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3.

.Die Dämmerung war herabgesunken, als ich meiner Führerin durch den teppichbelegten Korridor folgte und die Marmortreppe hinab schritt; die kühle Abendluft draußen legte sich beruhigend auf meine heiße Stirn. Die Parkwege, in welche wir einbogen, lagen in tiefem Dunkel, ich wandte noch einmal den Kopf und sah zurück zu dem Feenhause, das ich eben verlassen; seine weißen Mauern hoben sich leuchtend von dem dunklen Hintergrunde der Bäume, deren Konturen sich scharf an dem abendlichen Himmel abzeichneten; noch rauschte leise der niederfallende Wasserstrahl und machte die breiten, fächerförmigen Blätter der umstehenden Pflanzengruppen unaufhörlich schwanken und nicken, und aus den üppigen Bosketts tauchten die Marmorfiguren in blendender Weiße auf. Wie war es prächtig hier! Und doch hätt' ich fortlaufen mögen, fort – so weit die müden Füße mich tragen konnten, zu Georg, zu Christiane, hin zu jemand, der mich ansah mit Augen voll Zärtlichkeit, der mich schmeichelnd »Lena, liebste Lena« nannte – was sollte ich hier zwischen den Menschen, die ich eben gesehen; sie würden mich nie lieben, ich war ihnen eine Last, die sie sich so leicht als möglich zu machen trachteten. Himmelweit war die Entfernung zwischen uns: Mißachtung, Neckerei und kalte, geschäftsmäßige Freundlichkeit, das war es, was dem fremden Kinde entgegengebracht wurde, und jetzt –? Wo führten sie mich nur hin? Wer war diese Tante Edith und was wollte die schöne junge Frau mit der Anspielung auf die Katzen? Mechanisch folgte ich dem Mädchen durch die verschlungenen Wege.

»Es ist nicht weit bis zum Kloster,« begann sie freundlich, »das Singen kann man schon hören.«

Ich horchte auf, sollte ich denn in ein wirkliches Kloster? Aber nein, das waren keine geistlichen Melodieen; ein zweistimmig vorgetragenes, ganz bekanntes Volkslied drang in mein Ohr: »Steh' ich in finst'rer Mitternacht –«

»Wo wird gesungen?« fragte ich.

»Auf dem Wirtschaftshofe unter der Linde,« war die Antwort. »Die Mägde sind's und die Knechte, es ist Feierabend – sehen Sie, dort ist das Kloster, und hinter den erleuchteten Fenstern oben wohnt die Frau Tante.«

Da lag es vor mir in der düstern Erleuchtung des sinkenden Abends, unheimlich, groß und finster, das langgestreckte Gebäude, das mir nun eine Heimat sein sollte. Noch trennte mich ein eisernes Gitter von dem Vorgarten, den die beiden mächtigen, unter rechtem Winkel verbundenen Flügel des Klosters begrenzten; die Gitterthüren waren zurückgeschlagen, ich sah, wie das Mädchen den Fahrweg überschritt, und hörte, wie ihr Fuß jenseits des Gitters auf Kies trat. Meine Augen hafteten noch immer auf dem finstern Gebäude; die unteren Fensterreihen waren mit starken Eisenstäben versehen wie ein Gefängnis, und der Flügel zu meiner Linken, an den eine hohe Mauer grenzte, zeigte geschlossene Läden; unglaublich unheimlich war der Eindruck, den das Ganze mir machte.

Das Mädchen kam suchend zurück; zögernd schritt ich über den Fahrweg und trat durch das Thor; wir umschritten einen mit eisernen Ketten eingehegten Rasenplatz, in dessen Mitte eine von üppigem Epheu umwucherte Sandsteinurne stand. Eine große, eisenbeschlagene Thür, deren einer Flügel geöffnet war, führte direkt zu einer breiten, mit plumpem Holzgeländer versehenen Treppe; kühle, feuchte Luft umfing mich, fröstelnd schauerte ich zusammen und wich zurück vor dem spukhaften Dunkel, das unter der gewölbten Halle lag; unwillkürlich dachte ich an gespenstische Nonnengestalten, die unhörbar dem Fremdling entgegentreten würden, zürnend über das Eindringen in die geweihten Räume – da hörte ich trippelnde Schrittchen hinter mir und Kinderstimmen, und kleine Köpfe lugten um die Hausthür: »Katzentante! Katzentante!« rief es durcheinander, und ein fast schreiendes Stimmchen sang:

»Dacht', es fiel 'ne Katz von der Bank,
Ein Kind nur war es, Gott sei Dank!«

.

Gellend klang es zurück von den hohen Steinwänden. Ich blieb stehen, das Mädchen aber lief, flink wie ein Wiesel, die Stufen wieder hinunter und erfaßte glücklich einen der kleinen Schreier an der Jacke.

»Schämst du dich nicht, du unartiges Kind!« rief sie, den kleinen Burschen hin und her schüttelnd. »Du willst die gute Dame verspotten, die dich alle Jahre zu Weihnachten beschenkt, die dir Schulgeld und Kleidung gibt, du undankbarer Bengel!« Der Junge brach in jämmerliches Weinen aus.

»Jette, Jette, laß ihn doch!« rief da eine sanfte Stimme, und mich umwendend, erblickte ich dicht vor mir die Gestalt einer schwarzgekleideten Dame; ihr weißes Häubchen und das blasse Gesicht leuchteten hell in der Dämmerung zu mir herüber und zwei schmale Hände streckten sich mir entgegen.

»Willkommen, mein Kind!« sagte sie leise. Ich fühlte einen Kuß auf meiner Stirn und einen feuchten Tropfen, und dann noch einen und noch einen, und mein Kopf lag an ihrer Brust. »Mein armes, kleines Mädchen,« flüsterte sie, »Gott segne diese Stunde, in der er dich mir zuführte! – Aber nun komm, komm, damit ich dich bei Licht ansehe,« unterbrach sie den feierlichen Ton, in dem sie gesprochen. – »Jette, laß den Jungen laufen, er weiß nicht, was er thut, er macht es den andern nur nach; besorge den Thee, mein kleiner Gast wird hungrig und durstig sein.«

An ihrer Seite schritt ich einen langen Korridor hinunter, es war fast finster hier, und dann trat ich in ein großes, erleuchtetes Zimmer mit altmodischen Möbeln und Tapeten; eine Lampe brannte auf dem schneeweiß gedeckten Tische, und nun schauten mich ein Paar milde Frauenaugen an, so lieb, so gütig, daß mir zu Mute ward, als sei ich aus Eis und Schnee plötzlich in den freundlichsten Sonnenschein getreten. Unwillkürlich schlang ich meine Arme um den Hals der mir gänzlich Unbekannten und weinte mir all die Bangigkeit der letzten Stunden hinweg.

Sie ließ mich eine Weile ruhig gewähren, dann richtete sie meinen Kopf empor.

»Nun ist's genug, Kind,« sagte sie ruhig, »komm, laß dich einmal beschauen – du bist ja gerade so ein Liliput wie deine Mutter war, kaum drei Käse hoch! Schäme dich, Kind, und spute dich, sonst sieht dich niemand für voll an.«

Ich lächelte. »Ach ja, Cousine Fernande hat es eben auch gesagt, ich sei ein Kind,« und es war fast, als wollte mein alter Uebermut wieder hoch kommen, der sich seit langen Wochen vor den finsteren Sorgen geflüchtet hatte. Denn als ich jetzt am Tische saß und mit bestem Appetit die belegten Butterbrötchen verzehrte, die mir so zierlich vorgelegt wurden, und frische Milch trank, da jubelte ich laut auf, als mit leisem Schnurren plötzlich eine schneeweiße Katze mir auf der Schulter saß und ihr weiches Fell liebkosend an mein Gesicht schmiegte.

»Sieh einmal, sieh einmal!« rief fröhlich die alte Dame, »die Minka will Freundschaft mit dir machen, sie ist sonst gar scheu – wie mich das freut, wie mich das freut!« wiederholte sie noch einmal und streichelte das glatte Fell ihres Lieblings.

Mir fiel plötzlich ein, daß Frau von Riedingen von einem Dutzend Katzen gesprochen hatte, und dann der Vers:

Dacht', es fiel 'ne Katz' von der Bank,
Ein Kind nur war es, Gott sei Dank!

Unwillkürlich sah ich mich im Zimmer um, ob etwa noch mehr – –? Richtig, da aus der dunklen Ecke des Ofens leuchteten zwei grünliche Katzenaugen, im Sorgenstuhl am Fenster streckte sich behaglich eine schwarz und weiß gefleckte Mieze, und dort hinten in dem Winkel saßen zusammengekauert zwei junge, gefleckte Kätzchen. Erschreckt legte ich Messer und Gabel hin und heftete meine Blicke fragend auf das alte, feine Gesicht mir gegenüber.

»Magst du die Katzen nicht leiden, Kind?« fragte sie und sah beinahe betrübt aus.

»O ja, aber so –«

»So viel, meinst du?« vollendete sie. »Laß, Kind, du wirst dich daran gewöhnen, um so mehr, wenn ich dir sage, daß die Katzen jahrelang meine einzigen Gesellschafter waren – und sie haben mich nie betrübt oder geärgert,« schloß sie und blickte wehmütig lächelnd zu Minka hinüber, die es sich recht bequem gemacht hatte auf meiner Schulter.

»O nein, ich mag Katzen sehr gern,« beeilte ich mich zu versichern, obgleich mir ein wenig bange war.

»Wirklich? Das freut mich!« rief sie. »Du sollst einmal sehen, sie sind klug wie die Menschen und mitunter auch –« Sie brach ab und sah mich freundlich an. »Nun, Kindchen, komm zu mir aufs Sofa,« bat sie, »und wenn du noch nicht müde bist, so erzähle mir von deiner Mutter. Hast du nicht auch ein Brüderchen?«

»O ja!« erwiderte ich, und beinahe hätte ich vor Sehnsucht wieder geweint. Aber die alte Dame neben mir zog meinen Kopf an sich und konnte so süß trösten und sprach von der fernen Zukunft und daß in meinen Jahren noch aller Kummer nur eine dunkle Wolke sei, die vorübergleite, um desto strahlenderem Sonnenschein Platz zu machen. Sie sprach so tröstend und mild, daß ich ruhiger wurde als seit vielen, vielen Wochen.

»Wer bist du eigentlich, Tante,« erkundigte ich mich schon halb im Schlafe, als sie mich später mit mütterlicher, etwas umständlicher Sorgfalt in mein Zimmer begleitet hatte, das dicht neben ihrem Schlafzimmer lag, und nun mit leiser Hand über die verblichene grünseidene Steppdecke des riesengroßen Himmelbettes strich, in welchem sich meine kleine Person beinahe verlor. Ich war sehr müde und sah nur noch mit halbgeöffneten Augen, wie die schlanke Gestalt der alten Dame lautlos durch das nur schwach erleuchtete Zimmer glitt.

»Du weißt es ja,« flüsterte sie leise lachend, »Katzentante! rufen mich die Kinder, du sollst mich aber Tante Edith nennen – willst du? In der Villa drüben sagen sie nur: ›Tante Edith‹ zu mir, ich heiße Edith – –« sie nannte einen Namen, den ich nicht deutlich verstand, »und bin eine rechte – –, doch davon später, das verstehst du nicht; und nun schlaf, Lena, und träume etwas Schönes,« flüsterte sie und drückte einen Kuß auf meine Stirn; »hat denn deine Mutter nie von mir gesprochen?« fragte sie noch.

Ich schüttelte schlaftrunken den Kopf, die Augen fielen mir zu vor Ermüdung. »Wie sollte sie auch!« sagte leise Tante Edith vor sich hin, »damals war sie jung –;« dann hörte ich nicht mehr recht, was sie sagte, es kam der Schlaf.

Und er legte sich betäubend auf meine Stirn, bis ich plötzlich mit dem lauten Ruf: »Georg!« wieder aufschreckte; ich hatte ihn so deutlich vor mir gesehen, er streckte mir die Arme entgegen und sah so krank und elend aus. – »Schlaf, Lena, sei nicht bange um Georg,« flüsterte da wieder die sanfte Stimme der Tante Edith. »Glaubst du denn nicht mehr an den Engel, den ein jedes Kind hat? Sieh, daran denke, und du wirst ruhiger werden.«

.

»Gewiß, Tante,« sagte ich erleichtert und schon wieder halb im Schlafe, der jetzt süß und fest auf den müden Augen ruhte. –

Als ich am andern Morgen erwachte, konnte ich mich im ersten Augenblick nicht besinnen, wo ich eigentlich sei? Ueber mir wölbte sich ein Gardinenhimmel von schwerem, grünseidenem Stoff, und hölzerne vergoldete Fransen hingen plump daran, die verblichenen, hie und da fast gelb gewordenen Vorhänge meines Bettes waren zurückgeschlagen und mein schlaftrunkener Blick fiel in ein hohes Gemach, welches die voll hereindringenden Sonnenstrahlen mit blendendem Lichte erfüllten. Ein wahres Ungetüm von einem Kamin mit schwarzer Marmorbekleidung befand sich meinem Bette gegenüber, ein hoher Spiegel zierte die Wand über demselben; dieser mußte wohl sehr alt sein, denn seine ungeheure Fläche war aus drei Stücken zusammengefügt, und den Rahmen bildete eine schmale, aber reich geschnitzte, vergoldete Holzleiste. Die Möbel gehörten ohne Zweifel verschiedenen Zeitaltern an, denn neben einer wundervoll eingelegten Kommode mit geschweiften Kästen und blitzenden Beschlägen stand ein Tischchen auf vergoldeten, zerbrechlichen Füßen, die so unmöglich verschnörkelt und verbogen waren, daß man auf den ersten Blick sah, es müsse der leichtlebigen Rokokozeit seine Entstehung verdanken. Die Tapete zeigte in blaugrauen Schattierungen eine regelmäßig wiederkehrende weibliche Figur, die auf einem Delphine, dessen Schweif in einer schön gebogenen Arabeske endigte, kühn die plump angedeuteten Wogen durchschwamm; eine breite Blumenbordüre schloß unten am Boden und an der Decke ab, und letztere trugen riesige Balken. Augenscheinlich war dieses Haus in einer Zeit gefügt worden, als noch solid und für die Dauer gebaut wurde, denn diese gewaltigen Mauern, in denen sich tiefe Fensternischen befanden, schienen einer Ewigkeit trotzen zu wollen.

Ein behagliches Gefühl überkam mich in dem sonnendurchleuchteten Zimmer; ich schmiegte meinen Kopf in die schneeweißen Kissen und schloß blinzelnd die Augen, bis mich eine klangreiche Stimme aus diesem Zustand zwischen Träumen und Wachen erweckte. Die vorhin noch geschlossene Flügelthür nach dem Nebenzimmer stand jetzt weit geöffnet und ich erhaschte den Anblick einer schlanken, weißen Gestalt und zweier blonder Zöpfe, die ihr lang über den Rücken herabfielen.

»Sie schläft noch, Tante,« sagte dieselbe frische Stimme, »ich war dicht an ihrem Bette; sie liegt mit offenem Munde und die schwarzen Haare hängen über das braune Gesichtchen; was für ein wunderbares kleines Menschenkind, wenn man solch große blonde Riesen zu sehen gewohnt ist – komm, Minka, mein Herzchen.«

Die weiße Gestalt bückte sich und hob die Katze empor, dann saß sie plötzlich auf der Fensterbank, der Strohhut flog auf den nächsten Stuhl, und ich erkannte unter den blütenweißen Mullvorhängen das rosige Gesicht meiner Cousine Charlotte, die, augenscheinlich in behaglichster Stimmung, der Tante einen Morgenbesuch machte. Sie baumelte mit den Füßchen, die in kleinen durchbrochenen Schuhen steckten, drückte und streichelte Minka und trillerte dabei mit leiser, aber unendlich lieblicher Stimme eine Melodie, wie ein kleiner Vogel, der im Schlafe singt. –

»Wecke mir das Kind nicht auf, Lottchen!« ermahnte Tante Edith sanft, und gleich darauf trat ihre zierliche Gestalt im einfachen grauen Morgenkleide in den Bereich meines Gesichtskreises und nahm in dem Lehnstuhle nahe bei Charlotte Platz, so daß sie mir den Rücken wandte und ich den vollen Anblick ihres saubern Morgenhäubchens hatte.

Charlotte saß plötzlich still. »Tante,« fragte sie mit etwas gedämpfter Stimme, aber doch so, daß ich deutlich jedes Wort vernehmen konnte, »Tante, ist es wahr, was Fernande gestern abend auf der Fahrt nach D. Melanie von Stelten erzählte, daß nämlich die Mutter der Kleinen da drinnen – nun, wie soll ich doch sagen – na, kurz – eine Dame vom Theater war, die den armen Onkel durch ihren unerhörten Luxus vollständig ruiniert hat?«

Ich schloß die Augen in diesem Augenblick; es war, als führte man einen Schlag gegen mich, dem ich nicht mehr entgehen konnte. Meine Mutter eine Dame vom Theater! Meine Mutter – ihr liebes Gesicht schwebte mir plötzlich vor, die zierliche Gestalt, wie sie, sich die Finger wund nähend, am Fenster saß – »durch unerhörten Luxus!« – O, wenn Fernande sie gekannt hätte!

»So? Hat Ferra ihr Herz erleichtert?« fragte Tante Edith, »es war jedenfalls sehr interessant, Lottchen, und die Fahrt ist euch gedankenschnell vergangen?«

»O ja, Tante Edith, es hat mich interessiert. Weißt du, fast in jeder Familie kommt so ein kleiner, pikanter Skandal vor, nur in der unsern sah es in dieser Beziehung, dank dem unvergleichlich ruhigen, leidenschaftslosen Blute der Demphoffs, über alle Maßen harmlos und hausbacken aus.«

»Charlotte!« rief Tante Edith zürnend.

Ein silberhelles Lachen antwortete ihr. »Es ist doch wahr, Tante, und ich denke mir so etwas außerordentlich interessant. Stelle dir vor, welche Abwechselung durch solche Liebesleidenschaft unter dem Stande in ein friedliches, langweiliges Familienleben kommen müßte! Da gibt es Scenen mit den Herren Eltern, der Sohn droht, sich das Leben zu nehmen, die Mutter arrangiert Feste, um ihn seine Liebe vergessen zu machen; der Vater schlägt eine Reise vor, die Schwestern laden sich ein halb Dutzend heiratsfähige Freundinnen zum Besuch, und schließlich ist eines Morgens in dem Lokalblättchen zu lesen: ›In unserer nächsten Nähe spielt sich eine, für die heutige blasierte Zeit ungewöhnlich romantische Geschichte ab; der Sohn einer unserer ersten Familien heiratete, trotz des energischen Widerstandes der Seinen, eine junge Dame vom Theater, die es verstand, durch ihre Schönheit den jungen Kavalier so in Fesseln zu schlagen, daß er –‹ Gelt, Tantchen, so war es?« fragte sie, aus ihrem vortragenden Tone fallend.

»Hat es dir Ferra so mitgeteilt, Charlotte?«

»So ähnlich, Tante, nur noch ausführlicher, noch bunter,« erwiderte meine Cousine.

»Fernande kennt die Geschichte viel zu wenig, um sie erzählen zu können,« sagte Tante Edith sehr ernst; »dies beweist schon der eine Umstand, daß die Mutter der Kleinen nie mit ihrem Fuße auf den Brettern gestanden hat; von einer Dame vom Theater kann also nicht wohl die Rede sein, und ich möchte dich sehr bitten, Charlotte, nicht wieder in dieser Weise von ihr zu reden.«

»Kennst du die Geschichte genauer, Tantchen?« bat das junge Mädchen lebhaft. »Hast du je die Frau gesehen, die Papa und Onkel für immer trennte?«

»Ich habe sie gesehen, Lottchen, wenn auch nur einmal,« sagte Tante Edith weich; »ich habe jene traurige, noch heute nicht aufgeklärte Geschichte ja miterlebt. Diese Frau – lieber Gott, Charlotte! Diese kleine, kinderhafte Frau mit den großen, dunklen Augen war freilich die unschuldige Ursache des Zerwürfnisses, aber ihr kommt wahrlich nur der geringste Teil der Schuld zu; sie war ein harmloses Kindergemüt – keine Kokette – wie man dir gesagt zu haben scheint.«

.

Gute Tante Edith! Mein Herz klopfte ihr in stürmischer Dankbarkeit entgegen; sie nahm mein Mütterchen in Schutz, über die jenes junge Mädchen dort mit der Leichtfertigkeit eines Wesens, das keine Ahnung hat, was es heißt, unglücklich zu sein, urteilen wollte. Ich öffnete die Augen und sah zu ihr hinüber; sie saß dort so unbefangen, und ihre Blicke ruhten, ohne jedes wahre Interesse zu verraten, auf Tante Ediths Gesicht.

»O bitte, erzähle, Herzenstante!« bat sie, »du thust ein gutes Werk damit; erstlich entschädigst du mich für die gestern ausgestandene Langeweile auf der Reunion, und zweitens kann ich Ferra dann doch endlich auch einmal beweisen, daß ich von einer Sache besser unterrichtet bin, als sie.«

»Sind das deine einzigen Gründe, diese traurige Geschichte zu erfahren, Lottchen?« fragte Tante Edith ernst.

Charlotte senkte die Augen und schwieg.

»Es thut mir sehr leid, daß ich es sagen muß, Charlotte,« fuhr Tante Edith fort, »aber du bist grenzenlos oberflächlich aus deiner Pension zurückgekehrt; ich habe mich immer mehr überzeugt, daß es leider so ist. Du bist nicht mehr das freundliche kleine Mädchen, das für fremdes Unglück so leicht eine Thräne fand, du willst dein Leben genießen, willst unterhalten sein, das scheint dir der einzige Zweck des Daseins.«

Einen Augenblick streckte das junge Mädchen wie bittend die Hände zu der alten Dame hinüber, dann senkte sie wieder den Kopf und schwieg.

»So viel ich davon weiß, will ich dir gern erzählen,« begann Tante Edith aufs neue; »aber es ist wenig und ich thue es nur, um dir einen Blick in das Leben zu gewähren, das du noch so wenig kennst und das dir wie ein verführerisches Spiel vorgaukelt, in dem nur Schönes dir begegnen muß. Ich will dir deine sonnige Heiterkeit nicht nehmen, um die Welt nicht, aber gewöhne dich, an fremdem Unglück nicht leichtfertig vorbeizugehen oder es gar als ergötzliches Gesprächsthema zu behandeln; in jedes Menschen Hoffnungsblüte fällt einmal ein Reif, es wird auch dir nicht erspart bleiben.«

»Es ist nur eine gar kurze Erzählung, die du zu hören bekommst, aber sie enthält eine ganze Welt voll Leid, Charlotte,« begann Tante Edith, während ich mit Herzklopfen dalag und ihren Worten lauschte. »Hermann von Demphoff, der Vater unserer kleinen Schläferin und der Bruder deines Vaters, war der jüngere Sohn, wie du ja weißt; er bekam mithin nur ein sehr mäßiges Vermögen, eben genügend, um ihm die Carriere als Offizier zu ermöglichen. In seiner Garnison lernte er das Mädchen kennen, das ihm so verhängnisvoll wurde; es geschah im Hause ihres Onkels, als dessen Adoptivtochter sie galt. Ich glaube, wenn die Sachen sich so verhielten, wie es damals schien, so hätte dein Vater kaum einen Einspruch gegen die Verbindung der beiden erhoben, denn der alte Onkel war ein angesehener Mann und galt als vermögend.

»Da starb er plötzlich; es fand sich kein Testament vor, und das junge Mädchen stand bettelarm da, gewöhnt an jeden möglichen Luxus. Das wirklich große Vermögen fiel einer ganz entfernten Seitenlinie zu, die von der Hinterbliebenen absolut keine Notiz nahm.

»Dein Onkel kam hier angereist und bat um Aufnahme seiner kleinen Braut – da ging der Sturm los! Leider hörte ich in jener für mich tieftraurigen Zeit so gut wie gar nichts von dem, was im Aebtissinnenhause, in der Familie deines Vaters vorging, ich hatte auch jenen Zwiespalt nur andeutungsweise von Gottlieb vernommen, der Hermann nach einem stürmischen Auftritt zur nächsten Poststation fuhr; letzterer zürnte mir ja auch. So erhielt ich denn auch nicht die Anzeige seiner Verheiratung, die sehr bald stattfand; erst aus der Zeitung ersah ich es. Bald nach der Vermählung mußten indessen sich die Brüder soweit wieder ausgesöhnt haben, daß Hermann eingeladen wurde, mit seiner jungen Frau einen Besuch auf Kloster Wendhusen zu machen. Erst als die meiner Stube gegenüberliegenden Besuchszimmer geöffnet wurden, erst als Gottlieb in großer Livree mit dem Staatswagen durch das Gitterthor rollte, um die Gäste abzuholen, erfuhr ich auf mein Befragen, daß das junge Ehepaar erwartet werde.

»Ich war damals zu sehr an drückende Zurücksetzung seitens meiner Geschwister gewöhnt, als daß mich dieses wundern konnte; ich wurde gleichsam wie eine Tote betrachtet, ja, nicht einmal wie eine Tote, denn einer geliebten Verstorbenen legt man doch noch zuweilen eine Blume auf das Grab. Aber – das gehört ja nicht hierher.

»Wie man so ist, Lottchen, es steckt so etwas von einer Pudelnatur im Frauenherzen; anstatt im beleidigten Stolz mich tief in mein Zimmer zurückzuziehen, stand ich stundenlang an jenem Tage lauernd hinter den Gardinen, um meines jüngsten Bruders junge Frau zu sehen und ihn selbst als glücklichen Gatten. Leider wurde mir die Aussicht in dem Hauptmomente benommen durch den verdeckten Wagen, und außer einem blauen Schleier, der hoch aufwirbelte im Frühlingswinde, sah ich nichts von meiner neuen Schwägerin. Auch ferner nicht, denn ich wurde krank in jener Zeit und mußte das Bett hüten. Nur mitunter hörte ich eine weiche, klangvolle Frauenstimme und kleine leichte Schritte, die den Korridor heraufflogen. Schön sei sie, wunderschön – berichtete mir meine Dienerin. ›O, gnädige Frau, wie eine der Heiligen, die in Ellingen in der katholischen Kirche über dem Altar hängen, und dabei ist sie nur so ein Püppchen, so ein kleines!‹ pflegte sie zu sagen.

»Wohl zwei Wochen mochten vergangen sein, ich befand mich zum erstenmal außer Bett; es war ein heißer Junitag gewesen und die drückende Schwüle wollte selbst der Dämmerung nicht weichen, da hörte ich, als ich gegen Abend müd und matt auf meinem Sofa lag, die trippelnden Füßchen wieder draußen auf dem Korridor. Es war ein hastiges Laufen, und bald darauf schlug dröhnend die Thür des Fremdenzimmers zu; nach einer Weile schallten eilige Männertritte den Gang herauf, und wieder öffnete sich die Thür und die Stimme meines jüngsten Bruders scholl durch das Haus: »Die Sache ist abgemacht, Else, wir reisen sofort!« Zu gleicher Zeit aber drang Weinen zu mir herüber, so recht herzbitterliches Weinen.

»Im Nu hatte ich meine Thür geöffnet; auch jene mir gegenüber war weit zurückgeschlagen; ich konnte das Zimmer übersehen und erkannte in dem rosigen Dämmerlicht der sinkenden Sonne eine zierliche, weiße Gestalt auf dem Sofa und meinen Bruder vor ihr auf den Knieen, leise tröstende Worte sprechend. – ›Hermann, ich that nichts Böses, o, ich schäme mich tot, laß mich fort, Hermann, laß mich fort von hier!‹ bat sie immer wieder, und ein junges, bethräntes Gesicht voll unsäglichen Liebreizes hob sich aus den Kissen und schmiegte sich an seine Wange.

»›Ja, ja, aber beruhige dich, Else, es muß doch gepackt werden, und du bist aufgeregt im höchsten Grade; glaubst du denn, daß ich auch nur einen Moment an dir gezweifelt? Mein Himmel, wer konnte auch so etwas ahnen?‹ Er erhob sich und schritt zu einem Tische, und im nächsten Augenblick flog es klirrend durch das Zimmer und die Scherben einer Krystallkaraffe lagen glitzernd auf dem Teppich. Die junge Frau war erschrocken in die Höhe gefahren und starrte mit den dunklen Augen zu ihrem Manne herüber. ›Nicht einmal ein Glas Wasser in diesem gastfreien Hause, wenn man es gebraucht!‹ rief er mit unterdrücktem Zorn und riß an der Glockenschnur; dann wurde die Thür heftig zugeschlagen.

»Betroffen schloß ich auch die meine und zerbrach mir den Kopf, um zu ergründen, was vorgefallen sein könne. Der rasche Hufschlag eines Pferdes lockte mich ans Fenster, und ich sah deinen Vater, Lottchen, ganz gegen seine Gewohnheit, fortreiten in den sinkenden Abend hinein, und ehe er noch zurückgekehrt war, hatten Hermann und seine junge Frau Wendhusen verlassen – um niemals wiederzukommen.

»Ich konnte das reizende Gesicht mit den dunklen Augen, die so scheu und fragend unter den langen Wimpern hervorsahen, nicht wieder vergessen, und als später das Gerücht auch bis zu uns drang, sie leben in der bittersten Armut, da konnte ich nicht widerstehen; ich setzte mich hin und schrieb an sie, um ihr eine, freilich kleine, Unterstützung anzubieten. Aber der Brief kam uneröffnet zurück; sie ahnte wohl kaum, wer die Schreiberin war; ich glaube, sie wußte nicht einmal, daß eine Schwester ihres Mannes existiere, oder dachte vielleicht, der Brief sei von deiner Mutter, und so bin ich ihr fremd geblieben, wo ich ihr doch so gern näher getreten wäre.

»Noch einmal machte ich den Versuch, aber wieder wurde mir das Schreiben durch die Post zurückgegeben, mit dem kurzen Vermerk von einer zierlichen Damenhand, daß aus Wendhusen keine Briefe angenommen würden. – Es war dies ungefähr ein Jahr nach Hermanns Tode.«

»Aber Tantchen,« unterbrach Charlotte die alte Dame, »in deiner Erzählung ist nichts, was zu Gunsten der Frau von Onkel Hermann redet, und Ferra sagt doch, sie habe den Onkel durch ihren unerhörten Luxus – –«

»Charlotte! Sollte Ferra dir maßgebend sein mit ihren Urteilen? Freilich lebte das junge Paar glänzender, als ihre Verhältnisse es gestatteten, aber da trifft die Schuld zumeist den Mann. Sie hat geglaubt, er sei reich, seine Mittel erlaubten ihm solch eine stattliche Haushaltung zu führen; ahnungslos lebte sie in dem Luxus, den er ihr verschwenderisch bot! Ich bin überzeugt, hätte er ihr nur eine Andeutung gemacht, sie würde sich mit Freuden in die bescheidensten Verhältnisse gefügt haben.«

»Woraus schließt du das, Tante Edith?«

»Aus der Art und Weise, wie sie ihren unbewußt begangenen Fehler gesühnt hat. Oder meinst du nicht, Lottchen, daß es eine Sühne ist, wenn die Frau mit Aufopferung ihrer ganzen Kraft, mit den zarten, der Arbeit ungewohnten Händen Tag und Nacht schafft, um sich und ihre Kinder anständig und ehrlich durch die Welt zu bringen? Meinst du nicht, daß durch solch eine thränen- und arbeitsvolle Stunde, durch das schwer erkämpfte Wollen und Vollbringen, Jahre eines unbewußt begangenen Unrechts wieder gut gemacht worden sind? Weißt du, was es heißen will, Charlotte, nächtelang zu arbeiten bei trüber Lampe und peinigenden Gedanken dazu? Weißt du, was es bedeutet, wenn man sich sagen muß: sobald die Arbeitskraft versagt, wirst du mit den Deinen darben? Geh, Kind, du weißt es nicht, mag Gott dich davor bewahren.«

»Tante!« bat Charlotte; ihre Stimme klang wie durch Thränen. »Liebe Tante.«

Ich sah nicht, was sie that bei diesen Worten; ich hatte mich stürmisch auf die Seite geworfen und den Kopf tief in die Kissen gesteckt, damit niemand das Schluchzen hörte, das meine Brust zu zersprengen drohte. Da fühlte ich einen Kuß auf meinem Haar, und als ich mich umwandte, fielen meine verweinten Augen auf Cousine Lotte, die an meinem Bett niedergekniet war.

.

»Ich will dich lieb haben, kleine Cousine,« sagte sie und die blauen Augen schimmerten in Thränen, obgleich der frische Mund lächelte. »Ich will dich lieb haben, vergib mir, was ich vorhin im Uebermut gesprochen, denn du hast es gehört, ich weiß es. – Komm her, du kleines Geschöpfchen, und gib mir einen Kuß,« bat sie, mich an sich ziehend und mich küssend. »Nicht wahr, du bist mir nicht böse? Nein?« fragte sie und ihr vorhin rosiges Gesicht sah bleich aus vor Erregung.

Ich schüttelte den Kopf und legte meinen Arm um ihren Nacken. »Ich will dich auch lieb haben, Charlotte,« versicherte ich treuherzig.

»Aber nun mußt du aufstehen,« rief sie, sich erhebend und wieder in ihren muntern Ton übergehend. »Darf ich beim Lever zugegen sein?« Unter Lachen und Kichern half sie mich ankleiden. »Du weißt gewiß noch gar nicht, was dir passiert ist?« neckte sie. »Ja, ja, kleines Stadtfräulein, wir sind jetzt auf dem Lande zwischen Kühen und Kälbern, die sind nämlich berühmt auf Kloster Wendhusen. Gras, Blumen, Bäume und frische Luft haben wir im Ueberfluß; warte nur, du sollst bald rote Backen bekommen.« Sie strich liebkosend über mein Gesicht, während sie mir half, die Locken in ein Netz stecken.

»Charlotte,« fragte ich, »nicht wahr, Tante Edith heißt eigentlich Frau Berker oder Berka?«

Sie lachte hell auf und schlug in die Hände. »Kind, weißt du denn das nicht? Freilich, Tante Berka.«

»Ich habe nie von ihr gehört,« entgegnete ich. »Mama sprach ja nie mit uns von Wendhusen.«

»Kind! Da weißt du am Ende noch gar nicht einmal, wer ich bin?« rief sie in komischer Verzweiflung. »Nein, das geht ja gar nicht; also höre zu, ich will dir unsere Familie der Reihe nach vorführen.« Sie setzte sich auf den Rand meines Bettes und sah zu mir herüber, indem sie an den Fingern abzuzählen begann:

»Also Numero eins, selbstverständlich meine Mama, die Frau von Demphoff, eine Geborene von Thienen aus Thüringen, steht in größtem Respekt bei ihren Kindern und Untergebenen; wenn Ferra und ich von ihr sprechen, nennen wir sie Serenissima. Ferra und Joachim sind ihre Lieblinge, Gerhard und ich stehen erst in zweiter Linie; ich bekomme sehr viel böse Worte von ihr, weil – nun, das kommt bei meiner Personalbeschreibung.

»Numero zwei, Luitpold Gerhard von Demphoff, Majoratsherr und Chef der Familie, mein goldener Bruder, der beste, edelste Mensch, den es gibt. Aber leider ist er so ein ganz klein wenig kränklich,« fügte sie hinzu und das Aufleuchten der blauen Augen wich einem dunklen Schatten. »Er wird aber gesund werden, Lena, ich weiß es,« versicherte sie dann zuversichtlich. »Wenn du einmal etwas zu bitten hast, so wende dich an ihn, er sagt nicht nein.

»Numero drei, meine schöne Schwester Fernande von Riedingen, die seit zwei Jahren wieder unter dem väterlichen Dache wohnt, weil ihr Mann bei einem großen Rennen in R. so unglücklich mit dem Pferde stürzte, daß er sofort tot blieb und sie zur Witwe machte. Sie hat anderthalb Jahre ganz schwarz getrauert, es sah so unvergleichlich schön aus zu dem blonden Haar – –«

»Lotte! Lotte!« rief Tante Edith, die jetzt auf die Schwelle getreten war, »du verfällst wieder in den alten Fehler!« Dann schritt sie auf mich zu und küßte mir liebevoll die Stirn. »Hast du gut geschlafen?« fragte sie. »Sieh, nun wird dir gleich eine Personalbeschreibung von der Familie gemacht, die nach dem eben Gehörten –«

»Numero vier,« unterbrach Charlotte die Bemerkung der Tante, »Joachim von Demphoff, Lieutenant im neunten Kürassierregiment, ein sehr schöner Mann, Cavalier comme il faut mit allen dazu gehörigen Tugenden und Fehlern, liebt nächst dem Ballet am meisten die Jagd.«

»Ich bitte dich, hör auf, Lotte, was soll Magdalene von dir denken?« schalt Tante Edith etwas ärgerlich.

»Numero fünf, Charlotte von Demphoff, enfant terrible, Schrecken aller Familienmitglieder, sieht alles, was sie nicht sehen soll und hört stets das, was nicht für sie bestimmt ist, hat einen ganz häßlichen Charakter; wen sie einmal mit ihrer Liebe verfolgt, der kann sich nicht retten vor ihr; hält sich am liebsten im alten Kloster bei der Tante Edith auf, um sich von ihr schelten zu lassen – o, du gute, einzige Tante Edith du!« rief sie, die alte Dame stürmisch in die Arme nehmend. »Ich bitte dich nur um eins, laß mich nicht eifersüchtig werden auf diese da.«

»Wildfang, laß mich, du erdrückst mich ja!« rief die Tante. »Wenn du dich nicht änderst, so ist es immer möglich, daß dir die Kleine den Rang streitig macht.«

»Dann, Lena, nimm dich in acht!« drohte sie, ins Nebenzimmer laufend, so daß zwei oder drei von Tantens Lieblingen scheu zu uns herüber flüchteten. »Ich hetze sämtliche Katzen auf dich in diesem Falle, und das ist keine Kleinigkeit, denn die gelbgescheckte hat eben wieder einmal sechs Junge.«

Sie erschien nochmals in der Thür, schwenkte den großen Strohhut gegen uns und dann war sie verschwunden; wir hörten noch ihr frisches Lachen im Korridor verhallen.

»Jetzt weiß ich, wer du bist,« sagte ich, mich an Tante Edith schmiegend, »du bist meines lieben Vaters einzige Schwester?«

Sie strich zärtlich mit der Hand über mein Haar. »Deines Vaters Schwester,« wiederholte sie leise und setzte dann hinzu: »Kind, Kind, wie siehst du deiner Mutter ähnlich; dieselben Augen, ganz dieselben.«

»Tante, ich danke dir,« sagte ich und schlang die Arme um ihren Hals. »Wenn ich gewußt hätte, wie gut du bist, dann hätte Mama an dich schreiben müssen und nicht an Tante Demphoff, als sie einer Unterstützung bedürftig war; du hättest gewiß nicht geantwortet, daß sie schuld sei an dem Unglück meines Vaters.«

Tante Edith schob mich plötzlich zurück und sah mich erbleichend an.

»Wie? Deine Mutter schrieb an sie? Und sie hätte ihr da geantwortet, was du eben sagst?«

Ich nickte bejahend. »Sie wurde sehr krank bald darauf und hat immer davon phantasiert.«

Tante Edith schwieg; sie sah starr in die grünen Wipfel, die sich draußen im goldenen Morgenlicht wiegten; ein unbeschreiblich bitterer Ausdruck lag um ihren Mund. Dann schritt sie zu dem Fenster, und nachdem sie die mächtigen Flügel geöffnet, wandte sie sich mit den Worten zu mir: »Nun komm, Magdalene, und frühstücke, es ist heute spät geworden; morgen heißt es zeitig aufstehen. Ich mache immer in aller Frühe einen Spaziergang durch den Park, und du sollst mich begleiten – du glaubst nicht, wie köstlich das ist, du armes Stadtmäuschen.«


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