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11.

. Wochen waren vergangen und der November hielt seinen Einzug mit einem prächtigen, großflockigen Schneegestöber, das lustig um die alten hohen Bäume des Parkes wirbelte. Durch die kahlen Zweige konnte man die weißen Mauern der Villa schimmern sehen, und hinter ihr erhoben sich, wie ein unveränderlicher grauer Hintergrund, die Berge; man hätte meinen können, es steige hinter dem grauen Hause ein schwarzes Gewitter empor.

Im alten Kloster sah es traurig aus; Tante Edith blieb wie in Schmerz erstarrt, und keine Liebkosung, keine Schmeichelworte schien sie zu bemerken; ich schmiegte mich zuweilen an sie, wie damals das Kätzchen, als sie wähnte, am unglücklichsten zu sein, aber heute vermochte nicht einmal ein Menschenkind ihr armes, krankes Herz zu rühren; sie strich höchstens einmal flüchtig über mein Haar. Seit einiger Zeit hatte sie zwar das Strickzeug wieder zur Hand genommen, aber sie besuchte weder ihre Armen und Kranken, noch mochte sie einen fremden Menschen sehen, und so kam es denn, daß ich bei Wind und Wetter durch das schmutzige Dorf schritt, in die Hütten der Armen trat und mich allmählich gewöhnte, mit ihnen zu verkehren. Gottlieb war mein treuer Begleiter und schützte mich vor allzu großer Unverschämtheit, denn noch verstand ich es lange nicht, zu beurteilen, wieviel und was helfen konnte.

Selbst ihren Kirchgang hatte Tante eingestellt. »Gott kennt mich doch nicht!« sagte sie düster und strich mit der Hand ihre weißen Haare zurück. Das war eine traurige Zeit und wie oft habe ich mich in mein Zimmer geflüchtet und geweint vor Angst und Herzweh.

Von Gottlieb erfuhr ich erst nach vielen Tagen, wie es Robert ergehe, und ein Entsetzen ohnegleichen packte mich, als er mir erzählte, daß Robert eine gerichtliche Strafe zu erdulden habe.

»O, mein Gott!« rief ich, »er konnte ja nichts dafür, er hat es nicht gewollt.«

»Ja freilich! Aber das ist egal,« erwiderte der alte Mann, »Herr Berka ist noch am Abend des Sterbetages in die Stadt gefahren mit Herrn Gerhard und hat sich selbst angezeigt und – ja, was weiß ich es, wie das zugeht –. Herr Berka hat ein halb Jahr Festung bekommen.«

Ich schrie entsetzt auf: »Er sitzt im Gefängnis, in einem kalten, düsteren Verließ, ohne Licht, bei Wasser und Brot?«

»Es ist nicht so schlimm, Fräuleinchen, es ist nicht so schlimm,« beruhigte Gottlieb. »Er hat ein warmes Zimmer und darf spazieren gehen und essen, was er will; Gott behüte, er ist doch nicht im Zuchthause –«

»Weiß es Tante und Charlotte – –?«

»Die Frau Tante gewiß, und Fräulein Charlottchen wohl auch, sie reden nur nicht davon.«

Arme Charlotte! Täglich kam sie zu einer bestimmten Stunde durch den Park und mit Ungeduld wartete ich dann am Fenster, bis ihre schlanke, schwarze Gestalt hinter der Biegung des Weges hervortrat; sie ging so müde jetzt, und jedesmal, wenn ich sie sah, war es mir, als sei das feine Gesicht noch schmaler und durchsichtiger geworden. Und wenn sie kam, dann setzte sie sich zu Tantes Füßen und sprach von gleichgültigen Dingen, während ihr doch die leidenschaftlichste Klage auf den blassen Lippen schwebte.

Gerhard schien tief bekümmert über diese Veränderung; er teilte seine Zeit zwischen dem Geschäfte und der Schwester. Oft hielt sein leichter Wagen vor dem Gitterthor, um sie und mich spazieren zu fahren; dann vermied er sorgfältig, den Weg einzuschlagen, dessen Wegweiser besagte: Nach Fölkerode 4 Meilen. Denn wußte er auch nicht genau, so ahnte er doch, daß Charlottes Trauerkleider mehr einem süßen, gestorbenen Glück, als dem Bruder galten, und rührend war der große, stattliche Mann in seiner nimmermüden Aufmerksamkeit für das blasse, schöne Mädchen und die greise Frau im alten Kloster.

»Ich danke Ihnen, Cousine,« sagte er eines Tages zu mir; »Sie sind gut und freundlich zu Charlotte; Sie glauben nicht, wie glücklich es mich macht, dies zu wissen.«

»O, ich kann ja gar nichts thun –« klagte ich.

»Sie thun schon genug; oder meinen Sie, ich hätte kein Auge dafür, zu bemerken, wie Sie Charlotte eine Blume bringen, ihr Geschichtchen aus Ihrer Heimat vorplaudern, Tante jeden Wunsch an den Augen ablauschen oder ihr ein Lieblingsgericht in der Küche bereiten?«

»O, das ist doch selbstverständlich!« sagte ich, rot werdend; er hatte so warm gesprochen.

»Ganz gewiß, Cousine, aber es freut mich doch.«

Auch Ferra war einmal zur Tante gekommen, um der »Unglücklichen«, wie sie sich ausdrückte, einige teilnehmende Worte zu sagen. Sie erschien plötzlich wie ausgetauscht gegen früher, war von einer eleganten Sicherheit und dabei die überzärtlichste Mutter geworden, die man sich denken konnte. Während sie früher sich in Klagen erging, was aus dem Jungen werden sollte ohne jegliches Vermögen, sprach sie jetzt mit einer wahren Begeisterung davon, wie gern der kleine Schelm Pferde habe und Kühe, und daß ganz gewiß ein tüchtiger Landwirt in ihm stecke. Und als ihn Gerhard eines Tages auf den Arm hob und fragte: »Was will der Junge werden?« da wurde des Kindes lachendes Gesicht ernsthaft und es sagte fast andächtig: »Onkel Gerhard!«

Ferra lachte überlaut, ob aus Verlegenheit oder Freude über des Kindes Antwort, war schwer zu unterscheiden; Gerhard aber setzte den Knaben auf die Erde und ein eigentümliches Lächeln spielte einen Moment über seine Züge.

Es war an einem schneeigen Novembertage, als sie diesen ersten Besuch im alten Kloster machte. Charlotte saß wieder zu Tantes Füßen und Gerhard hatte eben versucht, diese für eine Weihnachtsbescherung zu interessieren, die er zu veranstalten beabsichtigte; aber sie wehrte kurz ab. »Nein, nein, Gerhard, laß mich, ich mag keine Lichter und keine Freude sehen, Magdalene kann dir helfen.« Ich hatte mir eben ein paar Stühle in die Mitte des Zimmers gestellt, Garn darum geschlungen, und ging, es zu einem Knäuel aufwickelnd, nach Kinderart immer im Kreise um die Stühle herum.

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»Ich will Ihnen helfen, Cousine,« sagte Gerhard, und im nächsten Augenblick hielt er das Garn auf den auseinandergebreiteten Händen und saß vor mir in einem Sessel. Er lächelte dabei, und selbst über Charlottes blasses Gesicht flog ein freundlicher Schein, als ich, vor ihm stehend, tapfer daraus los wickelte. Das ging freilich noch einmal so schön als vorher, aber dann war er ungeschickt und ließ einige Strähne fallen, und nun gab es ein Wirrsal. »Jetzt fassen Sie sich in Geduld, Vetter,« bat ich und beugte mich über das Garn; das Knäuel mußte wohl hundertmal durchgesteckt werden, und immer noch saß der Faden fest. »Mit Geduld und Zeit wird 's Maulbeerblatt zum Atlaskleid,« bemerkte Vetter Gerhard scherzend, als er mir ansah, daß ich kribbelig wurde; er saß auch gar so gemütlich dabei. Ich fühlte, mir stieg das Blut zu Kopf; »Geduld ist ein edel Kraut, wächst aber nicht in allen Gärten, sagt Christiane,« erklärte ich und riß ungeduldig an dem Garn.

»Dann muß es gepflanzt werden,« bemerkte Gerhard unerschütterlich; »nur nicht so heftig, daß der Faden reißt!«

Ich bog mich beschämt noch tiefer herunter, dabei hatte ich wohl den Eintritt Ferras überhört; ich sah erst auf, als diese dicht neben Gerhard stand und ihre blitzenden Augen überrascht und befremdet von ihm zu mir flogen.

»Das ist ja sehr allerliebst und gemütlich!« sagte sie gedehnt, »eine Idylle à la Voß; Mama sitzt drüben und wartet sehnlichst, daß du ihr einen Brief an ihren Rechtsanwalt aufsetzen sollst, und du – –«

»Und ich habe das bereits besorgt!« ergänzte er, »und Mutter hat ihn schon längst zur Post geschickt.«

Sie drehte ihm unwillig den Rücken und wandte sich zu Tante Edith. »Liebe Tante, ich sprach dich noch gar nicht seit jenem Unglückstage,« begann sie und legte einen Augenblick ihre schlanke, weiße Hand auf den Arm der alten Dame, die eifrig strickte. Diese hielt mit der Arbeit inne und sah die schöne Frau wie fragend an.

»Du mußt dich nicht so furchtbar grämen, liebe Tante,« fuhr sie fort; »es ist ja sehr traurig, wir alle sind von dem Schlage noch ganz fassungslos, der arme Robert zumal – –«

Tante hatte schweigend ihr Strickzeug hingelegt und war aufgestanden: »Ich weiß schon, Kind, ich weiß schon, was du willst, aber laß mich, ich kann nicht davon reden.« Und im nächsten Augenblick war sie in ihr Schlafzimmer gegangen und der kleine Riegel schob sich vor die Thür.

»Himmel! Tante thut gerade, als läge ihr Sohn da drüben,« murrte Ferra empfindlich. »Es ist ja, gelinde gesagt, fürchterlich jetzt in Wendhusen; kein Mensch redet ein vernünftiges Wort, Mama ist noch stummer und kälter wie je – mein Gott, es ist ja geradezu sündhaft, sich so gehen zu lassen, als ob uns der Herr mit Joachim alles, alles genommen hätte.«

Während dieses Vortrags wickelte ich eben das letzte Garn von Gerhards Händen und sagte ihm ein freundliches: »Danke schön!«

»Uebrigens, Gerhard, es ist gut, daß ich dich treffe,« sprach Ferra eifrig weiter und hielt ihn am Aermel mit ihrer kleinen Hand. »Da sagte mir meine Anna eben, du habest ihr gekündigt? Ich mußte laut lachen, aber, die alberne Person sitzt und weint und beteuert, es sei doch so, der gnädige Herr habe ihr gesagt, zum nächsten Termin sei sie entlassen. Was ist denn das für ein lächerliches Mißverständnis?«

»Durchaus nicht, Ferra,« erwiderte er ruhig. »Du hast es nötig gefunden, eine Erzieherin für deinen Kleinen zu engagieren, ohne mich zu fragen – die Bonne genügt dir nicht mehr –, gleichwohl wirst du bemerkt haben, daß Mama angefangen hat, sich bedeutend einzuschränken in ihrem Haushalt; es dürfte dir auch nicht unbekannt sein, aus welchen Gründen? Charlotte hat nie eine Jungfer für sich allein gehabt. Deine Erzieherin, die übrigens ihre Fähigkeiten und Lehrtalente völlig nutzlos hier liegen lassen muß, denn der Junge ist noch zu klein, bezieht eine Gage, die neben dem sündlich hohen Lohn, den diese Anna erhält, eine zu große Ziffer ergibt. Ferner hätte Anna auch desungeachtet mein Haus verlassen müssen, weil ich unter der Dienerschaft, die ich stündlich sehe und höre, nur Leute von bescheidenem Auftreten und artigem Wesen haben will, und da jene Dame diese Eigenschaften gerade nicht kultiviert, so muß sie eben gehen.«

»Gerhard!« rief Ferra, und ihre Augen blitzten unheimlich zu ihm herüber, »weißt du auch, daß diese Person mir unentbehrlich ist? Sie kennt mich und meine nervösen Zufälle; ich kann nicht ohne sie sein!«

»Ich bedaure, Ferra, nehme aber kein Wort von dem zurück, was ich gesagt habe.«

»Was verbrach sie denn? Gegen wen war sie unartig? Ich werde sie schelten.«

»Nicht doch – wozu? Sie bleibt doch nicht, Ferra.«

»Ich will sie aber behalten!« In Ferras Augen funkelten Thränen und der Fuß stampfte zornig auf den Boden. – Gerhard zuckte die Achseln und nahm seinen grauen Hut vom Tische.

»Gerhard, ich will der Gouvernante abschreiben,« bat Ferra und die Thränen liefen jetzt wirklich auf den Wangen herunter.

»Doch nicht, Ferra, ich habe meine bestimmten Gründe. Von Rechts wegen hätte sie schon vor zirka vier Wochen ihre sofortige Entlassung haben müssen, allein damals vergaß ich es über jenen traurigen Tagen; bitte nicht mehr, es ist umsonst.« Er sagte das in freundlichem, aber sehr bestimmtem Tone, grüßte noch einmal zu uns herüber und verließ das Zimmer.

»O, es ist empörend!« rief Ferra. Dann verstummte sie, ihre Blicke blieben plötzlich groß und voll an mir hangen und ein langgedehntes »Ah!« entfuhr ihren Lippen. Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Gott, was war ich dumm!« rief sie, schritt einigemal im Zimmer auf und ab, und wieder vor mir und Charlotte stehen bleibend, die teilnahmlos dem Gespräche gefolgt war, sagte sie mit vor Weichheit schmelzender Stimme:

»Gerhard ist leidend, ich hätte ihm nicht widersprechen sollen, man vergißt es immer und immer wieder, wenn man ihn so groß und kräftig sieht. Und erst gestern mittag sagte Doktor Weber, seine Lungen seien in einer traurigen Verfassung. – Anna mag gehen, wenn er es durchaus wünscht; mein Gott, wie war er doch gleich gereizt. Armer Gerhard!«

»Wenn er dich jetzt gehört hätte, wäre er vielleicht gereizt worden, Ferra,« bemerkte Charlotte; » ich fand ihn sehr ruhig eben; du verwechselst die Begriffe und meintest dich!«

»Gewiß, ich war heftig,« gab Ferra zu und senkte den schönen Kopf; »ich will es wieder gut machen und ihm zuliebe meine beabsichtigte Reise nach B. aufgeben, man weiß ja ohnehin nicht, wie lange wir noch mit ihm zusammen sind; Joachims Tod hat ihn arg mitgenommen.«

»Nun, daraufhin könntest du es immer wagen, zu verreisen, du fändest ihn jedenfalls wohl und gesund wieder, wenn ich auch nicht leugnen will, daß er augenblicklich etwas angegriffen ist.«

»Wie? Und das sagst du, Charlotte?« rief Ferra. »Ich meine, wir hätten gesehen, wie es geht; – wer hätte wohl geglaubt, daß der arme Joachim – –« Sie fuhr mit dem Tuche über die Augen und schwieg. – Charlotte antwortete nicht, sie lockte Minka zu sich und streichelte sie, und als sie sah, daß das Tier noch das rote Halsband trug, nahm sie eine Schere, zerschnitt es und warf es in den Kamin; dann lockte sie Peter und Murrchen und wie die andern hießen, um ihnen den Schmuck abzunehmen, den sie ihnen so lachend und glücklich umgehängt hatte, und als sie fertig war, blieb sie am Kamin hocken und schaute nachdenklich in die rote Glut. Dann sagte sie: »Lena, wir wollen Gerhard helfen bei der Christbescherung, nicht wahr?«

»Reisen Sie nicht einmal nach Hause?« fragte Ferra mich gleich darauf. Sie saß jetzt in dem großen Sessel am Kamin. Ich schaute sie betroffen an, und ihre Augen hingen mit gespanntem Ausdruck an meinem Gesicht. »Ich habe ja kein zu Hause,« antwortete ich leise, und meine Augen füllten sich mit Thränen. »An voriger Weihnacht hatte die arme, liebe Mutter uns noch einmal den Christbaum angezündet.«

»Aber der kleine hübsche Bursche dort? Wie würde er sich freuen!« sprach sie weiter.

»Er ist bei fremden Leuten in Pension und – Vetter Gerhard –«

»Aber Ihr Vormund?«

»Der hat keine Frau, und seine Haushälterin ist so böse, wenn er Besuch bekommt; nein, das geht nicht – aber Vetter Gerhard hat mir versprochen, Georg dürfe herkommen –«

»So! Da sind Sie ihm wohl recht um den Bart gegangen, kleines Schmeichelkätzchen?« Sie bog sich zu mir herüber und faßte mit ihrer feinen Hand in mein Haar. »Die Locken, Kindchen, stehen Ihnen zum Verzweifeln schlecht; warum stecken Sie Ihr Haar nicht in ein Netz oder flechten Zöpfe daraus? Sehen Sie, so!« Und mit fester Hand nahm sie meine Haare zusammen, flocht sie mit merkwürdiger Geschwindigkeit und steckte nun die zwei dicken, aber doch kurzen Zöpfe am Hinterkopfe auf.

»So! Das ist doch wenigstens ordentlich,« lobte sie ihr Werk. »Wissen Sie, wie Sie aussehen. Kleine, wenn Sie mit dem wirren Gelock da ankommen? Wie so ein landfremdes Zigeunermädchen; ich kann sagen, ich schämte mich mitunter – so ist's besser, viel besser!«

Ich lief zum Spiegel und erschrak; sie hatte alle die krausen Haare, die sonst um mein Gesicht hingen, straff zurückgezogen; etwas Häßliches, Ungewohntes schaute mich an. »O, pfui!« rief ich erschrocken, aber ich wagte nicht, etwas daran zu ändern, denn daß ich wie ein landfremdes Zigeunermädchen umhergelaufen sei, machte mich schamrot.

»Was da, pfui? Ich finde leider, daß man sich nicht genug um diese Sachen bei Ihnen bekümmert hat,« erklärte Ferra; »ich meine auch, Sie sind zu alt, um in dem kurzen Kleide da umherzulaufen; man sieht den Fuß bis zum Knöchel, shocking! Wenn wenigstens noch ein elegantes Stiefelchen darüber säße. – Morgen lasse ich Ihnen einen Volant an das Kleid setzen.«

»Das ist nicht nötig, Ferra,« fiel Charlotte ein, und um ihre blassen Lippen zuckte es sarkastisch; »in diesen Tagen kommt eine Sendung von meinem Schuhmacher und dabei befindet sich auch etwas für Lena. Das Kleid laß, bitte, ruhig so, denn die beiden neuen Winterkleider habe ich expreß so kurz für sie bestellt. Du siehst, es wird für sie gesorgt.«

Einen Augenblick stand Ferra buchstäblich mit offenem Munde. »Wer ist denn so erstaunlich splendid?« erkundigte sie sich.

»Welche Frage, Ferra! Wer denn sonst, als Gerhard? du weißt – –«

»Ah, deshalb die Einschränkung!« entfuhr es den Lippen der schönen Frau.

»Aber Ferra!« rief Charlotte unwillig, »ich denke, das versteht sich von selbst; Gerhard hat sich natürlich verpflichtet, für die Geschwister zu sorgen. Bitte, thue nicht, als ob du das nicht weißt.«

»Nein, das ist mir in der That neu. Himmel, wen alles soll denn Wendhusen beherbergen und ernähren?«

Wie schneidige Messer drangen diese Worte durch mein Herz. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte mir jemand so unverhohlen gesagt, daß ich ein überflüssiges, nutzloses Ding sei, welches nur aus Gnade existieren dürfte. Bis jetzt war es mir bei Tante Edith so wohl gewesen, daß ich jeden Abend meine Hände gefaltet und gedankt hatte für alle die Liebe, die man der Verwaisten entgegenbrachte. Heute – jetzt eben dachte ich zum erstenmal wieder an das Wort, das Christiane zu Georg gesprochen: »Nur aus Gnade und Barmherzigkeit!«

Charlotte sah unwillig ihre Schwester an. Sei es nun, daß sie dieselbe durch eine Antwort nicht noch zu weiteren Aeußerungen veranlassen wollte, oder war sie überhaupt zu müde – genug, sie schwieg. Aber mir stieg das heiße Blut rebellisch in den Kopf.

»Ich habe ja gar nicht herkommen wollen!« stieß ich heraus, »ich wäre zehnmal lieber in B. geblieben und hätte eine Stelle angenommen, um bei Georg sein zu können. Aber das sollte ich ja nicht; man hat mich hierher geholt; ich weiß auch, warum? Damit es nicht heiße, ein Fräulein von Demphoff sei Bonne oder Gesellschafterin. O, wenn ich könnte, noch heute möchte ich fortgehen und nimmer wiederkommen!«

»Behüte Gott, diese Leidenschaftlichkeit!« rief Ferra. »Erinnerst du dich noch, Lottchen, daß ich dich gleich am ersten Abend auf dies trotzige Gesicht aufmerksam machte? Puh! mein Kind, nur immer gemach, es geht nicht so, mir nichts, dir nichts fortzulaufen; ich meine, Sie bleiben gern hier.«

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»Ja, weil ich Tante Edith nicht allein lassen kann jetzt,« entgegnete ich. Der Gedanke des Fortmüssens von hier stand mir plötzlich wie etwas Undenkbares vor.

»Nun, sehen Sie?« sagte Ferra leichthin; »nur nicht immer gleich auffliegen wollen. Ich muß mich auch mit aller möglichen Liebenswürdigkeit und Sanftmut fügen und eine mir fast unentbehrliche Person entlassen. Ich rate Ihnen wohlmeinend, gewöhnen Sie sich das Uebelnehmen ab; das ist bei Ihnen durchaus nicht angebracht.«

Sie hatte sich bei diesen Worten, vor dem Spiegel stehend, ihre schwarze, kostbare Spitzenhülle wieder über den Kopf geschlungen und das reizende, frische Gesicht sah unendlich lieblich darunter hervor; dann knöpfte sie die mit dunklem Pelz verbrämte Samtjacke zu, ergriff ihre lange Schleppe, und in das Schneegestöber hinaus weisend, fragte sie heiter: »Ist das nicht köstlich? Ich muß noch ein wenig hinaus, ehe ich Anna ihren Abschied verkündige. Was meinst du, Lottchen, ich miete sie im Dorfe ein, dann ist Gerhard und mir geholfen, und sie kann immer noch meine Garderobe besorgen.«

»O, Ferra, es ist mir ganz einerlei,« erwiderte Lottchen tonlos.

»Adieu! Adieu!« rief die schöne Frau, und im Hinausgehen murmelte sie etwas von »unausstehlichen Trauerweiden«.

Ich aber hatte meinen Entschluß gefaßt, und als Tante Edith wieder herübergekommen war und mit Charlotte vor dem Kaminfeuer saß, da ging ich in meine Stube und schrieb einen langen Brief an Christiane, und als er fertig war, trug ihn Gottlieb zur Post.

Einige Tage später bekam ich ein gewichtiges Paket, und nun saß ich jeden Abend, bis es Mitternacht schlug, an dem kleinen Tische vor meinem Bett und zog den Faden durch die Arbeit. Im Kachelofen knatterte und krachte das Buchenholz und erfüllte das große Gemach mit behaglicher Wärme, während draußen Weg und Steg verschneit lagen und der Nordwind eisig von den Bergen herabwehte und sich kalt und pfeifend gegen die Fenster legte, als wollte er sehen, was da drinnen im alten Kloster bei Lampenschein so spät noch getrieben werde. Mitunter überkam es mich wie ein Grauen, wenn ich daran dachte, daß ich ganz allein noch wach sei in dem großen, spukhaften Hause, und furchtsam schaute ich umher, meinend, eine der braunen geschnitzten Thüren thue sich auf und eine schlanke Gestalt in schwarzem Gewande, mit Kopftuch und Rosenkranz, müsse über das Parkett gleiten und mich verwundert mit geisterhaften Augen ansehen. Zuweilen dachte ich auch an Joachim und glaubte da draußen seine zornige Stimme zu vernehmen, und flatterte wohl gar ein Käuzchen mit heiserem Geschrei gegen das Fenster, so warf ich die Arbeit fort und barg meinen Kopf tief in die Kissen des Bettes, mich scheltend und doch zitternd vor unnennbarer Furcht.

Am nächsten Abend aber saß ich wieder da, und heimlich wanderten die Pakete hin und her zwischen Christiane und mir, und als das Weihnachtsfest nahte, da hielt ich eines Abends zwölf blanke Thaler in der Hand, und diese geringe Summe hat mir eine Freude gemacht, wie später nichts Derartiges mehr, was Geld oder Geldeswert bedeutet.

Charlotte kam jeden Tag in dieser traurigen Weihnachtszeit, und, nachdem bei jeglichem Wind und Wetter ein Spaziergang oder eine Fahrt gemacht worden, zerschnitt sie die Stoffe, die uns Gerhard so reichlich zugeschickt, und wir verarbeiteten sie zu Kleidern und Kleidchen. Sie that dies alles so genau und gewissenhaft, saß stundenlang mit einer Ruhe über die Arbeit gebeugt, die gegen ihr sonst so frisches, lebhaftes Wesen erschreckend abstach; drei, viermal mußte ich sie um irgend eine Anweisung fragen, und wenn sie dann die Augen hob, sahen sie mich völlig verständnislos an, als besinne sie sich, wo sie sei. Und unmerklich verfielen die schönen Züge, die schlanke Gestalt beugte sich unter der übergroßen Last des Wehes; sie klagte nicht, sie weinte nicht, aber jede ihrer müden Bewegungen, jeder Blick, jedes matte Lächeln sagten mehr als Worte.

Ich sah dies mit wachsender Angst; ich sah Gerhards besorgtes Gesicht, wenn sie sich müde auf seinen Arm stützte, und sein trauriges Kopfschütteln, wenn er sie teilnehmend fragte, ob sie krank sei? Ich hörte ihr tonloses: »Nichts, ich danke dir!« Ich wußte, weshalb sie litt, und konnte doch nicht helfen, durfte nicht einmal davon sprechen, denn sie hatte mir schon am Todestage Joachims Schweigen geboten; es sollte niemand wissen, wie nahe Robert ihr je gestanden.

Tante Edith war doch zuletzt aufmerksam geworden, und von dem Augenblicke an, da sie erkannte, wie furchtbar verändert ihr Liebling sei, kam etwas Leben in sie. Sie sprach wieder mit uns, sie nahm selbst eine Arbeit zur Hand und fragte Charlotte mehr als nötig war, nur um sie zum Sprechen zu bringen, ihre Gedanken abzulenken; und Charlotte antwortete, weil sie sich freute, daß jenes teilnahmlose, beängstigende Wesen von der alten Frau genommen sei. Und so stützten sie sich gegenseitig, und eine drängte der anderen zuliebe den heißen Schmerz tief in die Brust zurück. Es war rührend, zu sehen, wie das junge, so schwer getroffene Geschöpf, dem ein einziger Augenblick alle Hoffnungsblüten zerknickt hatte, sich an die alte Frauengestalt schmiegte, ihr liebkosend die schlanken Hände küßte und sie mit einem Lächeln ansah, das Tante Edith die Thränen in die Augen trieb. Sie dachten beide dasselbe; beider Gedanken flogen vorüber an einem einsamen, verschneiten Jägerhause im tiefen Forste zu der finstern, engen Festung, wo der weilte, dem der weite Wald das halbe Leben war, der, überglücklich, ihn kaum begrüßt hatte, und nun seine eben errungene Heimat wieder verlassen mußte, im namenlosen Schmerz um ein verlorenes, unsagbar holdes Glück! Dann preßten sich wohl Charlottes feine Hände fest gegen die Brust, und ihre Augen sahen so groß und finster in das Leere hinaus, als erschaue sie durch die Mauern in weiter Ferne den einsamen, unglücklichen Mann, wie er ruhelos umherwandern mochte und ohnmächtig die Hände ballen gegen das unerbittliche Schicksal.

»Er denkt her!« sagte sie mitunter halblaut, »ich kann es fühlen, Tante, ich weiß es.« Sie hatte wohl recht; wohin anders hätten seine Gedanken auch fliegen sollen? »Ja, er denkt her!«


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