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Kloster Wendhusen


1.

. Nun adieu, Magdalene!« sagte mein Vormund und küßte mich etwas zaghaft scheu auf die Stirn, während es in den kleinen gutmütigen Augen feucht schimmerte. »Adieu, Magdalenchen, und wegen des Georg sei außer Sorge, ich wache über ihn; sonntags soll er mich regelmäßig besuchen, und dann werde ich darauf halten, daß er allemal ein paar Worte an dich schreibt; nun – und das Grab deiner Mutter das halten wir, die Christiane und ich, in Ordnung, mein Kind; der Georg geht oft einmal hin, gelt, mein Junge? So, das wäre wohl alles, meine Kleine – doch nein, du nimmst es mir nicht für ungut, daß ich nicht mit auf den Bahnhof gehe, ich habe einen Termin um neun Uhr; die Christiane wird dir alles besorgen, Billet und Gepäck, und in Wolldorf mußt du umsteigen; frag lieber einmal zu viel als zu wenig, es ist besser; und in Tennstedt wird schon jemand sein, der dich abholt, vielleicht Tante oder Cousine Fernande; und gewöhne dich bald an die fremden Verhältnisse auf Wendhusen, und schreibe bald, recht bald!«

Noch einmal reichte er mir die Hand und strich mir über die Wangen. »Nicht weinen. Kleine, nicht weinen!« setzte er hinzu und ging rasch aus dem Zimmer.

»Adieu, Onkel!« hatte ich leise gesprochen, und trotz seiner Ermahnung, nicht zu weinen, drängten sich mir doch wieder die heißen Thränen in die Augen.

Drüben am Fenster lehnte ein schlanker, achtjähriger Junge; er hatte die Arme übereinander geschlagen und das hübsche Gesicht schaute finster und trotzig unter einer Fülle dunkler Locken hervor.

»Nicht wahr, Georg,« bat ich, »du wirst auch ganz gewiß oft an mich schreiben?«

Er nickte und wandte sich um.

»Und am Geburtstage unserer Mama schicke ich dir einen Kranz, den wirst du auf das Grab tragen, Georg, ich – ich kann's ja nun nicht mehr –« Die Thränen erstickten fast das Letzte.

»Ja!« kam es kurz, aber gepreßt aus dem Munde des Knaben.

»Und du schickst mir manchmal ein paar Blümchen von ihrem Grabe; das ist dann, als ob sie mich grüßen läßt, Georg –«

»Ach, Lena, Lena!« rief er außer sich und schlang aufschluchzend in stürmischer Zärtlichkeit seine Arme um meinen Hals. »Geh doch nicht fort! Kannst du denn nicht hier bleiben? Was willst du bei der Tante, die Mama so gar nicht leiden konnte?«

»Ich muß doch, mein Herzchen, ich muß!« flüsterte ich und preßte meinen Mund auf seinen Lockenkopf. »Was soll ich denn hier? Der Onkel sagt, ich müsse sehr dankbar sein, daß Tante mich aufnehmen will, sonst hätte ich unter fremde Leute –«

»Die Tante ist aber so stolz, sagt Christiane,« unterbrach er mich. »Wenn sie nun häßlich zu dir wäre, Lena?« Er bog sich zurück und die großen, dunklen Augen sahen mich mit leidenschaftlicher Angst an.

»Ach, Georg, warum sollte sie wohl?« erwiderte ich scheinbar mutig, obgleich es in meinem Herzen ganz und gar nicht so aussah.

»Ja, Lena, weil sie von Mama gar nichts wissen wollte,« erklärte er. »Und als der Brief von der Tante kam an den Onkel Vormund, worin sie schrieb, daß du zu ihr kommen solltest, da sagte Christiane so vor sich hin: ›Na, ich wußte es ja, und wenn sie auch das arme Ding nicht aus Liebe aufnimmt, so thut sie es doch, damit es nicht heißt, ein Fräulein von Demphoff hat eine Stellung annehmen müssen!‹ Siehst du, Lena – ach, wenn sie dich nur deshalb kommen ließe!«

Ich schwieg und drückte den kleinen Burschen fester an mich. Du lieber Gott, die Worte, die er sprach, drangen mir schneidend in die Seele. Die Schwägerin meiner Mutter – sie führte denselben Namen wie ich, und sie hatte sich so gut wie gar nicht mit Mama gestanden; sie war stets so unfreundlich zu uns gewesen, hatte uns, die armen Verwandten, nie beachtet – ach ja, es war möglich, sogar wahrscheinlich, daß sie aus diesem Grunde die arme Nichte aufnahm.

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Und dahin sollte ich, noch heute! Großer Gott, es war schon Dreiviertel auf neun Uhr, und um halb zehn ging der Zug. Trostlos blickte ich zu Georg herab, der mich noch immer fest umklammert hielt; den kleinen, lieben Jungen sollte ich nun auch entbehren, den Einzigen, der mir auf der Welt noch gehörte, seitdem vor vier Wochen unsere Mutter gestorben war nach jahrelangem Kränklichsein, und der mich lieb hatte, wirklich lieb! Ich sank zur Erde herunter und lehnte meinen Kopf gegen den seinen. »Ach, Mama, Mama, warum bist du von uns gegangen!« kam es in meiner Angst von den Lippen; ach, wenn sie noch lebte, dann hätt' ich nicht fortgehen müssen, dann hätte Georg nicht nötig, unter Fremden aufzuwachsen! Wie nun, wenn er krank wurde, wenn er seinen Bräunehusten bekam, und es stand niemand am Bette, ihm heiße Milch zu reichen, niemand, der ihn streichelte und pflegte?

Eine namenlose Angst erfaßte mich, ich meinte bestimmt, ich könne nicht fort, ich müsse bei ihm bleiben und wenn ich im ärmsten Mansardenstübchen wohnen und für Geld nähen sollte.

»Christiane, ich kann nicht fort, ich reise nicht!« rief ich der alten Frau entgegen, die jetzt ins Zimmer trat und mir eine Tasse Bouillon zur Reisezehrung brachte. »Ich bitte dich, laß mich hier bleiben, bei dir, wenn's nicht anders geht, nur laß mich mit Georg zusammen!«

»Ich dachte mir's schon,« nickte diese ruhig, und die weiße Haube nickte mit auf dem Kopfe, »just wie die selige Frau Mutter, die ist deswegen auch nie aus dem Hause gekommen; aber diesmal kann's nichts helfen, Sie müssen fort, Fräulein Lenachen, Sie können nicht hier bleiben; ängstigen Sie sich nicht um den Jungen, er ist bei guten Leuten in Pension, die Frau Doktor hegt und pflegt ihn, das sollen Sie sehen; und ich guck' auch nach ihm, das wissen Sie, da müßte es ja nicht meiner seligen Frau ihr Jungchen sein. Aber das ärgert mich doch von ihm,« fuhr sie fort, einen ganz andern Ton annehmend, »daß er jetzt durch seine Heulerei, die sich ganz und gar nicht für einen Junker paßt, Ihnen den Abschied schwer macht. Pfui, Georg, schämen Sie sich,« fügte sie hinzu, setzte die Tasse auf den Tisch und sah scheinbar böse, den einen Arm in die Seite gestemmt, den Knaben an, der mich bei den letzten Worten rasch losgelassen hatte und, den Kopf zurückwerfend, hastig die Thränen aus den Augen wischte.

»Ich weine ja gar nicht,« versicherte er.

»Na, ich sollte auch meinen! Courage müssen Jungens haben, geht auch vorbei so 'ne Abschiedsstunde,« erklärte die Alte. »Mein Mann, der Bursche war bei Ihrem seligen Vater, der sagte immer: so einen schneidigen, forschen Herrn hätt's auf der Welt nicht mehr gegeben; es sollte mich doch wundern, wenn sein Sohn anders wäre?«

»Nun kommen Sie aber, Lenachen,« ermahnte sie freundlich, »und trinken Sie, denn wir müssen fort, es ist die höchste Zeit, und Sie, Georg, gehen Sie in die Klasse; die Stunde, die Sie sich freigebeten haben, ist gleich vorüber, sagen Sie rasch adieu, rasch!«

»Adieu, Schwester Lena,« flüsterte er an meinem Ohre, und wieder schlangen sich seine Arme so fest und stürmisch zärtlich um meinen Nacken; »ich schreibe bald und schicke dir Blumen, und nicht wahr, Lena, wenn dein Geburtstag ist, dann wirst du siebzehn Jahre?«

»Ja, Georg, leb wohl, leb wohl, mein lieber, guter Georg!« flüsterte ich; mein Widerstand brach in dem Weh des Abschieds; »werde nicht krank, sei hübsch vorsichtig beim Baden und Turnen, du weißt, Mama hat sich immer so geängstigt, und gehe oft zum Onkel Vormund und sei fleißig in der Schule; die Zensur schickst du mir immer, gelt? Und wenn es Tante erlaubt, dann kannst du vielleicht in den Herbstferien kommen – –«

»Adieu, Lena, liebe Lena, ich will alles thun, nur weine nicht so viel, ich weine auch nicht, ganz gewiß nicht.«

Er stürmte hastig aus dem Zimmer mit abgewandtem Gesichte; – ich lief ans Fenster und sah dem schlanken Jungen nach; er steckte eben sein Taschentuch wieder ein, als er aus dem Hause trat, dann ging er, den Kopf stolz zurückgeworfen, ohne sich umzusehen, davon. Was hätte ich doch gegeben, hätte er mir noch ein einziges Mal sein hübsches Gesicht zugewandt? Bange schloß ich das Fenster. – »Nun vorwärts! rasch!« ermahnte Christiane, indem sie einen Blick auf die Uhr warf, die über dem Schreibtische meines Vormundes hing, in dessen Wohnung wir uns befanden, da unsere kleine Häuslichkeit sich total aufgelöst hatte. »Es ist ein weiter Weg bis nach dem Bahnhofe, die Droschke muß gleich kommen. – Und, Fräulein Lenachen, nun will ich Ihnen noch etwas sagen: Ihre Frau Tante, die kenne ich schon von früher, von dazumal, als ich noch bei Ihren Eltern diente; sie hatten eben erst geheiratet, da war ich einmal mit nach Wendhusen; es ist vornehm da, Fräulein Lenachen; lieber Gott, Sie werden sich wundern – das Schloß, die Zimmer und Säle, und der Park, so etwas haben Sie noch nicht gesehen. Ja, was ich sagen wollte, Ihre Frau Tante, die Frau von Demphoff, ist eine merkwürdige Dame, kalt wie Eis; denken Sie also nicht, daß sie Ihnen so entgegenkommen soll, wie Ihre selige Frau Mama es that, wenn Sie von einem Spaziergange nach Hause kamen; daß sie sich freuen. Sie herzen und küssen wird! Erstens ist sie Ihre Mutter nicht, und zweitens hat sie für ihre eigenen Kinder keine Küsse übrig gehabt. Dazumal waren das kleine Dingerchen, der Aelteste war freilich schon elf Jahre, na, und die Mädchen so sieben und fünf Jahre, ich hab' aber nicht gesehen, daß die Mutter sie jemals geliebkost hätte; ach, du meine Güte, wie anders war doch Ihre Mutter, Fräulein Lena! Die ging vor Angst kaum aus der Kinderstube. Lieber Gott, sie sah zu niedlich aus, wenn sie so an Ihrer Wiege saß, selbst noch wie ein Kind, grad' so fein und klein und schmächtig wie Sie, und just so dunkle Locken und Augen.

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»Aber trinken Sie, Lenachen, trinken Sie, ich wollt' Ihnen das nur sagen, damit Sie sich nicht wundern, wenn das kein Freuen und Jubeln wird bei Ihrer Ankunft, und sich keiner sonderlich – na, was schwatze ich da, es wird sich ja finden, Kindchen, der Kopf wird nicht gleich abgebissen und man gewöhnt sich halt an alles. Es ist so immer noch besser, als müßten Sie jetzt unter fremde Leute und Gouvernante spielen.

»Na, und Lenachen, Sie nehmen mir es wohl nicht übel, wenn ich Ihnen so ein paar gute Lehren mitgebe auf den Weg,« begann sie nach einer Weile abermals, und das freundliche, kluge Gesicht wurde dunkelrot unter dem schneeweißen Mützchen. »Sehen Sie, Fräulein Lena, ich hab' gute und schlechte Tage mit Ihrer Frau Mutter durchgemacht, und, Gott sei's geklagt, es waren mehr böse als gute! Nun, der Herr hat sie geschickt, er weiß, wozu es so am besten war. Ich hab' aus Ihrem Hause fortgeheiratet und bin, als der Herr Vater starb und die gnädige Frau sich kein Mädchen mehr halten konnte, Aufwärterin bei Ihnen gewesen, bis jetzt, und hab' es immer gut gemeint, und hab' gethan, was ich gekonnt – die selige Frau weiß das auch; es waren manchmal wunderliche Zeiten, die wir zusammen durchgemacht haben.

»Ach, du mein Heiland!« unterbrach sie sich. »Rasch, Fräulein Lena, den Hut und den Umhang! Die Droschke ist da, wir wollen doch nicht zu spät kommen; nur immer fix – hier ist die Tasche mit Butterbrot und Wein und Wasser – adieu sagen brauchen Sie wohl keinem mehr? Nein – dem Herrn Onkel seine Haushälterin ist auf den Markt gegangen – na, ich schließe die Stube herum, haben Sie auch Ihr Portemonnaie? Gott, was das bei einem Witmann unordentlich aussieht! Fallen Sie auch nicht auf der Treppe, Fräuleinchen, es ist so dunkel dort; so, nun steigen Sie nur ein – Kutscher, nach dem Zentralbahnhofe, so, fahren Sie nur zu, aber rasch!«

Ich saß wie im schweren Traume in dem Wagen, die wohlbekannten Straßen flogen an mir vorüber und auf den Trottoirs drängten sich die Menschen wie sonst; dort war das große Weißwarengeschäft, für welches meine arme, fleißige Mama so manchen Stich gethan, dort die Kirche, in der ich zu Ostern konfirmiert worden, und jetzt kam die Straße, in der wir gewohnt – ich bog den Kopf aus dem Wagen und erhaschte im Fluge noch einen Blick; die drei Fenster im dritten Stocke sahen so unheimlich leer zu mir herunter; ach, wie oft hatte da ein liebes, freundliches Gesicht herausgeschaut und mir zugenickt, wenn ich aus der Schule kam! Nun barg schon seit Wochen der schwarze unheimliche Sarg die lieben Züge und die Erde lag so erdrückend schwer auf ihm –. Und weiter ging es, die Droschke rasselte sinnverwirrend auf dem Pflaster, und Christiane hielt meine Hand und sprach zu mir, was? ich weiß es nicht mehr.

Und dann das Jagen auf dem Bahnhofe, Gepäck besorgen, Billet kaufen, und da läutet es schon zum Einsteigen.

»Schaffner, Schaffner, Damencoupé!« rief Christiane. »Sehen Sie, es ist ganz leer, Kind – nun verlieren Sie nicht das Billet, und, Fräulein Lenachen, den Georg, den heg' und pfleg' ich, als wär's mein Augapfel, nur den Kopf immer oben, Lenachen, und nicht gleich durch alle Wände wollen, immer hübsch ruhig – Sie haben ja ein kluges Köpfchen, grad' wie die Frau Mama. Und Gott schütze Sie, Lenachen, kommen Sie bald einmal wieder und vergessen Sie mich nicht und meinen Alten – ich denke schon immerfort an Sie – und mag es Ihnen gut gehen. Jesus Christus! Weinen Sie doch nicht, weinen Sie doch nicht,« setzte sie hinzu und hielt meine Hand wie in einem Schraubstocke, und dabei rollten ihr die großen Tropfen über das Gesicht, und die Lippen zitterten und bebten in verhaltener Rührung.

Und noch ein Händedruck, ein letztes Adieu, ein letzter Gruß an Georg, dann schrillte ein greller Pfiff von der hohen Bahnhofshalle zurück und schnaubend setzte sich der Zug in Bewegung. Ich bog mich aus dem Fenster und starrte hinüber zu der großen Gestalt, die regungslos auf dem Perron stand und, die Hand über die Augen haltend, dem Zuge nachschaute, und dann konnte ich sie nicht mehr sehen und setzte mich in das Polster zurück mit einem grenzenlos bangen, unheimlichen Gefühle. Es kam mir vor, als flöge ich wie ein losgelöstes Federchen im wirbelnden Winde umher, ohne Schutz, ohne Anhalt, allein, allein – ohne Heimat, ohne Vaterhaus.

Es war die erste Reise, die ich unternahm; bis dahin hatte ich noch nie die große Stadt verlassen, in der ich geboren und aufgewachsen.

Ich heftete meine Augen auf die Gegend, die wir schwindelnd schnell durchflogen; die Türme der Stadt verschwammen in einem Dunstmeere, das sich darüber breitete, und dann sauste der Zug donnernd über die große Eisenbahnbrücke, er durchschnitt grüne Wiesen und hier und da tauchte ein weißes Segel auf in weiter Ferne, und endlich verlor die Gegend das letzte Bekannte für mich. Da kam wieder das bange, bange Gefühl, die aufschreiende Sehnsucht nach Georg; ich drückte meinen Kopf in die Kissen des Wagens und weinte. Dann wurde ich ruhiger, etwas wie Mattigkeit überkam mich, und resigniert setzte ich mich zurecht und dachte. Die Kindheit stieg vor mir auf; ich hatte sie wohl eigentlich kaum überschritten und doch kam ich mir so alt vor seit den letzten Wochen; ich erinnerte mich an die schöne Zeit, als Papa noch lebte, wenn ich ihm entgegenlief bis vor die Thür, um mich jubelnd von ihm empornehmen zu lassen. Damals hatten wir noch nicht in der engen Mansardenwohnung gelebt – elegante, trauliche Räume tauchten vor mir auf, und die kleine, zierliche Gestalt meiner Mutter war oft in kostbare Stoffe gehüllt gewesen; meine Mutter! Aus jener Zeit schwebt sie mir wie ein Schatten, ein reizender bunter Schatten vor, ich konnte mir später nie wieder dieses elfenzarte, gaukelnde Geschöpfchen mit der leidenden, gebrochenen Frau als identisch vorstellen, deren große, dunkle Augen so vergangen in das Leben schauten, so voll unsagbaren Leides und Wehs.

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Später liegt ein Schleier über meinen Erinnerungen; es ist mir, als ob ein Etwas in unserem Hause war, das lähmend und verfinsternd wirkte. Ich erinnere mich, daß Mama so oft weinte und daß mein Vater laut und heftig zu ihr sprach und dann oft tagelang nicht nach Hause kam. Nur Christiane blieb mir deutlich erinnerlich, ich meinte, sie müsse noch heute ebenso aussehen als damals, wo sie mir Bonbons in den kleinen Mund steckte und mich mitunter fast heftig am Arme packte und mit in die Küche nahm, wenn in dem Zimmer meiner Mutter gar so laut gesprochen wurde.

Und dann kam ein Morgen, dessen ich mich, so lange ich lebe, mit Seligkeit erinnern werde. Christiane nahm mich schlaftrunken aus meinem Bettchen und trug mich in das Schlafzimmer meiner Mutter, und meine verwunderten Augen fielen auf eine Wiege neben ihrem Bette, und da lag es darin und schlief, mein herziges, liebes Brüderchen. – Wie die folgende Zeit verstrich, das weiß ich kaum noch; ich saß beständig an der Wiege, das Gesichtchen auf den kleinen Schläfer gerichtet, und vergaß Essen und Trinken über seinem Anblick. Einst trat mein Vater in das stille Kinderzimmer; er kam an die Wiege und sah zu dem Kleinen hinunter, und als ich mich an ihn schmiegen wollte, stieß er mich fast heftig zurück. Er war ein großer, stolzer Mann mit blondem Haar und Bart, ich erinnere mich seiner deutlich in diesem Augenblicke, als er sich langsam zu meiner Mutter umwandte, die eben eingetreten war und ebenfalls zur Wiege schritt. Dann entspann sich ein Gespräch zwischen ihnen, zuerst in ruhigem Tone, aber plötzlich zitterte ich vor Entsetzen, denn mein Vater riß die zierliche Gestalt meiner Mutter jäh in seine Arme und mit leidenschaftlicher Stimme rief er die Worte: »Else, meine arme Else, hättest du mich doch nie gesehen! Ich bin schuld an deinem Unglücke, an dem der Kinder –!« Sie legte wie beschwichtigend die Hand auf seinen Mund und deutete auf mich, und in demselben Augenblicke kam auch Christiane und führte mich hinaus; ich hörte nur noch das leise Schluchzen meiner Mutter.

Dann kam ein Tauffest, bei dem unsere Wohnung zum letztenmal in allem Luxus strahlte; es waren viele Gäste da, und ich ging als artiges Kind im Kreise umher und gab das Händchen. Meine Mutter sah ich an jenem Tage zum letztenmal in einem farbigen Gewande; es war ein tiefrotes Seidenkleid; sie gefiel mir gut darin und der dunkle Lockenkopf sah so wunderlieblich aus unter dem roten Fuchsienkranze.

Bald nachher zogen wir aus jener Wohnung in eine kleinere; mich betrübte es damals sehr. Es war eine stille Straße, in der wir nun wohnten, und viele Treppen mußten erstiegen werden. – Dann verreiste mein Vater; meine Mutter hielt ihn weinend umfangen in der Stunde des Abschieds, und er küßte immer wieder mich und den kleinen Bruder; Christiane mahnte endlich zum Aufbruch, und als er das Zimmer verließ, sagte er noch einmal die Worte, die er so oft an jenem Tage gesprochen: »Hoffentlich komme ich bald, euch nachzuholen!« Und abends faltete die Mutter meine Hände und ließ mich beten für den lieben Vater, der weit, weit übers Meer reiste, ach, so sehr weit.

Wieviel hundertmal habe ich das Gebet gesprochen und mir das schaukelnde Schiff vor die Seele gezaubert; ich schloß dann die Augen, um mir ein Bild zu machen von einer Wasserfläche, die am Horizonte sich mit dem Himmel eint, wo man nichts sieht als Himmel und Wasser, wie Christiane sagte – aber es schob sich immer wieder ein Stückchen Land davor.

Wir lebten sehr still; Christiane war auch nicht mehr immer bei uns, sie hatte Papas Diener geheiratet und kam nur noch stundenweise des Tages; Georg lernte laufen, und im Schlummern erzählte unsere Mutter, daß Papa geschrieben habe, im nächsten Frühjahre hole er uns, dann sollten wir auch auf einem Schiffe fahren über das weite Meer. Es kam anders. – Vater starb an einer der furchtbaren Krankheiten, denen der Eingewanderte in jenen Himmelsstrichen so oft erliegt. – Ich ahnte noch nicht, was es bedeute, ihn zu verlieren, als ich meine Mutter halb sinnlos vor Schmerz durch die engen Räume eilen sah und ihr verzweifelndes Klagen hörte; aber dann lernte ich es begreifen, denn die Not hielt Einkehr bei uns, die bitterste Not.

Meine Mutter hatte sich einem finsteren Grame hingegeben. Sie arbeitete jetzt für Geld und auch mir fügte sie die Kinderhände zur Arbeit; bleich und still saß sie an ihrem Fenster, und das einzige, was sich an ihr regte, waren die auffallend zierlichen, kleinen Hände, die unablässig den Faden durch die feine Stickerei zogen. Nur zuweilen, wenn Georg sich an sie schmiegte und sie mit den tiefen Kinderaugen ansah, dann konnte sie, in Thränen ausbrechend, die Arbeit zur Seite werfen und ihn an sich pressen. »Mein Kind, meine armen Kinder!« rief sie, und stundenlang währte es, ehe sie sich beruhigte. Mit der Zeit wurde sie gefaßter, in dem zarten Körper wohnte eine fabelhafte Willenskraft; wenn ich nachts erwachte, sah ich sie am Tische sitzen und nähen, und sobald der Morgen graute, saß sie schon wieder bei der Arbeit.

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Dann wurde ich zur Schule geschickt, und bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß ich eine Tante habe; mein Vormund hatte darauf gedrungen, daß Mutter sich wegen einer Unterstützung an die Frau meines verstorbenen Onkels wenden mußte. Es kam auch eine Antwort – ich sehe es noch, wie meine Mutter leichenblaß zurücksank, als sie den Brief las.

»Ich soll schuld sein?« sagte sie halblaut, »schuld sein an seinem Unglück?« Und dieses »Schuld sein« wiederholte sie so oft, bis endlich Christiane erschien.

»Christiane, ich soll schuld sein an unserem Unglück,« sagte sie tonlos. »Christiane, ich bin schuld, daß mein Mann tot ist!« Christiane nahm den Brief und las ihn, dann steckte sie ihn in den Ofen; sie bebte vor Zorn und sagte nur: »Weinen Sie nicht, gnädige Frau, es ist zu erbärmlich!«

An jenem Tage wurde meine Mutter schwer krank, und als sie genesen, war sie die stille, gebrochene Frau, die sie bis zu ihrem Ende blieb; sie sprach mit uns, sie lächelte auch, aber es war so ganz anders wie sonst, so beängstigend.

So wuchs ich auf unter steter Arbeit, unter Entbehrungen aller Art, und doch fröhlich wie nur je ein Kind in den beglückendsten Verhältnissen. Es war zu schön in unserer Mansardenwohnung, in den epheuumsponnenen Wänden; es war zu reizend, wenn Christiane sonntags mit uns spazieren ging und uns heimlich Brezeln von ihrem Gelde kaufte. O, diese Nachmittagsstunden, wenn ich fleißig an meinem Nähtische gewesen, und dann vom Johannisturme drüben die vierte Stunde schlug; wie bog ich mich da aus dem Fenster, um eine liebe, kleine Gestalt zu erblicken, und da kam er in vollem Laufe um die Ecke und stürmte die Treppen hinauf, unser Liebling, unser Herzensjunge. Das Schulränzel flog auf den nächsten Stuhl, die Kaffeekanne dampfte auf dem Tische und unser stilles Mütterchen sah mit aufleuchtenden Augen zu, wie er mit den festen Zähnen so tapfer in das Vesperbrot biß, das Schwester Lena so unverantwortlich mager gestrichen hatte.

Sie waren schön, die langen Winterabende in unserem Stübchen, sie waren schön, die Sommernachmittage, wenn wir spazieren gingen oder mit der Arbeit im schattigen Stadtparke saßen. – O, wie doppelt süß erschien mir dieses Glück jetzt, wo ich es verloren, und nun in die Fremde ging! Noch war ich ja wie im Traume, der schwarze Sarg, die fremden Leute, die ihn wegtrugen, die weinende Christiane, und dann die unbehagliche Häuslichkeit unseres lieben Onkels Vormund. – Ich wußte nicht, wie alles so rasch gekommen, wie die Zeit vergangen, ich erwachte erst da wieder zur Wirklichkeit, als man mir sagte, ich müsse mich von Georg trennen, die Tante wolle die Güte haben, mich in ihr Haus zu nehmen. Das war ein Schmerz, viel packender als der um den Tod der Mutter! Sie sah so friedlich aus im Tode, hatte ein so seliges Lächeln um den blassen Mund. – »Ihr ist wohl,« hatte Christiane gesagt, »ihr ist wohl!« Wir hatten ja nicht einmal Abschied genommen von ihr; sie war eines Nachts ruhig entschlummert, aus dem irdischen Schlaf unvermerkt ins Jenseits hinübergegangen, ja – ihrist wohl, aber wir – mein kleiner Bruder!

Wieder schüttelte mich der heiße Schmerz, aber ich preßte die Lippen aufeinander und schaute hinaus in die lachende Gegend; gelb schwankten die Kornfelder im Winde, hie und da lag ein Dorf im Schatten alter Eichen, und darüber lachte ein wolkenloser, blauer Himmel, als ob es keine Angst, keinen Kummer in der Welt mehr gäbe.


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