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9.

.Ich konnte nicht schlafen diese Nacht; draußen im Korridor gab es ebenfalls noch lange nicht Ruhe, und einmal hörte ich Joachims Stimme, die den Befehl gab: für morgen früh um sechs Uhr zwei Wagen im Parke an der Rotbuche bereit zu halten.

Um sechs Uhr! Daß das erste Treiben erst um acht Uhr stattfinden sollte, das wußte ich; – wollten sie denn wirklich das grausige Vorhaben ausführen, das ein Unglück über dieses Haus bringen mußte? Ich saß wieder im Bette und dachte; es war nun totenstill geworden im alten Hause, und aus dem Nebenzimmer meinte ich Tantes ruhige Atemzüge zu hören –. Sie hatte keine Ahnung von dem dunklen Schatten, der sich auf ihr Glück zu senken drohte; war es denn nicht unrecht von Robert, sehr unrecht, daß er Charlotte jetzt an sich fesselte, vor der Entscheidung? Oder wollte er einmal noch so recht von Herzen selig sein, ehe vielleicht für immer – –

Und drüben in der Villa schlief Charlotte; ich glaubte ihr Gesicht im Traume lächeln zu sehen; oder wachte sie auch? vielleicht in Angst um das Urteil der Mutter über ihre Wahl? »Wie wird's morgen hier aussehen um diese Zeit?« fragte ich mich. Und ruhelos warf ich mich auf dem Lager umher, und der grauende Tag fand mich noch schlaflos, mich mit Gedanken zermarternd.

Da auf einmal wurde es klar in mir; warum mochte ich nur auch nicht früher daran denken? Gerhard mußte Rat wissen! Gerhard allein konnte helfen! Ich schlich mich auf Strümpfen bis an Tantes Bett, dort stand eine kleine Uhr, die ganze Nacht hatte ich ihr hastiges Ticken gehört; sie zeigte zehn Minuten vor halb sechs Uhr. Ich sah einen Augenblick in Tantes liebes Gesicht; sie lächelte im Schlafe, ihre Hände ruhten eng gefaltet auf der Bettdecke, und das klimmende Nachtlicht warf seinen rötlichen Schein über das Gesangbuch, das auf dem Tischchen neben ihrem Bett lag.

Sollt' ich meinem Gott nicht singen?
Sollt' ich ihm nicht dankbar sein?

las ich den aufgeschlagenen Gesang. Wie innig mochte sie gedankt haben gestern abend, wie gebetet haben für ihre Kinder, für ihr neues Töchterlein und für eine friedensvolle Zukunft, in der aller Streit und Hader schweigen würde!

Rasch schlich ich in mein Zimmer zurück und warf mich in meine Kleider, dann hüllte ich mich in ein Tuch, klinkte leise meine Zimmerthür auf und schlüpfte den Korridor entlang. Noch herrschte lautlose Morgenstille allenthalben, nur Lady, die auf der Matte vor der Thür ihres zornigen Herrn lag, richtete aufmerksam ihren Kopf empor und knurrte mich an, dann erkannte sie mich und kam leise hinter mir her. In dem Treppenhause webte noch unheimliche Dämmerung, und eine empfindliche Kälte wehte durch die hohe offene Thür; man war also doch schon auf, und ich hatte keinen Augenblick zu versäumen, wenn ich – –. Ja, was denn eigentlich? fragte ich mich, als ich beflügelten Schrittes durch den herbstlichen Park eilte und sich der Nebel naß und schwer in meine Kleider hing.

Gerhard soll wissen, was ich gehört! Gerhard allein kann helfen! Das klang mir durch Kopf und Herz, und meine Füße flogen noch schneller über das nasse, gelbe Laub am Boden; einen Augenblick stand ich still, es war mir, als habe ich Peitschenknallen und das Rollen eines Wagens aus der Tiefe des Parkes gehört, dann ging es weiter in angstvoller Hast – und nun lag die Villa vor mir, und der purpurrote Behang der wilden Weinranken hob sich eigentümlich grell ab von den weißen Säulen des reizenden Hauses. An einigen Fenstern waren die Vorhänge herabgelassen, aber auch hier standen die Flügel der Eingangsthür bereits weit aufgethan, und oben auf dem Balkon bürstete ein Stubenmädchen die eleganten Kissen und Puffs ab, die in Frau von Demphoffs Zimmern so zahlreich vorhanden waren Ohne von jener gesehen zu werden, trat ich in das Vestibül und schritt die Marmorstufen hinan; die Decken lagen noch zur Seite und ein Diener in nachlässigem Morgenanzuge, mit struppigem Haar, war beschäftigt, das Bronzegeländer sorgsam abzuwischen.

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»Ist Herr von Demphoff schon zu sprechen?« fragte ich atemlos, als mich der Mensch mit offenem Munde anstarrte.

»Nein!« war seine Antwort, »der Herr schläft noch.«

»Wird es noch lange dauern, bis er aufsteht? Ich habe Eile, ich muß ihn notwendig sprechen,« sagte ich.

»Ich glaube, der Herr war nicht ganz wohl,« erwiderte der Mann, mich offenbar immer erstaunter betrachtend.

»Das thut mir leid, aber – in diesem Falle wecken Sie den Herrn.«

Verlegen kratzte er sich hinter den Ohren und murmelte etwas von »fragen« und »mit Anna sprechen«.

»Um Gottes willen, wecken Sie ihn doch!« bat ich. Aber er war schon verschwunden, und im nächsten Augenblick trat Anna, meine erste nicht gerade angenehme Bekanntschaft zu Wendhusen, aus Ferras Vorzimmer und sah, unten an der Treppe stehen bleibend, neugierig und verwundert zugleich zu mir empor.

»Was beliebt dem gnädigen Fräulein?« fragte sie in ihrem maliziösen Tone.

»Ich muß dringend meinen Vetter sprechen, bitte, wecken Sie ihn.«

Sie zuckte die Schultern und schob das saubere Morgenhäubchen von der Stirn. »Das thut mir natürlich sehr leid,« erklärte sie schnippisch; »aber ich kann nicht wohl den gnädigen Herrn wecken, das paßt sich nicht für mich.«

»So sagen Sie es doch dem Diener!« rief ich zitternd vor Angst und Aerger. »Sie hören ja, es ist etwas Wichtiges – würde ich sonst am taufrischen Morgen hierherkommen?«

»Ich habe dem Joseph gar nichts zu befehlen,« erwiderte sie und schritt in das geöffnete Zimmer zurück, wo sie sofort einen zierlichen Staubbesen ergriff und sich mit so viel Prätention an ihre Arbeit begab, daß ich wohl einsah, eher würde ich Steine erweichen, als diese Person von der Stelle bringen.

»Joseph!« rief ich halblaut, aber Joseph bürstete schon wieder an der Treppe und schien mich nicht zu hören. Jetzt stieg mir das Blut siedend in den Kopf und im nächsten Augenblicke stand ich vor ihm. »Sie werden sofort Ihren Herrn wecken!« rief ich befehlend und trat mit dem Fuße auf. »Augenblicklich gehen Sie!« Bestürzt schaute er mich an.

»Mein Gott, Cousine, sehe ich recht?« hörte ich hinter mir Gerhards Stimme. Ich wandte mich; noch lag die ganze Empörung über die Widerspenstigkeit jener Menschen über mir. Ich entsinne mich, daß ich mit geballten Fäusten vor ihm stand, der mich verwundert und ängstlich anschaute; aber dann kam mit einem Schlage die Erinnerung an das, was mich hergeführt.

Er mußte offenbar längst wach gewesen sein, denn er war in seinem gewöhnlichen grauen Anzuge und den hohen Stiefeln, in denen er aufs Feld zu reiten pflegte, und hielt einen geöffneten Brief in der Hand.

»Ich muß Sie sprechen – gleich – ehe es zu spät ist,« stammelte ich, und wie einer Stütze bedürftig, nahm ich den dargebotenen Arm und ließ mich in sein Zimmer führen.

»Nun trinken Sie erst, Cousine,« bat er und reichte mir seine Tasse mit starkem, duftendem Thee, als er mich zu einem Sessel geführt, aber ich schob seinen Arm zurück.

»Ich danke, Vetter, später – Sie haben keine Zeit mehr, Robert und Joachim –« Da blieb ich stecken in meiner hastig begonnenen Rede, denn sein besorgtes Gesicht war plötzlich von einer Leichenblässe überzogen.

»Was – Magdalene? Sprechen Sie ruhig, was ist mit Joachim und Robert?« fragte er tonlos.

»Sie sind in Streit geraten, und Joachim hat ihn gefordert –!«

»Wen?«

»Robert.«

Er stand regungslos und schaute mich an, als zweifle er an meinen Worten.

»Um sechs Uhr, sie werden jetzt fahren,« setzte ich hinzu und zeigte nach der prächtigen Marmoruhr auf dem Kaminsims.

»Ich bitte Sie, Lena, woher wissen Sie –?«

Ich erzählte mit fliegenden Worten, wie ich mit Gottlieb in der Küche gewesen sei, wie ich den Streit gehört und die Forderung, ich berichtete den Wortlaut und daß nachher wirklich der Lieutenant von Reinsberg zu Robert gekommen sei.

Gerhard hatte währenddem seinen Hut ergriffen und den Ueberzieher angezogen; nun ging er noch suchend umher, dann nahm er hastig einen wohlbekannten grauen Shawl und schlang ihn um den Hals.

»Kommen Sie, Magdalene, und nehmen Sie meinen Dank; ich will mit Joachim sprechen.«

Eiligen Schrittes verließen wir die Villa und eilten durch die Parkwege. Verschiedenemal sah Gerhard nach der Uhr, und seine Miene verfinsterte sich, je öfter er dies that; als wir endlich vor der Thür des alten Logierhauses standen, schlug es sechs – durchdringend zerschnitten die grellen Töne die naßkalte Morgenluft. Wir sahen uns einen Moment in die Augen.

»Es ist zu spät!« flüsterte ich in leidenschaftlicher Angst; »o, Gerhard, Gerhard, es ist zu spät!«

»Aengstigen Sie sich nicht, Magdalene, und gehen Sie hinauf, Sie müssen ja krank werden vor Aufregung – gehen Sie, ich komme, sobald ich Sie beruhigen kann.«

»Ist mein Bruder auf seinem Zimmer?« fragte er dann einen Diener, der uns entgegenkam.

»Jawohl, gnädiger Herr!«

Gerhard eilte die Treppe hinauf, ich folgte ihm und sah ihn hastig in das Zimmer Joachims treten; aber auch schon in demselben Augenblick kehrte er zurück, und ohne mich anzusehen, war er an mir vorüber geeilt, und ich hörte ihn nach seinem Pferde rufen. Ich lief ihm nach und sah ihn unter der Hausthür verschwinden. Meine Gedanken flogen ihm voraus – wird er noch zur rechten Zeit kommen, wird er das Schreckliche verhindern können? Wird er sie überhaupt finden? – Mein Gott, es war gewiß nutzlos, daß er fortritt; wer weiß, wo sie sind?!

Da kam Gottlieb langsam die Treppe herauf. »Gnädiges Fräulein,« sagte er, »Sie haben es recht gut gemeint, aber –«

»Aber, Gottlieb?«

»Wenn Sie gestern abend zu Herrn Gerhard –«

Ich schwieg, mir war der Gedanke nicht gekommen in meiner Angst.

»Gottlieb, warum gingt Ihr nicht zu meinem Vetter?«

»Ich? Ei, gnädiges Fräulein, da sieht man's – Sie wissen gar nicht, was es heißt, wenn sich zwei Kavaliere fordern; da darf kein Mensch seine Nase zwischenstecken, am allerwenigsten ein alter, halb abgedankter Diener, der es so wie zufällig erlauscht hat, und wenn er auch einstmals die Kinder auf seinen Armen getragen, als wären sie sein eigen, und jeden ihrer Schritte bewacht hat. Nein, Fräuleinchen, und wenn ich wüßte, daß ein großes Unglück daraus entsteht, ich hätte keinen Finger darum gerührt, beileibe nicht. So einer jungen Dame verzeiht man's schon, wenn sie in heller Angst um die Frau Tante plaudert, was ihr nicht verboten ist. Ja, wenn's gestern abend war, da wäre vielleicht Herr Gerhard dem Bruder tüchtig in die Parade gefahren, aber so? Sie sind schon vor sechs Uhr über alle Berge gewesen, wahrscheinlich nach irgend einem stillen Fleckchen im Mühlenthale. Gott gebe das Beste!« Er schüttelte traurig den greisen Kopf und blickte starr ins Leere hinaus, und ich stand bebend und zitternd vor Kälte und Angst neben ihm.

»Da kommt der Herr zurück,« sagte er dann, und als ich über das Treppengeländer sah, schritt Gerhard eben die Stufen hinauf.

»Ich reite nicht,« sagte er kurz, »es wäre ja völlig nutzlos. Gesetzt, ich träfe sie wirklich, ich könnt's doch nicht hindern. Der alte unselige Haß!« murmelte er, und in diesem Augenblick sah er unbeschreiblich krank und gebrochen aus. Unwillkürlich legte ich meine Hand auf seinen Arm; ich wollte irgend etwas Tröstliches sagen, aber die zitternde Angst ließ mich das rechte Wort nicht finden.

»Wie bleich Sie sind, armes Cousinchen!« Er beugte sich zu mir herunter. »Kommen Sie, Lena, wollen Sie nicht in Ihr Zimmer?«

»Nein, nein!« bat ich. »Ich sterbe vor Angst und Aufregung.«

»Aber wohin bis zur Entscheidung?« fragte er. Dann nahm er mich wie ein Kind zur Hand. »Die Equipagen pünktlich um acht Uhr für die Herren. Gottlieb!« befahl er, »falls bis dahin noch nichts – – als wäre nichts geschehen; ich sei voraufgefahren, hörst du? Und besorge dies.«

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»Es ist doch das beste, Magdalene, Sie gehen ruhig in Ihre Stube; ich bitte Sie darum,« fuhr er fort, als ich ihn flehentlich ansah. Mich dünkte das Alleinsein augenblicklich unerträglich. »Legen Sie sich wieder zu Bette; Tante Edith würde sich beunruhigen, stände sie auf und fände Sie nicht.«

Ich gehorchte, und er blieb regungslos stehen, bis ich vor meiner Thür angelangt war. Dann wandte er sich und ging. Aber mich schüttelte es vor Angst und Grauen in dem morgendämmerigen Gemache, als grinste aus jeder Falte des Vorhanges ein bleiches, gespenstisches Gesicht, als tauche aus jedem Winkel etwas Schreckliches auf, das sich im nächsten Augenblick verwirklichen müsse.

Mit den feuchten Kleidern warf ich mich aufs Bett und barg den Kopf in die Kissen. So lag ich – heut' weiß ich nicht mehr, wie lange – äußerlich ruhig und doch mit Anstrengung aller Sinne hinaushorchend. Draußen wurde es lebendig, die Herren brachen zur Jagd auf, lärmend und lustig, dann wieder tiefe Stille. Im Nebenzimmer erwachte Tante Edith; ich steckte mich unter die Decke, sie durfte ja nicht sehen, daß ich schon vollständig angekleidet lag. Aber sie kam nicht; ich hörte, wie sie leise zu den Katzen plauderte, und dann mit Jette sprach, sich anklagend, daß sie so lange geschlafen. Sie habe ihren Sohn nicht mehr gesehen, ob er wohl Kaffee bekommen?

Nein! Jette hatte keinen Kaffee gekocht; der Herr Oberförster werde wohl mit den anderen Herren gefrühstückt haben.

Ich richtete mich empor und begann eilig die nassen Sachen abzustreifen und meine Morgenkleider anzulegen, als wäre ich eben aufgestanden. Da – heftiges Sprechen und Schreien im Korridor, eilige Füße liefen entlang. »Ein Unglück auf der Jagd!« rief jemand, »ein Unglück auf der Jagd!« wiederholte es sich dicht vor meiner Thür. Mir stand das Herz still und eine eisige Kälte rann durch meine Adern.

Da ist's, barmherziger Gott, da ist es, das Schreckliche, das Gefürchtete.

Schon längst war Tante Edith mit einem Schreckensruf hinausgeeilt, als ich mich soweit zusammengenommen hatte, um ihr zu folgen. Dort unten, wo der Gang in das Aebtissinnenhaus mündet, standen eine Menge Menschen, Knechte und Mägde vom Gutshof, andere liefen noch an mir vorbei; alle mit bestürzten, entsetzten Gesichtern; ich hatte Mühe, mich hindurchzudrängen.

»Es ist beim Treiben gekommen! Dat Gewehr is von sülben losgahn! Is he denn dod? Ne, he left noch –. I bewahr', he is gliks op'n Fleck dod wesen!« schwirrte es vor meinen Ohren.

Ich kann jene Stunde nicht mehr genau beschreiben, ich weiß nur noch, daß ich mich im nächsten Augenblick in dem Zimmer befand, aus welchem gestern Gerhards strafende Stimme erklungen war, daß dieser und einige andere Herren leise miteinander sprachen und daß Tante Edith geschäftig und unhörbar umherging mit jener Fassung, die eine edle Frau in der Stunde der Angst so wunderbar aufrecht erhält. Um wen sie sich dort bemühte, sah ich nicht; das Zimmer war in der Mitte durch einen schweren, grünen Samtvorhang geteilt, dessen eine Hälfte, vorgezogen, den verbarg, der dort gebettet war.

Ich wagte nicht, weiter zu gehen, nicht zu fragen, wer es sei von jenen beiden? Da flog die Thür auf und Ferra stürzte ins Zimmer; fast grauenhaft war sie anzuschauen in ihrem leidenschaftlichen Gebaren. »Joachim! Ist er tot? Joachim! So sagt's doch! Nun habe ich den einzigen verloren, der mich noch liebte; nun habe ich keinen mehr auf der Welt!« schrie sie und warf sich auf die Erde, als ihr Gerhard abwehrend entgegentrat, sie erschüttert um Ruhe und Schonung für den Schwerverwundeten bittend.

»Fasse dich, Ferra,« ermahnte er und bemühte sich, die schöne Gestalt, die wie hingeschmettert dalag, aufzurichten. »Ich bin ja noch da, habe ich dich denn nicht lieb? Sei ruhig, störe ihn nicht, vielleicht ist's seine letzte Stunde –!«

»Du?« fragte sie, sich emporrichtend, und schüttelte ihre halbgelösten Haare zurück, daß sie über das weiße Morgenkleid wogten. »Du? Nicht einen Augenblick warst du mir das, was mir Joachim gewesen, kannst es mir auch nie sein; wir haben uns nie verstanden!« Und die Hände vor das Gesicht schlagend, brach sie in leidenschaftliches, fast schreiendes Schluchzen aus.

Er wollte antworten, sie beruhigen – da trat er unwillkürlich zurück und auch ich barg mich erschreckt in die Falten des Vorhanges; Frau von Demphoff war eben eingetreten, die Blässe einer tiefen Erregung auf dem starren Gesicht.

In demselben Moment kam Tante Edith hinter dem Vorhang hervor, sie trug Leinwand und Binden über dem Arm und war im Begriff hinauszugehen – beider Fuß stockte, und regungslos standen sie sich gegenüber. Es war einen Augenblick totenstill im Zimmer, selbst Ferras Weinen verstummte und sie blickte mit angstvoller Erwartung auf die so lange verfeindeten Schwägerinnen.

»Arme Therese!« Tante Edith ging ihr mit ausgestreckten Händen entgegen, die Stimme schmolz ihr vor Bewegung und Mitleid. Statt jeder Antwort schritt Frau von Demphoff an ihr vorüber; den Vorhang zurückraffend und auf ein sorgsam in weiße Kissen gebettetes, wachsbleiches Gesicht deutend, fragte sie, so laut, daß der Verwundete schmerzlich zusammenzuckte:

»Meinst du, mit ein paar Thränen und glatten Worten das wieder gut machen zu können?«

Bestürzt schaute Tante Edith auf die große Frau, deren unheimlich funkelnde Augen sich tief in die ihrigen senkten. »Ich sage dir, rühre mein Kind nicht an!« fuhr sie fort im ausbrechenden Schmerz, und ihre Stimme war fast heiser. »Denn ich hasse dich – du hast mir alles genommen im Leben, woran ich gehangen, alles. Und dein Sohn, den ich geliebt wie mein eigen, der mordet heute mein Kind!«

»Robert hat es gethan?« schrie Tante Edith auf, »Robert? – Gerhard, sprich doch, träume ich denn? Robert! Robert! Therese, ich kann es nicht glauben, arme Therese! Warum denn?« Die alte Frau war zu Füßen der Schwägerin hingesunken und ergriff die Falten ihres Kleides. »Ich habe dir nie etwas Böses thun wollen mit Absicht – nein, nein, du irrst.«

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Die alte Frau war zu den Füßen der Schwägerin hingesunken.

Herzzerschneidend klang diese weiche, überzeugende Rede durch das stille Zimmer.

»Schau doch, Therese,« fuhr sie hastig fort, »du weißt ja gar nicht, wie lieb dich Robert hat, wie seine Mutter, Therese; ja gewiß, gewiß, wie eine Mutter! O, wie oft war ich eifersüchtig auf dich, wie manchmal habe ich geweint, wenn er sich zu dir wandte –! O, laß nach so langen Jahren den alten Haß vergessen sein, sieh', sieh', meine Haare sind weiß geworden, seitdem wir uns nicht gesehen, es liegen harte, erbarmungslose Jahre dazwischen; laß es genug sein! Gib mir die Hand, Therese, mein Robert war es nicht, o nein, wie kannst du so etwas denken?«

»Mutter, schone sie,« hörte ich Gerhard leise sagen, »noch lebt Joachim; du kannst sie töten mit solchen Worten.«

Ich ertrug es nicht mehr und lief hinaus; als ich die Thür schließen wollte, hörte ich einen gellenden Schrei: »Robert! Robert!« – Tante Edith rief es.

Wie gejagt floh ich den Korridor entlang nach unserem Zimmer; ungestüm öffnete ich die Thür. Mir war es, als zerreiße das gewaltige Leid meine Brust, wenn ich es nicht hinausschreien könnte; aber mein Mund blieb stumm. Dort in der Mitte des großen Gemaches stand Charlotte, und vor ihr auf den Knieen, das Gesicht in beiden Händen geborgen, lag Robert.

Helles Sonnenlicht flutete durch die Fenster und umwob die schlanke Mädchengestalt wie mit einem Glorienschein; da draußen zerteilten sich eben die Wolken und goldener Glanz flog über die herbstlich bunten Wälder – hier innen war es dunkle, schaurige Nacht geworden.

»Rühre mich nicht an!« schrie Charlotte jetzt unheimlich gellend auf und wich zurück, als Robert ihr Kleid ergreifen wollte. »Geh! Geh! ich kann, ich darf dich nicht sehen!«

Da sprang er heftig empor und schritt wankend bis zur Thür. Noch einmal wandte er sich um, unsagbar traurig blickten seine Augen zurück. »Charlotte!« klang es flehend herüber.

»Geh!« wiederholte sie tonlos und ihre Hände streckten sich wie abwehrend gegen ihn aus. Da flog die Thür dröhnend hinter ihm ins Schloß und lautlos sank Charlotte zu Boden.

Im nächsten Augenblick war ich bei ihr. »Charlotte, was thatest du?« rief ich weinend, meine Arme um sie schlingend. »Ruf ihn zurück, laß ihn nicht so fortgehen, sage ihm wenigstens ein einziges gutes Wort!« Aber sie stieß mich heftig zurück und richtete sich empor: »Er wird sterben, Joachim, und ich bin seine Schwester!« – Wie ein heiserer Schmerzensschrei klang dieses letzte Wort. »Seine Schwester!« murmelte sie noch einmal, die Hände vor das bleiche, entstellte Gesicht legend.

Und als es Abend ward, da wehte es unheimlich durch die dämmerigen Gemächer des alten Klosters – Joachim war gestorben.

Dann fuhr rasch ein Wagen in die sinkende Nacht hinein; im Aebtissinnenhause aber flog klirrend ein Fenster auf, ein blonder Mädchenkopf bog sich hastig hinaus und schaute mit brennenden, thränenlosen Augen dem Gefährt nach. Der letzte rote Schein der Abendsonne fiel durch die halb entlaubten Aeste der Bäume, intensiv rot und purpurn wie das Blut, das zwischen ihnen geflossen und das sie scheiden mußte für alle Zeiten, die beiden, die sich kaum gefunden.

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