wir vor dem erleuchteten Vestibül der Villa standen und ich in dem matten Lichtschein sein liebes Gesicht ganz deutlich zu erkennen vermochte, »Gerhard, sage nur, ist es denn auch wirklich kein Traum?«

»Nein, Magdalene, es ist Wirklichkeit,« erwiderte er fast gerührt und sah mir in die Augen. An der Treppe verabschiedete er sich von mir: »Geh zu Charlotte hinauf, Lena, ich komme bald nach –«

Ueberrascht wandte ich mich um; über seinem Gesichte lag ein finsterer Ernst. »Gerhard,« rief ich erschreckt, »du willst zu Ferra, du zürnst ihr!«

»Nur ein paar Worte, Lena; geh ruhig hinauf, es ist bald geschehen.«

»Nein, nein, Gerhard,« bat ich, »laß sie, bitte, bitte! Sie hat es nicht, so schlimm gemeint. O, sage ihr heute kein böses Wort, Gerhard, nur heute nicht!«

»Ich war nie milder gestimmt, Lena, als in dieser Stunde, und deshalb hindere mich nicht,« erwiderte er bestimmt. »Auf frischer That das Herz frei machen, ist das beste, und zwischen uns muß manches klar werden; ich will ihr kein strenger Richter sein, um deinetwillen, Magdalene, das verspreche ich dir.«

»Gerhard, ich bitte dich,« flehte ich, »vergiß, was sie gethan!« Aber schon hatte er mit leisem Druck meine Hand fallen lassen, und ich sah ihn in Ferras Vorzimmer treten. Einen Augenblick zögerte ich noch bange, dann eilte ich die Stufen hinauf und pochte an Charlottes Thür.

»Herein!« rief eine liebe, klare Stimme, und im nächsten Augenblick hielt ich Charlotte umfangen.

Es war dunkel in dem traulichen Raume, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich strich mit leiser Hand über ihre Wangen und das duftige Haar. »Charlotte, Lottchen, bist du es denn wirklich?«

»Ja, meine Lena, ich bin es wieder, deine alte Charlotte. Und du?«

Ich barg mein Gesicht an ihrer Brust; nein, ich war nicht mehr dieselbe. Die ganze übergroße Glückseligkeit meines Herzens drängte sich mir auf die Lippen, und doch schwieg ich; wie konnte ich ihr von einem Glücke sagen, das sie soeben verloren? Ich nickte stumm und schlang meinen Arm noch fester um sie. Dann fühlte ich einen Kuß auf meiner Stirn, sie machte sich frei von meinen Armen und im nächsten Moment stand sie auf dem kleinen Balkon.

»Charlotte!« rief ich leise, ihr nacheilend; aber sie hörte nicht. Und in dem matten Sternenlichte der Frühlingsnacht sah ich ihr Gesicht unverwandt nach den fernen Bergen gerichtet, die Hände hatte sie eng gefaltet über der Brust; der Wind nahm ihr den Schleier vom Kopfe, sie merkte es nicht, aber er trug einen Gruß mit in die weite Ferne: »Robert! Robert!« hörte ich sie leise sagen. Ich wagte nicht, sie zu stören, und so standen wir lange, lange.

Da scholl plötzlich lautes Sprechen vom Korridor herüber; angstvoll trat ich ins Zimmer zurück und lauschte. Es faßte jemand auf den Drücker der Thür und öffnete sie ein wenig. »Meine Braut ist hier bei Charlotte,« hörte ich Gerhards Stimme; wie selbstverständlich das klang, als sei ich schon seit lange »seine Braut«!

Ich legte meine Hände an die Schläfen; ob es denn wirklich kein Traum war?

Dann öffnete sich die Thür, heller Lichtschein fiel herein – und vor mir stand Ferra. Die Thür blieb offen und Gerhard trat rasch zu mir und sagte, den Arm um mich legend: »Ferra kommt, um dich als Schwester zu begrüßen, Magdalene.« Ich sah sie an, und ein tiefes Mitleid erfaßte mich, denn der Mund, der sich mühsam zum Lächeln zwang, war bleich wie der Tod, und die Hände, die sich mir entgegenstreckten, zitterten. – Sie sprach auch nicht, als ich einen Moment meine Hände in die ihren legte, aber ihr schöner Kopf bog sich genau so hochmütig in den Nacken zurück, wie er es stets gethan mir gegenüber.

»Ferra gedenkt Wendhusen eine Zeit lang zu verlassen,« sprach Gerhard so ruhig fort, als sei von nichts weiter und nur in der freundschaftlichsten Weise zwischen ihnen verhandelt worden; »schon längst war es ihr heißer Wunsch, Italien zu sehen, und sobald Mama völlig außer Gefahr ist, will sie die Reise antreten.«

»Ich denke, in den nächsten Tagen,« kam es jetzt tonlos von ihren Lippen; »aber du entschuldigst mich, Gerhard, wenn ich mich zurückziehe, ich habe Kopfweh, und –«

Er reichte ihr die Hand, aber sie wandte sich rasch ab; im nächsten Augenblick schloß sich die Thür hinter ihr und Dunkelheit herrschte wieder im Gemach.

»O, Gerhard!« rief ich, »wie leid thut sie mir!«

»Sie ist sehr beklagenswert, Magdalene, denn sie wird nirgend Ruhe finden, auch da draußen nicht in der Welt, wohin sie sich so sehnt. Aber ich hoffe, dereinst kommt sie wieder zurück, dann – wenn sie es gelernt, die Liebe zu verstehen, die sie jetzt noch verschmäht. Wo ist aber Lottchen?«

»Hier!« antwortete eine weiche Stimme neben uns; »ich will die Lampe anzünden, um die kleine Braut zu sehen, Gerhard.« Und als die Strahlen auf ihr süßes Gesicht fielen, da lag ein Lächeln um den feinen Mund.

»O nein, nein, Bruder,« flüsterte sie, als er sie hastig an sich zog und ihr liebevoll in die vom Weinen geröteten Augen sah, »nein, nein, ich bin nicht neidisch, Gott segne euch euer Glück!«

Und als die Nacht herabsank, da schwieg der Sturm da draußen, wolkenlos blickte der Himmel hernieder, Stern auf Stern flammte auf und tiefer Friede lag über Wendhusen. Tante Edith saß im alten Kloster in der Wohnstube auf ihrem Sofa; sie konnte jetzt ruhig fortgehen vom Bette der Kranken, die Krisis war überstanden; nun schlief sie den tiefen, festen Schlaf der Genesung.

Tante Edith hielt mein Abschiedsbillet in der Hand und ihre Augen ruhten leuchtend auf Gerhard und mir, die wir zusammen vor ihr standen.

»O, Tantchen, liebes, einziges Tantchen,« rief ich und kniete vor ihr nieder, »kannst du es dir denn nur vorstellen, daß ich Gerhards Braut geworden bin? Wunderst du dich denn gar nicht?«

»Behüte, du Jungfer Unverstand! Ich habe es schon lange gemerkt, daß er bis über die Ohren in mein kleines Zigeunermädchen verliebt war.«

Aber Gerhard antwortete nicht; er war zum Kamin getreten und warf eben ein Papier in die Flammen; ich erkannte die eigentümliche Form des Briefes, den Gottlieb vor kurzem in Joachims Zimmer gefunden.

»So,« sagte er, »nun soll auch nichts mehr daran erinnern, daß es Leute gab, die da meinten, ich dürfe in aller Welt keinen Anspruch machen auf eigenes Glück.«

»Wir werden bald wieder allein sein, Minka,« sprach Tante Edith leise und streichelte den weißen Liebling, der auf die Lehne des Sofas gesprungen war. »Da, schau sie dir an, das treulose Mädchen, wie sie strahlt vor Glück! Alle Zärtlichkeiten, die uns beiden sonst zu gute kamen, verschwendet sie nur an ihn. Aber gelt, Minka, wir wußten es schon lange, daß wir sie nicht behalten würden?«

»Du, liebste Tante,« flüsterte ich gerührt und küßte die welken Hände der alten Dame, »wie soll ich dir doch jemals deine Liebe und Güte vergelten?«

»Halt, keine Thränen mehr heute! Lena,« rief Gerhard, »hast du schon an Georg gedacht?«

Ich sprang jauchzend empor: Georg, Georg! Nun hatte er einen Beschützer, ein Vaterhaus, eine Heimat! Ich sollte nicht mehr weinen? Aber was half es, die Thränen kamen mit aller Macht. »O, laß mich doch, Gerhard, es sind ja Freudenthränen.«


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