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7.

.Ein trüber Oktobertag spannte sich draußen über Park und Wald aus, die Blätter der Bäume hingen naß und glänzend an den Zweigen und in den Parkwegen wurde sorgsam das gelbe Laub zusammengefegt. Es war der Vorabend der großen Jagd, man erwartete die Gäste, und ein ungewohnt lautes Treiben entfaltete sich in unserem sonst so stillen Hause. Im Korridor dröhnten die Schritte der Dienerschaft, Thüren wurden geschlagen und der Hall lief erschütternd an den hohen Wänden entlang. Vetter Gerhard und Ferra inspizierten noch einmal die Gastzimmer; man konnte Ferras langsames, deutliches Sprechen bis in Tantes Wohnstube hören. Auch hier sah es bereits ganz festlich aus, denn auch sie erwartete heute abend einen lieben Gast, ihren Sohn. Gottlieb hatte an den Stubenthüren Guirlanden aus Tannengrün befestigt, und aus dem dunklen Gezweig leuchteten die purpurroten Früchte der Eberesche hervor. Die alten, soliden, kunstreich eingelegten Möbel glänzten wie neu aus der Tischlerwerkstatt, und Tante ging in ihrer stillen Weise noch immer ordnend ab und zu im Zimmer. »Jette, wirf mir nicht die Tasse entzwei mit dem Jagdstück,« ermahnte sie, »es war meines seligen Mannes Mundtasse. – Und Lena, du könntest wohl noch ein paar Blumen im Klostergarten zusammensuchen, um den Napfkuchen zu bekränzen.«

Ich legte sofort meine Arbeit weg, um hinauszugehen, da schob sich Charlottes schlanke Gestalt durch die Thür; sie hielt die eine Hand auf dem Rücken, und erst als sie dicht vor Tante Edith stand, präsentierte sie ihr ein prächtiges Bouquet später Rosen. »Da, Tante, laß nur die Klosterblumen,« sagte sie, »ich habe diese da dem Gärtner beinahe auf den Knieen abgebettelt, denn Ferra hatte sie samt und sonders für sich in Anspruch genommen. Die stellst du Robert heute abend auf seinen Platz bei Tische.«

»Bleibst du hier, Lottchen?« fragte Tante und beschaute entzückt den Strauß von allen Seiten.

»Jetzt, ja, solange du mich behalten willst, denn drüben ist nicht gut sein – Meinungsverschiedenheiten zwischen Ferra und Gerhard wegen Joachim – brr! – das ist schrecklich für mich; und Mama ist verstimmt. Ob ich zu Abend hier bleiben kann? Ich möchte gern, aber –« Sie zuckte unmutig die Achseln. »Robert kommt doch mit eigenem Geschirr?« setzte sie fragend hinzu.

»Freilich, Lottchen, ich muß doch seine Equipage sehen; es ist ja auch gar keine so starke Tour; nun weiß ich aber gar nicht, um welche Stunde er eintreffen kann, er schreibt nur: ›Heute abend‹.«

Es war um die Vesperzeit und Charlotte ließ sich den Kaffee und Honigbrot köstlich mit uns schmecken. Dann banden wir den Katzen die roten Halsbänder um, ohne Glöckchen jedoch, und Charlotte gab Tante den Rat, sie möge die guten Tierchen doch lieber einsperren, denn jedenfalls wären Schützen darunter, die eine Katze schwerlich von einem Hasen unterscheiden könnten. Nachher lief ich mit Charlotte durch die Logierzimmer und bewunderte die mächtigen Himmelbetten, die altmodischen Waschtische, die blendend weiße, feine Wäsche und die beinahe ungeheuren Räume, die in der hereinbrechenden Dämmerung des trüben Tages fast noch größere Dimensionen anzunehmen schienen! Fast die ganze Reihe der Zimmer war hergerichtet, nur die Räume des Aebtissinnenhauses lagen, wie immer, in ihrem schweigenden Verlassensein.

Charlotte hatte den Arm um mich geschlungen und war still geworden. Vorher hatte sie geträllert und gesungen, aber als wir jetzt, aus dem letzten Zimmer tretend, den Korridor wieder durchschritten, kam kein Ton mehr über ihre Lippen; nur in ihren Augen lag ein glücklicher, träumerischer Ausdruck.

»Singe doch weiter,« bat ich, »singe noch einmal:

Mein Schatz ist ein Jäger!«

Sie ließ mich plötzlich los und sah mich wie erschrocken an. »Nein, komm nur,« sagte sie dann, »ich mag heut' nicht mehr singen.«

Als wir wieder in Tantes Zimmer traten, saß diese vor ihrem Schreibtisch; die Klappe war heruntergelassen und sie hatte eine Menge Fächer und Schübe herausgezogen, in denen sie unter allerhand Sachen herumkramte. Der Schreibtisch nahm einen prächtigen Platz neben dem Kamin ein; auf der andern Seite stand ein Blumentisch, dessen steifblätterige Gummibäume und graziöse Palmenfächer sich miteinander mischten. Gottlieb hatte, da Tante leicht fröstelte, ein lustiges Holzfeuer angezündet und die gelben Flammen spiegelten sich in dem alten Parquetboden wieder und warfen helle Streiflichter auf Tantes graues Kleid. Charlotte kauerte sich geschwind in einen großen Lehnstuhl neben ihr und blickte nachdenklich auf das emsige Treiben der feinen Hände dort am Schreibtisch, und ich setzte mich auf ein Bänkchen in die Nähe des Feuers und gab mich ganz dem Zauber des traulichen Dämmerstündchens hin.

Da ruhten plötzlich Tantes Hände, und als ich aufblickte, hielt sie einen verdorrten, feinblätterigen Kranz in der Hand. »Seht her, Kinder,« sagte sie weich, »dies war mein Brautkranz.«

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»Seht her, Kinder,« sagte sie weich, »dies war mein Brautkranz.«

Ich betrachtete mit einem Gemisch von Ehrfurcht und Neugierde das vertrocknete Gewinde und dann wieder die kleine, alternde Frau; es kam mir fast wunderbar vor, daß sie einst auch jung gewesen und einen blühenden Schmuck getragen hatte. Auch Charlotte bog sich hinüber und schaute mit leuchtenden Augen auf das verdorrte Zeichen eines längst vergangenen Glückes.

»Ach ja,« begann Tante Edith leise, »an dem Tage, wo so ein Kranz noch grün und frisch ist, da meint man, der Himmel mit all seiner Seligkeit sei zu uns herniedergestiegen. Das dacht' ich auch, Kinder, und es war doch eine so traurige Hochzeit, die meine. Ich war ein Waisenkind, wie du, Lena, aber Gott behüte dich einmal vor solch einem Ehrentage. Diesen Kranz hier habe ich mir selbst gewunden, eine Freundin hatte ich dazumal nicht, und mein Hochzeitsgeleit war die alte Großmutter meines Mannes, und außer ihr war nur noch der Pastor in der Kirche, als wir dort vor den Altar traten. Was habe ich da geweint und gebetet, Kinder; aber dann, als ich mit meinem Mann durch den taufrischen Wald ging – des Morgens ganz früh hatten wir uns trauen lassen, um alles Aufsehen zu vermeiden –, immer tiefer hinein in die grüne Wildnis, in der das Forsthaus lag, das meine Heimat sein sollte, und wie der Sonnenschein in den Tautropfen funkelte auf jedem Blättchen, wie der frische Waldesodem mich anwehte und ich so ganz allein war mit dem Manne, den ich so lieb hatte, und die beglückende Gewißheit, daß uns niemand mehr zu trennen das Recht habe als nur Gott allein, da habe ich eine Seligkeit empfunden, so voll und ganz und rein, wie sie kaum eine Braut im lärmendsten, prächtigsten Hochzeitsjubel empfinden kann. Und wenn ich einmal undankbar sein will gegen den lieben Gott, weil er mir so Schweres auferlegt hat, dann zaubere ich mir den Morgen meines Hochzeitstages herauf und den Augenblick, wo ich von seinem Arm umschlungen im Myrtenkranze neben ihm stand, just auf der Stelle, wo man zuerst den Giebel unseres Hauses sehen konnte, der aus üppigem Buchenwalde hervorragt. Ich meine wieder sein frisches Gesicht zu sehen, das da mit leuchtenden Augen hinübersah, und seine treuherzige, gute Stimme zu hören, als er sprach: ›Da grüßt dich deine Heimat, Edith!‹ Das war eine Stunde, in der alles Leid so weit hinter mir lag, wie wenn es nie gewesen, wo kein Unfriede denkbar war in der Welt, eine Stunde des reinsten, des ungetrübtesten Glückes.«

Sie hielt noch immer den welken Kranz in der Hand und die liebliche Erinnerung an jenen Morgen färbte ihre Wangen mit fast jugendlicher Röte. Dann legte sie ihn hastig in die Schachtel zurück. »Kinder, was spreche ich da?« sagte sie und fuhr sich über die Augen. »Was wißt ihr von solchen Sachen. – Da schaut, ist das nicht niedlich?« Und lächelnd hielt sie uns einen vertretenen Kinderschuh entgegen.

»Das waren seine ersten Schühchen, Lena, rote winzig klein die sind, nicht wahr?«

»O, gib ihn mir einmal!« bat Charlotte leise; und als der kleine Schuh in ihrer Hand lag, da streichelte und liebkoste sie ihn beinahe ebenso wie Tante, aber nur in scheuer Hast, als schäme sie sich deshalb.

»O, Herr Gott!« unterbrach sich die alte Dame, »die Zeit vergeht, und über den alten Geschichten vergesse ich das, was ich eigentlich hier wollte. Da seht, Kinder, das bekommt der Robert heute,« rief sie und hielt einen Hirschfänger mit reich vergoldetem Griff empor; »der ist von seinem Vater und er soll ihn jetzt tragen.«

Dann fing sie an, die Sächelchen und Sachen wieder in die Kästen zu thun, während Charlotte den Hirschfänger betrachtete. Endlich legte sie ihn auf ihren Schoß, und als Tante nach dem kleinen Schuh verlangte, gab sie ihn nur zögernd zurück. »Nein, nein, Lottchen, den bekommst du nicht,« sagte Tante lachend, »den laß mir nur.« Charlotte wurde purpurrot und wandte hastig den Kopf; es ward still im Zimmer und dämmerig, das Feuer war allmählich niedergebrannt.

»Nun erzählt mir noch etwas, Kinder,« bat Tante, sich in den bequemen Stuhl setzend, den ihr Charlotte einräumte; »erzählt, damit die Zeit hingeht.«

»Ach nein, liebe Tante,« bat Charlotte, »du sollst uns etwas erzählen, und weißt du, was?« Sie war niedergekniet und hatte Tantes Hand ergriffen. »Sag es uns, weshalb du einstmals heimlich von hier fortgegangen bist? Du glaubst nicht, wie ich darauf brenne, es zu wissen.«

»Ei, Kindchen, die Geschichte ist fast zu traurig für ein paar junge Dinger, wie ihr seid –«

»O, bitte Tante, bitte,« flehte Charlotte; »nicht wahr – sie waren unfreundlich zu dir, sie wollten nicht, daß du deinen Mann haben solltest?«

»Ja, Lottchen, das war es!« sagte Tante Edith. »Gott weiß es, der Entschluß ist mir nicht leicht geworden, aber ich konnte nicht anders; mit all meinem Sinnen und Denken hing ich an ihm, den ich doch vergessen sollte um jeden Preis!

»Ja, wenn ich nur gewußt hätte, warum? Aber es war kein Tadel an ihm; gut, rechtschaffen, ein so prächtiger Mensch, wie es kaum einen gab, von Kindesbeinen an wohlbekannt und gelitten in unserem Hause – meine Brüder zählten ihn zu ihren liebsten Freunden. Daß wir uns liebten, wußte dein Vater längst, Lottchen, und meine selige Mutter hatte mir noch auf dem Sterbebette zugeflüstert: ›Wenn es kommen sollte, Edith, daß Berka dich zur Frau möchte, dann sage nicht nein, er ist ein goldtreues, prächtiges Gemüt!‹

»Nun, nachher verheiratete sich dein Vater, Kind, und von jener Zeit an trat man unserer Liebe entgegen, wo es nur anging; nicht offenkundig, Gott bewahre, aber dies war tausendmal schlimmer. Es gingen mitunter vierzehn Tage hin, daß ich Berka nicht sah, obgleich er die Woche mehreremal von Fölkerode herüber kam; fast immer traf es sich, daß ich mit meiner Schwägerin spazieren gefahren oder ausgegangen war, und fand er mich einmal daheim, so wurde es uns zur Unmöglichkeit gemacht, auch nur ein Wörtchen ungestört miteinander zu sprechen.

»Er war aber keiner von denen, die gern mit geschlossenem Visier kämpfen. Eines Tages, nachdem – ich muß es leider sagen – ein Brief von ihm, den er mir durch einen Boten hatte senden wollen, merkwürdigerweise nicht in meine Hände gelangt war und er über dessen Verbleib nichts hatte erfahren können, kam er angeritten und ging schnurstracks in meines Bruders Zimmer. Ich saß nebenan mit meiner Schwägerin, die eben Gerhard auf dem Schoße wiegte; deine Mutter, Charlottchen, ist nie von vielen Worten gewesen, aber eben hatte sie doch eine längere Rede zu mir geredet, und zwar des Inhalts, daß Berka ein jähzorniger, heftiger Patron sei und nimmermehr dazu geschaffen, eine Frau glücklich zu machen. Ich antwortete nicht und biß mir fast die Lippen wund, um nicht zu weinen; da hörte ich durch die geschlossene Thür einen heftigen Wortwechsel und erkannte Berkas zornige Stimme.

»Im nächsten Moment stand ich zwischen den streitenden Männern und erklärte, daß ich Berkas Braut sei und bleiben wolle.

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»›Wir werden sehen,‹ sagte dein Vater.

»›Ja, wir werden sehen,‹ erwiderte ich und damit fing unsere Feindschaft an. Tagelang blieb ich auf meinem Zimmer eingeschlossen, mir unaufhörlich das Gehirn zermarternd, was nun werden solle? Ich hatte Berka an jenem Tage vermocht, ohne größere Streitigkeiten Wendhusen zu verlassen und ihm die Versicherung gegeben, ihm treu zu bleiben. An Flucht dachte ich nicht, obgleich mir hunderterlei Pläne durch den Kopf flogen; dann kam ich auf das Einfachste und Natürlichste: ich ging zu deiner Mutter, stellte ihr vor, wie lange und wie treu wir uns liebten, und bat, sie möge ihren Groll gegen uns fahren lassen und mit frauenhafter Milde meines Bruders Sinn für uns zu erweichen suchen; sie solle sich nur einmal in meine Lage versetzen, sich denken, es wären ihrer Liebe solche Hindernisse entgegengetreten –.

»›Nie und nimmermehr!‹ rief sie mit einer Heftigkeit, mit einer Bestimmtheit, die mir deutlich verriet, daß ich von ihr nichts zu hoffen habe. ›Gut,‹ antwortete ich, ›dann muß ich sehen, wie ich allein fertig werde,‹ und ging in mein Zimmer; dort fing ich an, meine Sachen zurechtzulegen. Was ich eigentlich wollte, war mir selbst nicht klar, nur fort! fort um jeden Preis! Dann schlich ich mich in die Gesindestube, winkte Gottlieb, der damals noch ein gewandter, strammer Mensch war, und bestellte ihn mit dem Wagen draußen an die drei Buchen. – Seitwärts von Fölkerode liegt ein kleines Dorf und dort wohnte die verwitwete, sehr alte Großmutter Berkas; sie war schier kindisch und ich kannte sie nur aus seinen Erzählungen, hatte ihm doch das großmütterliche Haus das Vaterhaus ersetzen müssen, da er seine Eltern früh verlor. Und so fuhr mich Gottlieb bei Nacht und Nebel dorthin – heimlich, wie eine Verbrecherin verließ ich mein Vaterhaus; aber dort unten an den Stufen der Freitreppe, da knickte ich fast zusammen vor Jammer und Weh in jener Stunde, und beinahe wäre ich umgekehrt trotz der unglückseligen Verhältnisse. Es war mir, als ließe ich unauslöschliche Schande zurück, als legte ich etwas, das schlimmer wie ein Fluch, auf die gesegnete Stätte der Heimat.

»Aber dann warf ich mich in den Wagen, und als die Pferde anzogen und die Umrisse des alten Klosters bei der nächsten Biegung aus dem Gesicht entschwanden, da habe ich geweint und geschluchzt und gebetet wie eine Verzweifelte! – Die alte Frau verwunderte sich nicht wenig, als in tiefer Nacht die Braut ihres Enkels über die Schwelle trat, und obwohl sie nicht mehr recht begriff, um was es sich handelte, nahm sie mich doch freundlich auf und pflegte und hätschelte mich. Am andern Tage teilte ich meinem Bruder schriftlich mit, daß ich nicht wieder in sein Haus zurückkehren werde, und schrieb zu gleicher Zeit an Berka, wo ich sei und was ich gethan. Mein Bruder antwortete mir gar nicht, sondern schickte nur die nötigen Papiere; von anderer Seite aber erfuhr ich, daß ein Sturm des Entsetzens die alten Gemächer auf Wendhusen durchbraust habe, und daß man in der Entlaufenen keine Schwester mehr anerkenne.

»O, Kinder, ihr wißt nicht, wie mir zu Mute war in jener Zeit, und doch sind die ersten Jahre meiner Ehe die glücklichsten meines Lebens gewesen. Aber dann kam es angebraust wie ein Sturm durch den Wald, das Schicksal. Zuerst hatte mein Mann das Unglück, einen Wilddieb niederschießen zu müssen; von Woche zu Woche fanden wir Drohbriefe oder Zettel in das Haus geworfen, daß man sich rächen werde; es war eine schlimme Zeit damals, das Jahr 1848. Eines Abends saß ich mit meinem Manne im Wohnzimmer, er war eben aus dem Forste heimgekehrt, und wir spielten mit Robert, da knallte es und eine Kugel pfiff dicht über seinen Kopf hinweg und zerschmetterte einen gegenüberhängenden Spiegel in tausend Scherben. Jeden Tag sah ich ihn mit einer wahren Todesangst scheiden, und ruhelos lief ich dann im Hause umher, bis ich endlich wieder den geliebten Schritt hören und die Arme um ihn schlingen konnte, der mein alles war. Kinder, in solchen Zeiten lernt man beten; ihr glaubt es nicht, wie ein solches herzinniges, aus lauter Liebesangst hervorgegangenes Gebet die Seele stärkt und uns hinwegtragen hilft über so manche unendlich bange Stunde.

»Aber – will's Gott, wer wendet's? – sagt ein altes Sprichwort, und so kam denn jener entsetzliche Tag, an dem ich seinen Schritt nicht mehr hören konnte, weil sie ihn in sein Haus trugen, tot und starr!«

Sie schwieg wie erschöpft. Mir waren die Augen feucht geworden und ich faßte unwillkürlich nach Charlottes Hand, aber ihr Stuhl war leer und im Umhertasten berührte ich ihr weiches Haar. Sie kniete vor Tante Ediths Sessel und ein leises Schluchzen drang in mein Ohr.

»Genug davon, weine nicht, Lottchen,« sprach Tante weiter, »ich sagte es ja gleich, die Geschichte ist zu traurig für so junges Volk, das noch nichts Schweres erlebt hat; bewahre euch der Himmel davor! Freilich, du, kleine Lena, du weißt es auch schon, was es heißt, an einem Sarge zu stehen und es doch nicht fassen zu können, daß drinnen in diesem engen, schauerlichen Raume eines geliebten Menschen Antlitz ruht, das uns nie wieder zulächeln soll, dessen kalter Mund kein Wort wieder spricht, daß das, was unser ganzes, großes Glück gewesen – verloren ist, unwiederbringlich verloren.

»Und nun, nachdem sie ihn begraben, trat das Leben mit all seinen ungestümen Forderungen in meine tiefe Witwentrauer. Ich mußte ja sorgen für mein Kind, und diese Sorgen waren drückend schwer. Meine lächerlich kleine Pension reichte ja nicht einmal für unsere Bedürfnisse, geschweige für die Erziehung Roberts. Mein Mann hatte, als wir uns verheirateten, in stolzem Selbstgenügen meinem Bruder geschrieben, daß er auf jede Mitgift seiner Frau verzichte. Nun mußte ich in bestimmter Frist das Forsthaus räumen und wußte nicht wohin mit meinem Kinde, wußte nicht einmal, wo ich mir Rat holen konnte.

»Da, es war ungefähr vier Tage vorher, ehe ich das alte, traute Haus verlassen sollte, brach in der Nacht Feuer aus – nie vergesse ich diese Nacht! Ich erwachte von einem Schrei, so grausig, so markerschütternd, daß ich förmlich entsetzt emportaumelte; wenn ich an diesen Schrei denke, so fühle ich immer wieder, wie mir ein eiskaltes Grauen durch die Adern rinnt; in demselben Moment wurde an meine Fensterläden gepocht und die Stimme eines Jägerburschen schrie: ›Feuer! Feuer!‹ Und als ich die Läden aufstieß, leuchtete mir glutroter Schein entgegen; drüben stand eine Scheune in hellen Flammen.

»So recht weiß ich nicht mehr, was ich that; Robert aus dem Bette reißen und ihn in seine Kleider hüllen, war das erste. Dann suchte ich mechanisch umher nach allerlei Dingen, die ich mitnehmen, retten wollte; als ich später entdeckte, was ich eigentlich da zusammengerafft hatte, mußte ich lächeln; und doch, ich konnte mir gar nichts Lieberes gerettet haben: es war die Schachtel mit meinem Brautkranz, der kleine Kinderschuh und meines Mannes silberner Hirschfänger, nebst einem Paar silberner Löffel und etwas Wäsche. Und als ich dann mit meinem Kinde und einem Bündelchen in der Hand unter den dunklen Bäumen stand und wie geistesabwesend in die lohe Glut starrte, da erschien mir alles wie ein wilder, wüster Traum. Ich erinnere mich noch, daß eine Menge Leute aus den umliegenden Dörfern umherstanden, aber sie rührten weder Hand noch Fuß um zu retten, es war eben 1848. Einen der Förster wollten sie ins Feuer werfen; ich hörte das Gebrüll der trunkenen Menge, sah, wie sie mit ihm rangen; sie warfen aus den Fenstern des Hauses, was drinnen war; Stück für Stück meines einfachen Haushaltes, an deren jedes sich eine süße Erinnerung knüpfte, flog heraus, zertrümmert oder um von der Menge demoliert zu werden. Es war eine so wüste, entsetzliche Scene, beleuchtet von der roten Glut des Feuers, die nun auch die prächtigen alten Eichen ergriffen hatte, welche unser Haus umstanden. Gott sei Dank gelang es noch, das alte, liebe Wohnhaus zu erhalten.

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»Robert hielt mich angstvoll umklammert und die alte Diana, meines Mannes Liebling, ein prächtiger Hühnerhund, stand neben mir mit leisem Geknurr. Da hörte ich meinen Namen rufen und wie mit tausendstimmigem Geheul wurde beigestimmt; ich wußte, sie wollten mich suchen, und jetzt kam Leben in mich, voll namenlosen Entsetzens zog ich den Knaben mit mir fort und floh. Wie weit ich gekommen, ehe ich erschöpft niedersank, ich weiß es nicht mehr, es war am Rande eines Fahrweges und eben kam ein Wagen daher; ich rief ihn an, und als er hielt, erkannte ich den Pfarrer eines benachbarten Dorfes. Der alte Herr erschrak, als er mich sah. ›Es brennt in der Oberförsterei!‹ sagte ich noch mit Aufbietung aller Kräfte, als ich mit Robert im Wagen saß. – ›Schufte, verfluchte!‹ murmelte er, dann fragte er, wohin er mich fahren solle?

»›Nach Wendhusen,‹ sagte ich mechanisch, schon halb im Fieber. Ich dachte, daß, wenn es auch weiter nichts mehr, doch immer mein Vaterhaus sei, und in jenen Augenblicken der Aufregung hatte ich alles vergessen, was mich von ihm trennte. Es war tief in der Nacht, als wir hier ankamen, und die Glocke der Pforte tönte mir in die Ohren, wie ein Sterbeglöcklein; dann huschten Lichter hin und her, die große Thür im Aebtissinnenhause öffnete sich und mein Bruder, der in diesen unruhigen Zeiten wohl eine alarmierende Nachricht vermutete, stand, gefolgt von einiger Dienerschaft, auf der Freitreppe. Ich hielt mich an dem Eisenknopf des Geländers und sah ihm in die Augen; er stutzte, als er mich erblickte; einen Moment flog es über sein Gesicht wie Härte, aber dann kam der alte Zug von Güte und Milde, der doch sein ureigenstes Wesen war, zum Durchbruch.

»›Gib mir ein Obdach, Werner, mir und meinem Kinde,‹ bat ich, so monoton, als wäre es etwas Eingelerntes, denn mein Denken war schwach und die Zunge versagte mir. ›Sie haben mir das Haus über dem Kopfe angezündet und ich bin krank.‹ Da faßte er mich in seine Arme, weil ich wankte, und trug mich in das Haus; dann schwand mir die Besinnung.

»Lange bin ich damals krank gewesen, lange und schwer; ich habe absolut keine Erinnerung mehr davon, nur des Tages erinnere ich mich, als ich zum erstenmal wieder im Bette hoch saß – es war in jenem Schlafzimmer dort – und mich besann auf alle die grausamen Einzelheiten, die mich betroffen hatten. Gottliebs Frau pflegte mich und durch sie erfuhr ich, daß ich dem Tode nahe gewesen sei. Es war ein trauriges Erwachen, und früher habe ich mir oft, so oft gewünscht, daß ich damals gestorben wäre. Das Verhältnis zu deinen Eltern, Lottchen, blieb ein gespanntes, ja feindseliges, obgleich ich versuchte, mich ihnen zu nähern, und selbst Demütigungen nicht scheute; meinen Robert aber hatten sie mir genommen, er solle mit Gerhard und Joachim erzogen werden. Mir ward diese Wohnung angewiesen, und eines Tages kam mein Bruder zu mir, das einzigemal in den vielen Jahren, um mir zu sagen, daß er das einst von meinem Manne verschmähte Kapital für mich und meinen Sohn verzinsen wolle, daß ich aber versprechen müsse, mich nicht in die Erziehungsangelegenheiten meines Kindes zu mischen, da er bezweifle, daß ich diese zu leiten verstehe.

»Was sollte ich thun? Mir blieb keine Wahl! Hinaus gehen aus dem Hause, das mir wenigstens ein Dach über dem Haupte bot, mit meinem Knaben, das durfte ich nicht, denn ich hätte nicht für unsern Unterhalt sorgen können; ich kränkelte damals fortwährend, und ein Wunder war es nicht. So lebte ich denn ein Leben hin, düster und einsam, jeden Lichtschimmers entbehrend, denn auch mein einziges Glück, mein Kind, drohte mir verloren zu gehen. Wenn ich die jubelnden Kinderstimmen hörte, die von dem verlassenen Korridor zu mir heraufschallten, dann klopfte mein Herz in Erwartung und fieberhafter Aufregung, aber wie hundertmal wartete ich vergebens. Tagelang sah ich ihn nicht, und wenn einmal draußen zögernde Schritte erklangen und ich vor Freude zitternd durchs Zimmer lief, um die Thür zu öffnen, dann stand mein kleiner Sohn scheu und fast trotzig vor mir und ließ sich meine Liebkosungen nur mit sichtlichem Widerstreben gefallen. Das war mein frischer, herziger Junge nicht mehr, der einst mit so stürmischer Zärtlichkeit an meinem Halse gehangen!

»›Robert!‹ bat ich mitunter, fast auf den Knieen vor dem Jungen liegend, ›hast du denn deine Mama gar nicht mehr lieb? Hast du denn vergessen, wie schön es war, wenn wir abends in den Wald gingen, dem Papa entgegen, und wir sahen Rehe, und ich flocht dir einen Kranz für deinen Hut? Sag doch, besinnst du dich nicht mehr darauf?‹ Dann nickte er wohl und einen Augenblick flog ein freundlicher Schimmer über sein trotziges Gesichtchen. ›Aber hier ist's doch besser,‹ antwortete er gewöhnlich. Ich bat ihn, er möge doch bald wiederkommen; ich begann, ihm von seinem Vater zu erzählen, wie gut und wie brav er gewesen – er hörte kaum auf das, was ich sagte, und trippelte vor Ungeduld von einer Stelle zur andern. ›Aber, Robert!‹ rief ich fast verzweifelt, ›hast du denn gar kein Mitleid mit mir, daß ich immer so allein sein muß?‹ Dann sah er mir mit einem kindisch gleichgültigen Blick in die Augen und schüttelte trotzig den Krauskopf, und wenn ich weinte, so lief er eilends davon und kam erst dann einmal wieder, wenn ich, es vor Weh und Sehnsucht nicht mehr aushaltend, Gottlieb absandte, und es ihm gelang, den Jungen durch allerlei kleine Künste und Versprechungen zu mir zu locken.

»Was habe ich damals für Zeiten durchlebt in der Angst um die Entwickelung und den Charakter meines Kindes, und doch nicht helfen zu können! Dazu hörte ich über ihn klagen, als einen zänkischen herrschsüchtigen Buben, und Joachims zeterndes Geschrei bewies mir oft genug, daß sich die beiden so feindlich gesinnten Jungen rauften. Eines Tages hörte ich auch wieder vom Vorsaal des Aebtissinnenhauses das laute Wehgeschrei Joachims und Roberts zornige Ausrufe: ›Abscheulicher Junge du! Wart, ich will dir heimkommen!‹ drangen deutlich bis hierher in mein stilles Zimmer. Zuerst blieb ich ruhig sitzen, dann als der Tumult größer wurde, ließ ich meine Arbeit liegen und flog den Korridor entlang; auf den Stufen, die dort unten den langen Gang abschließen, lagen die beiden Knaben im wütendsten Ringen, und das Wachtelhündchen Gerhards saß mit emporgehobener Vorderpfote daneben und heulte jämmerlich; Robert aber war mit Fäusten und Tritten über den brüllenden Joachim her und verbläute ihn weidlich. Ich zog den kleinen Wüterich zurück, da stieß er wild um sich und mit zornrotem Gesicht wandte er sich zu mir. ›Er hat den Hund gequält!‹ schrie er wütend. ›Ich muß ihn prügeln, den schwarzen Duckmäuser!‹ Es war vergeblich, ihn zu halten; da trat aus dem Bibliothekzimmer deine Mutter heraus, Charlotte, und wir standen uns plötzlich gegenüber, das erstemal seit meiner Flucht, aber auch das letztemal; selbst nicht am Sarge deines Vaters haben wir uns die Hände gereicht. Wir starrten uns beide voll Schrecken an, über ihr einst so blühendes Gesicht waren die wenigen Jahre nicht schonungsvoll dahingezogen, und sie erkannte mich wohl auch kaum, denn aus mir war ein frühzeitig verblühtes, arg vergrämtes Weib geworden; mein Spiegel sagte es mir alle Tage. So standen wir uns gegenüber, in dem dämmerigen Vorsaal, und zwischen uns rangen die Kinder, jetzt aber in stummer Wut.

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»Dann kam Leben in die Gestalt deiner Mutter; sie riß jäh meinen Knaben empor und erhob ihre Hand zum Schlage, er sah trotzig zu ihr auf; da stieß sie ihn hastig zurück und rüttelte wild ihr eigen Fleisch und Blut, alles lautlos mit festgeschlossenen Lippen. Ich griff nun auch nach meinem Kinde und zog es zu mir, es strafend anzusehen, aber im Nu hatte sich der Junge losgerissen, und die Arme um deine Mutter schlingend, barg er den Kopf in ihren Kleidern –.

»Da stand ich, entsetzt und ratlos! Ueber das Gesicht meiner Schwägerin flog ein Lächeln, das ging mir durch und durch. Es war nicht schadenfroh – o nein, es war ein beglücktes Lächeln, das ihr kaltes Gesicht wunderbar verschönte –. Ich aber wandte mich und schritt in mein Zimmer, und dort lag ich elender wie ich je gewesen; meines Kindes Herz glaubte ich verloren!

»Und so lebte ich lange, lange fort, an nichts mehr Freude habend, an nichts mehr einen Halt. Die Kinder wuchsen empor, du wurdest geboren, Lottchen; Gerhard und Robert bezogen das Gymnasium in B. und nur selten kam eine Nachricht von ihm; Joachim war im Kadettencorps, und verbrachten sie die Ferien hier, dann brach der alte Haß zwischen den beiden aufs neue hervor.

»In jener Zeit habe ich mir den Namen ›Katzentante‹ erworben, du wolltest es ja so gern wissen, Lena. Ich war gerade an einem Tage, dem Todestage meines Mannes, so recht zum Bewußtsein meines unglücklichen Lebens gekommen; in meiner Verzweiflung hatte ich mich hinausgeflüchtet ins Freie und saß am Waldesrand; ich fragte unzähligemal, warum ließ der Herr mir all das Leid geschehen? In meiner damaligen Gemütsstimmung quälten mich böse Zweifel an einen guten und gerechten Gott, ja überhaupt an der Existenz eines Gottes, ich war recht schlecht geworden in meinem Jammer. Ich fürchtete mich vor mir selbst und hatte doch nicht die Macht, anders zu denken und besser; mein Geist war wie gelähmt, nur meinen Schmerz fühlte ich noch, meine Verlassenheit, und da – es klingt lächerlich heute, und noch danke ich dem lieben Gott so innig –, wie ich so dasaß und in die grünen Zweige schaute mit brennenden Augen und an den Mann dachte, den nun der Tod, an das heißgeliebte Kind, das das Leben mir genommen, und wie ich so mutterseelenallein sei auf der weiten, weiten Welt, da griff etwas an meinem Kleid und krallte sich empor, und als ich erschrocken niedersehe, da sitzt mir ein kleines, weißes, hungermageres Kätzchen auf dem Schoß, sieht mich mit seinen klugen Augen an und sagt kläglich: Miau! Und dann fängt es an zu spielen mit den Fransen meines Tuches, so anmutig und zierlich, daß ich einen Augenblick im Zuschauen alles vergaß, was mich bedrückte. Ich nahm es in meine Hände und streichelte es, und eine schier kindische Freude, wie ich sie gar nicht beschreiben kann, kam über mich bei dem Spiele mit dem Tierchen. Ich erdrückte es beinahe in meiner Zärtlichkeit, und daß es sich nicht vor mir fürchtete, nicht davonlief, rührte mich tief. Freilich, als ich mich zu Hause mit ihm satt gespielt hatte und es nun im Fenster saß und sich zierlich putzte, da trieb mir das Bewußtsein, daß ein unvernünftiges Tier mein ganzes Glück und Freude ausmache, und wie arm ich doch sei, die bitteren Thränen in die Augen; und doch, mir war das zutrauliche Tierchen so lieb wie eine Freundin. – Seht, das alles sind die Nachkommen von ihr, nicht wahr, Minka? O, gelt, wir beide verstehen uns?« sprach sie schmeichelnd zu der Katze, die längst wieder auf der Lehne ihres Stuhles saß.

»Es hat alles ein Ende in dieser Welt, Kinder,« fuhr sie dann fort, als Charlotte still weinte und ich mir vornahm, die Katzen noch viel besser zu behandeln als bisher, »auch jene schreckliche Zeit; ich habe meinen Jungen wiedergefunden, mit Leib und Seele ist er wieder mein Kind geworden; Gott sei gelobt, der mein heißes Flehen erhört hat. Das liegt alles hinter uns, weit, weit; und heute abend tausche ich mit keinem König in der Welt!«

»Nicht wahr, Tantchen?« fragte Charlotte leise. »Damals, als Robert so schwer am Typhus erkrankte, da –«

»Da hat er seine Mutter erkennen gelernt, Lottchen, ja; aber ich mußte doch erst kämpfen um ihn, denn deine Mutter wollte ihn pflegen; man hatte ihn bereits in ein Zimmer drüben gebracht, und wenn nicht der alte, verständige Arzt ein Machtwort sprach – – aber lassen wir das; der Tag, als er zuerst wieder Mutter, liebe Mutter! sagte, und heute, das sind gesegnete Tage!«

Charlottes leises Weinen war verstummt. »Mama wollte ihn pflegen?« fragte sie ungläubig. »O, liebe Tante, da irrst du dich, sie hat solche Angst vor ansteckenden Krankheiten.«

»Ich irre mich nicht, Kind,« erwiderte Tante Edith bestimmt und fest.

»Aber ich verstehe nicht,« fragte Charlotte fast aufgeregt, »du sagtest doch vorhin, sie habe ihn damals nicht geschlagen, und jetzt, sie habe ihn pflegen wollen, und ich weiß doch bestimmt, daß Mama Robert nicht – –«

»Siehst du? Da hast du nun das ganze Köpfchen voller Zweifel,« unterbrach die Tante. »Du weißt, daß deine Mama Robert kalt, fast schroff behandelt, daß sie kaum Notiz von ihm nimmt, ja, noch mehr, daß sie es gar nicht gern hat, wenn er hier ist. Und nun erzähle ich dir, daß sie ihn pflegen wollte? Das paßt nicht zusammen, gelt? Laß nur gut sein, Charlotte, und denke nicht darüber nach, es würde nichts nützen, denn es ist eins der Rätsel, wie sie oftmals im Frauenherzen wohnen – wer ergründet sie?«

Charlotte schwieg; es war still geworden in dem Zimmer; einförmig tickte die Uhr und in der Asche des Kamins erglühten die letzten Kohlen; gleich feurigen Augen funkelten sie und warfen eine leise Helle in ihren nächsten Umkreis, und in diesem ungewissen Schimmer sah ich, wie sich Charlottes Kopf plötzlich von Tantes Schoß emporrichtete und sich nach dem Fenster wandte, als lausche sie; dann beugte sie sich zu Tante Edith herüber, ich hörte einen Kuß und ein zärtliches »gute Nacht«, und im nächsten Moment fiel die Zimmerthür hinter ihr ins Schloß.

»Charlotte! Charlotte!« rief die Tante ihr nach, aber sie hörte nicht mehr. »Was hatte das wunderliche Kind nur?« fragte sie leise. Wieder wurde es still, und ich sah im Geiste noch einmal alle jene Bilder an mir vorüberziehen, welche die Tante soeben mit wenigen Strichen gezeichnet hatte. Arme, arme Tante! dachte ich, während meine Hände ganz gedankenlos Reisig auf die verglühenden Kohlen legten; dann schmiegte ich mich an Tantes Kniee. Ihre Finger glitten leise durch mein Haar und strichen über mein Gesicht, ich hielt sie fest und wollte sie küssen – da flog die Thür auf und eine kräftige Männerstimme scholl ins Zimmer: »Guten Abend, mein gutes, mein geliebtes Mütterchen!« Im Augenblick war ich auf den Füßen und an meiner Stelle kniete jemand, den ich nicht zu erkennen vermochte. »Robert! Robert! Da bist du schon?« rief sie. »Mein Junge! Mein alter, goldener, einziger!«

Scheu wollte ich mich zurückziehen, um das Wiedersehen nicht zu stören zwischen Mutter und Sohn, da loderte das dürre Reisig im Kamin hell auf und die spielenden Flammen zeigten mir einen großen bildschönen Mann mit krausen, dunklen Haaren, dessen Augen freudestrahlend auf Tantes Gesicht ruhten; er war aufgestanden und hielt sie nun in seinen Armen. Ich war mitten im Zimmer stehen geblieben und meine Blicke hingen wie gebannt an seiner stattlichen Erscheinung, denn – dort am obersten Knopf seines grünen Jägerrockes, da schwebte wie verloren an einem einzigen Fädchen eine blaßblaue Schleife, die doch ganz gewiß nicht dahin gehörte, und diese Schleife – ja, die hatte noch vor einem ganz kleinen Weilchen in Charlottes blondem Haar gesessen – war ich denn nur verzaubert?

.

Leise schlich ich mich hinweg, noch immer ganz bestürzt über das, was ich da im flackernden Kaminfeuer gesehen. Auf einmal aber war es mir, als ob jemand mir leise ins Ohr sang:

Mein Schatz, der ist ein Jäger,
Ich lieb' ihn tausendmal.

»O, Lena, du dummes Ding!« flüsterte ich halblaut, »was hast du denn bis jetzt von Liebe gewußt?« Ich preßte die Hände vor meine Augen; es war mir, als habe sich ein Vorhang, von dessen Dasein ich bis jetzt keine Ahnung gehabt, ein klein wenig gehoben und ich habe da etwas Wundervolles, Köstliches gesehen, als sei ein Rosenduft hervorgequollen, den ich wirklich zu spüren meinte. Ich weiß nicht, wie es kam, aber plötzlich stürzten mir brennende Thränen aus den Augen und ein nie gekanntes, heißes Neidgefühl stieg in mir auf. – O, du glückliche Charlotte!

Als ich im Laufe des Abends mit Tante und meinem neuen Vetter bei Tische saß und seine freundlichen Worte in mein Ohr klangen – wir hatten merkwürdig rasch Freundschaft miteinander geschlossen –, da streiften meine Augen flüchtig den obersten Knopf seines Rockes, aber die Stelle war leer. Und als Tante von Charlotte anfing zu plaudern und bedauerte, daß er nicht ein paar Minuten früher gekommen sei, weil er sie dann noch getroffen haben würde, da wurde er rot und schwieg. O, Vetter Robert, wenn du wüßtest, was ich gemerkt habe!

»Mutter,« fragte Robert plötzlich, und seine gebräunte kräftige Hand legte sich auf die kinderkleine meiner Tante, »wohnt Joachim drüben in der Villa oder hier?«

»Hier, soviel ich weiß,« erwiderte Tante Edith und sah mit einem beinahe ängstlichen Gesichtsausdruck ihren Sohn an.

»Ich wollte, er wäre drüben geblieben,« sagte dieser, und auf seiner Stirn zog sich eine tiefe Falte.

»Nicht wahr, Robert,« bat Tante flehentlich, »du wirst – –«

»Ich gehe ihm aus dem Wege, Mutter, ich habe ja gar nichts mit ihm zu thun; mich dauert nur Gerhard. Der junge Herr sitzt diesmal so gründlich in der Patsche, daß an ein Herauskommen kaum zu denken sein wird, trotzdem Ferra verzweifelte Anstrengungen macht, ihn unter die Haube zu bringen. Er ist ein ganz leichtsinniger Patron geworden, der schöne Joachim.«

»Ach, mein Gott, der arme Gerhard!« seufzte Tante Edith.

Robert zuckte die Schultern. »Nur Tante Therese hält ihm noch die Stange und Ferra, sonst wäre er wohl längst drüben. Er ist niemand mehr schuldig als Herrn Jedermann, wie der alte Gottlieb sagen würde. Aber lassen wir ihn, das sind unerquickliche Geschichten. Wann besuchst du mich denn einmal, Mutter?« setzte er fragend hinzu und sah liebevoll in die Augen der alten Dame. »Fölkerode läßt dich grüßen, und du möchtest nur kommen, das alte Haus kennt dich noch gar so gut.«


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