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14.

. Wendhusen war einsam geworden. Gerhard und Charlotte hatten ihre Reise nach dem Süden angetreten und Ferra war mit Kind und Bonne nach Berlin gereist, um doch wenigstens etwas vom Fasching zu genießen; Theater, Konzerte und ein Rout vertrügen sich ja wohl mit der Trauer, meinte sie, man könne hier nervös werden in der Einsamkeit!

Tante Edith und ich im alten Kloster, Frau von Demphoff in der Villa, waren zeitweilig die einzigen Insassen der weiten Räume auf Wendhusen.

Und der Winter zog an den dicken Mauern vorüber mit seinen Unbilden, seinen Schneetreiben und Regengüssen; einförmig gingen und kamen die Tage, und jeden Abend löschte ich einen Kreidestrich an meiner Stubenthür aus; das hatte mir Gottlieb als ein bewährtes Mittel empfohlen, die Zeit rascher vergehen zu machen, und der alte Mann hatte es sich nicht nehmen lassen, selbsteine Anzahl solcher Striche auf das braune Getäfel der Thür zu malen.

Das war ein schwerer Tag für mich gewesen, an dem Gerhard und Charlotte kamen, um Tante und mir adieu zu sagen! Ich konnte auch nicht anders, ich weinte wie ein kleines Mädchen, als Charlotte mir immer wieder einen Kuß auf den Mund drückte. »Ich schreibe fleißig, Lena,« sagte sie, »und du antwortest mir, nicht wahr?«

Ich nickte und sah in ihr schönes Gesicht. Wir waren seit jenem Abend im Fölkeroder Forsthause erst recht Freundinnen geworden, und in der späten Nacht, da wir zurückfuhren nach Wendhusen, da hatte sie ihren Arm um mich geschlungen und mir tausend Schmeichelnamen gegeben, und warme Dankesworte waren in mein Ohr geklungen: Ich hätte ja zuerst das ausgesprochen, was sie schon so lange im Herzen getragen! »Und bist du nun ruhiger, Charlotte?« hatte ich dann gefragt.

»O, Lena,« antwortete sie, »ich kann dir gar nicht beschreiben, wie es war in meinem Herzen, und wie es jetzt ist –! Weißt du noch, als wir im Sommer einmal von dem furchtbaren Gewitter überrascht wurden auf unserem Spaziergange? Erinnerst du dich, wie sich die Bäume im Sturme bogen und schwankten, nicht wissend, wie sie sich behaupten sollten in dem tosenden Wetter? Sieh', so war es mit mir, just so hatte es mein Herz gepackt und es wußte nicht, bei wem es sich bergen sollte, bei wem Schutz suchen in dem wilden Sturm der Gedanken und Empfindungen. Und dann nachher, als Donner und Blitz vorüber waren, als nur noch ein leises Tröpfeln über uns dahinzog – noch war der Himmel bedeckt, noch schien die Sonne nicht wieder, aber gleichwohl ging ein Aufatmen durch die Natur, eine friedvolle Ruhe –, da zerrissen an einer Stelle die Wolken und ein Stückchen des blauesten Himmels leuchtete hervor. – So ist's in mir, Lena; noch scheint meine Sonne nicht wieder, noch lange, lange nicht; aber der Sturm hat ausgetobt, es ist Friede hier innen, und ein Stückchen blauen Himmels sah ich doch, als ich vorhin meinen Namen von ihm rufen hörte, als ich ihm in das so liebe, blasse Gesicht blickte, und aus seinen Augen las, was er gelitten in der Zeit unserer Trennung; als ich empfand, wie ein kleines Wörtchen Wunder thun kann, wenn es die Liebe spricht. Ich habe Frieden gefunden, Lena, weil ich gethan, was meine Pflicht war!«

Und so sah ich denn in ihre feuchten Augen: »Ja, Lottchen, ich schreibe, so oft du willst, alles, alles, was hier passiert.«

Gerhards Abschied aber war merkwürdig; er ging so ungeduldig im Zimmer auf und ab, und endlich sagte er sogar zu Charlotte, und seine Stimme klang ärgerlich: »So, nun ist's genug des Küssens, Schwester!« Und als diese sich betroffen umwandte, trat er zu mir und reichte mir flüchtig die Hand mit beinahe finsterer Miene: »Leben Sie wohl, Cousine.« Aber an der Thür kehrte er noch einmal um, und vor mir stehen bleibend, nahm er meine Hand wieder in die seine. Charlotte war schon draußen im Korridor und Tante Edith hatte sie begleitet.

»Magdalene,« sagte er weich, »wissen Sie noch, was Sie mir versprochen haben?«

Ich nickte stumm; die Thränen flössen mir wieder aus den Augen.

»Sie müssen nicht weinen, Cousine, was sind ein paar Monate der Trennung von – Charlotte? Wie bald sind sie dahin, und dann – es gibt ja kaum noch eine Entfernung, in 48 Stunden kann man hier sein, in noch kürzerer Zeit; das bedenken Sie. Es lohnt sich kaum, daß man adieu sagt, ich meine, man muß heutzutage keinen feierlichen Abschied nehmen; es ist für mich das Schrecklichste, was es gibt, solch eine thränenreiche Trennungsscene. – Trocknen Sie die Augen, Lena, und lachen Sie noch einmal, ehe ich gehe, ich sehe Sie sonst beständig weinend vor mir.«

Ich versuchte zu lächeln, aber es mißglückte total. »Sehen Sie mich an, Cousine,« bat er; ich blickte zu ihm empor, aber die dicken Thränen in den Augen ließen ihn mir nur ganz undeutlich erscheinen.

»Adieu, Lena!« sagte er noch einmal, »und wenn ich zurückkehre, haben Sie wohl wieder die hübschen Locken statt der garstigen Zöpfe, nicht wahr?«

Da mußte ich doch lachen; es war ja zu komisch, auf einmal die Locken zu vermissen, die ich schon so lange nicht mehr trug. »O, Vetter!« rief ich, »dann sehe ich aus wie ein landfremdes Zigeunermädchen!«

»Eben darum!« versicherte er ernsthaft; »aber wer behauptet denn das?«

»Ferra!« erwiderte ich, noch immer lachend.

»So? Und wenn es Frühjahr werden will, dann flattern sie wieder um das Köpfchen, nicht wahr? Für jetzt habe ich nichts gegen die Zöpfe. Sehen Sie, nun habe ich erreicht, was ich wollte – da lachen Sie. Aber jetzt muß ich fort, ehe es wieder ernsthaft werden will!« Und in demselben Moment hatte sich ein blonder Kopf herniedergebeugt und auf meiner Stirn fühlte ich einen Kuß, so leise und scheu, kaum zu merken; und »lebe wohl, Magdalene!« flüsterte seine Stimme an meinem Ohr; dann schritt er, ohne sich umzusehen, aus dem Zimmer.

.

Verwirrt schaute ich ihm nach; als aber die Thür hinter ihm zufiel, da flüchtete ich in meine Stube, und dort barg ich mein glühendes Gesicht in die Kissen des alten Sofas. Mir war auf einmal zu Mute, als seien Himmel und Erde aus den Fugen gegangen! Ein fortgesetztes Träumen überkam mich während der einsamen Tage, die nun folgten. Was da alles durch mein junges Herz gegangen – ich weiß es heute nicht mehr, aber es waren süße, selige Zeiten. Stundenlang konnte ich in einer Fensternische sitzen und nach dem Park drüben schauen, stundenlang in der Dämmerung am Kamin hocken und, ein paar von Tantes Katzen zärtlich im Schoß, die sprühenden Flammen beobachten; und abends lag der Atlas auf dem Tische und meine Finger folgten den Reisenden auf der Karte, während meine Phantasie sich die Schweizer Alpen und italienischen Landschaften vormalte.

Tante Edith ließ mich ruhig gewähren; gütiger und zärtlicher zu mir als je, verwöhnte sie mich, als sei ich eine kleine Prinzessin. Sie war so selbstlos, die zarte, schwergeprüfte Frau, und seit jenem Abend, da Charlotte so unverhofft das Haus Roberts betrat, war wieder die alte Zuversicht und Dankbarkeit bei ihr eingekehrt.

»Sieh, Kindchen,« sagte sie noch an demselben Abend zu mir, »sieh, so mußtees kommen, sie wären sonst alle beide zu Grunde gegangen; du glaubst nicht, in welch verzweifeltem Zustande ich Robert ein paar Stunden zuvor fand; Gott sei gelobt, er hat nun wieder Mut zum Weiterleben.« – Und in ihrer Dankbarkeit konnte sie sich nie Genüge thun, für andere zu sorgen und zu helfen; ein jeder, der ein Leid im Herzen trug, fand Trost bei ihr; jeder Kranke, jeder Arme Hilfe und Rat; an alle dachte sie, nur nicht an sich selbst.

Zwischen Ferra und Tante aber kam es vor der Abreise der ersteren noch zu einer unerquicklichen Scene. Anfänglich hatte Ferra die Absicht gehabt, in Wendhusen zu bleiben; sie erzählte wenigstens, als sie etwas verdrießlich ins Kloster herüber kam, daß sie sich verpflichtet dazu fühle; sie habe es Gerhard versprochen und irgend »wer« müsse doch auch zugegen sein, denn mit Mama sei seit Joachims Tode kein vernünftiges Wort zu sprechen. Sie schließe sich halbe Tage lang in ihr Zimmer ein, und wenn sie dann mittags zu Tische komme, habe sie nicht Augen noch Ohren, weder für sie – Ferra –, noch für den kleinen süßen Buben, der doch gar zu reizend sei jetzt mit seinem kindlichen Geplauder.

Nun habe sie eine so dringende Aufforderung von einer lieben Freundin bekommen, daß es geradezu ungezogen sei, dieselbe auszuschlagen, und deshalb reise sie morgen schon. Gerhard werde den Entschluß wohl billigen, sie wolle von Berlin aus an ihn schreiben.

»Dann wird ihm allerdings nichts anderes übrigbleiben,« lächelte Tante Edith, »indessen glaube ich auch, daß dir Gerhard sehr gern eine kleine Abwechslung gönnt, Ferra. Nur meine ich, wenn Therese – deine Mutter« – verbesserte sie sich, »so leidend ist, wäre es doch gut, wenn eins von den Kindern in ihrer Nähe bliebe, falls sie – –«

»Krank werden sollte!« vollendete Ferra. »Aber, beste Tante, Mama und krank werden, mit ihrer robusten Gesundheit? Ich wette mit dir so hoch du willst, Mama überlebt uns alle, wie wir da sind, Gerhard und Charlotte und mich; der einzige, der diese feste Konstitution von ihr geerbt hatte, war Joachim und dem hat sie leider nichts genützt. – Ich bitte dich, Mama krank werden! Sie, die keine Ahnung hat, was Nerven sind, der noch nie ein Finger weh that!«

»Wie du meinst,« entgegnete Tante Edith kühl, »du mußt wissen, was deine Pflicht ist.«

»Allerdings!« gab Ferra gereizt zurück, »das weiß ich; meine Pflicht ist die, mich meinem Kinde zu erhalten; und meine Nerven sind mehr wie kaput seit der Katastrophe mit Joachim.« – Schon wieder betonte sie Joachim. – »Ich hatte vor Weihnachten meine Reise aufgegeben, Gerhards wegen; nun fühle ich, es geht nicht länger so, ich mußmit einem Arzte sprechen.«

Tante Edith sah die junge Frau verwundert an – wie war sie verändert seit kurzer Zeit! Wo war das sanfte, sich fügende und schmiegende Wesen geblieben, in dessen Zauber sie sich allen noch jüngst gezeigt?

»Ich muß ferner gestehen,« fuhr sie fort, und die Röte des Unmutes färbte das schöne Gesicht, »ich finde es unrecht von Gerhard, nach Italien zu gehen; wenn es ihm bis jetzt nicht genützt hat, ist es überhaupt überflüssig. Den ganzen Tag predigt er: ›Wir müssen sparen!‹ Sparen ist das Losungswort bei uns geworden; ich wundere mich nur, daß er es nicht als Devise über dem Eingang der Villa hat anbringen lassen. Und trotz alledem wird diese Reise unternommen, und damit nicht genug, nein, Lotte muß mit, Lotte ist elend, es muß etwas für sie geschehen! – Ich kann sagen, daß sie vernünftigerweise refüsieren wollte, aber – behüte der Himmel! Sie wurde überredet, und trotz allem Sparen geht sie mit! Und warum? Nur weil sie ein wenig blaß aussieht und stiller geworden ist, etwas, wofür ich täglich Gott gedankt habe; es war kaum noch auszuhalten, ihr vorlautes Wesen. – Ob ich aber einer Erholung bedürftig bin, danach hat Gerhard nicht gefragt; mir würde Italien auch nichts geschadet haben!«

»Du bist ungerecht, Ferra,« unterbrach Tante Edith sie ernst. »Daß Gerhard der Tod des Bruders und noch so verschiedenes arg mitgenommen, das konnte jedermann sehen; kein Mensch sprach bisher mit solcher Ueberzeugung von Gerhards Kranksein wie du; und nun er etwas dafür thut, ereiferst du dich in ganz unnötiger Weise. Daß übrigens Charlotte zu ernstlicher Besorgnis Veranlassung gab, kannst du wohl kaum in Abrede stellen.«

Ferra lächelte. »Liebste Tante,« sagte sie lebhaft, »du wirst weder gegen Gerhard, noch gegen Charlotte jemals Partei nehmen, es wäre auch unerhört in der That. Glaube aber, bitte, nicht, daß Ferra von Riedingen zwischen euch steht, ohne zu bemerken, was um sie herum geschieht! Was Charlottes Krankheit ist, das weiß ich sehr wohl; aber man stirbt nicht von einem bißchen Liebeskummer, das kannst du mir glauben –«

Tante Ediths blasses Gesicht rötete sich vor Aufregung. »Du allerdings nicht, Ferra!« sprach sie laut und legte aufstehend ihre Arbeit auf den Tisch, »weil du gar nicht beurteilen kannst, was Lieben heißt, mit deinem oberflächlichen Charakter!«

»Aber, Tante Edith, ich bitte!« erwiderte Ferra, mehr erstaunt als zürnend, »jetzt bist du ungerecht. Daß man nicht an einem verlorenen Liebesglück stirbt, kannst du an mir sehen –«

»Deutele nicht an deinen Worten und drehe nicht um, was du gesagt hast,« rief Tante Edith befehlend, so daß Ferra, die wohl noch nie in solchem Tone von der sanften Frau angeredet sein mochte, verwirrt stillschwieg. »Ich dulde nicht, daß über Charlotte ein hämisches Wort gesagt wird,« fuhr sie zürnend fort, »denn sie steht mir tausendmal näher als du, mit deinem jammervollen Egoismus! Glaube, daß die alte Frau hier vor dir dein Treiben längst durchschaut hat; ich kenne den Zweck jeder deiner Handlungen – du verstehst mich, ich sehe es an deinen Mienen, und somit ist es überflüssig, dir mit dürren Worten ins Gesicht zu sagen, für was ich dich halte –. Nur das eine noch, deine Arbeit, deine Selbstverleugnung war – vergebens; das kannst du mir glauben!«

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»Ich weiß nicht, was du meinst, Tante,« stammelte Ferra mit Thränen im Auge. »Ihr seid alle so heftig zu mir jetzt und so unfreundlich, und ich thue doch wahrhaftig niemandem etwas zuleid!« Sie schritt zu Tante hinüber und das reizende Gesicht sah sie bittend an. »So sag doch, was du an mir zu tadeln findest,« bat sie. »Ach Gott! Es ist ja gern möglich, daß ich mitunter ein wenig egoistisch bin; Riedingen hatte mich so sehr verwöhnt.«

Tante Edith blickte sie sprachlos an. Sie hatte offenbar erwartet, eine heftige, ungeduldige Antwort zu erhalten, nun drehte und wand sich dieser aalglatte Frauencharakter, und wie ein gescholtenes, reumütiges Kind lag er, Verzeihung bittend, gleichsam zu ihren Füßen.

»Sieh, liebstes Tantchen, ich meine es ja nicht bös,« fuhr sie schmeichelnd fort, »wenn ich sage: Charlotte stirbt nicht von ihrem Liebeskummer. Da sie einmal so unvorsichtig war, eine Neigung für Robert zu fassen, hätte sie so wie so unvermeidliche Kämpfe durchzumachen gehabt, denn Mama wäre ja nie und nimmer mit jener Heirat einverstanden gewesen. So hat es Gott noch zur rechten Zeit gelöst, wo die Liebe noch nicht so tief, noch etwas Unausgesprochenes war; jetzt wird und muß sie es überwinden. Sieh, so meinte ich das –! Bitte, zürne mir nicht, ich finde es ja selbst so traurig.«

»O, Ferra!« sagte Tante Edith und entzog der jungen Frau die Hand, die diese eben an die Lippen führen wollte, »ich möchte weinen über dich!« Und ein Schlüsselbund ergreifend, ging sie so energischen Schrittes, wie ich es nimmer an Tante gewöhnt war, aus dem Zimmer.

Ferra sah ihr nach; sie hatte ein Taschentuch in die Hand genommen, und kaum schloß sich die Thür hinter der alten Dame, so warf sie sich in den nächsten Sessel, preßte das Tuch vor ihr Gesicht und fing an, bitterlich zu weinen.

»Liebe Magdalene,« sagte sie, nach einer Weile sich emporrichtend und sah zu mir herüber mit den verweinten Augen, »Sie glauben nicht, wie unglücklich ich mich fühle; keiner versteht mich hier, ich bin fremd unter den Meinen, und wo ich meinte, auf Mitleid und Schonung rechnen zu dürfen, da wird mir Mißtrauen zu teil –«

Ich war verlegen und fand keine Antwort. Die elegante, schöne Frau sah selbst in ihren Thränen nicht mitleidbedürftig aus, es fehlte ihrem Schmerz etwas; was es war, konnte ich im Augenblick nicht erkennen; erst viel später fand ich es – die Wahrheit.

»Als ich so alt war wie Sie,« fuhr sie fort, »da hatte ich schon eine große Enttäuschung erlebt, und als ich einige Jahre später sie überwunden glaubte und vertrauensvoll Riedingen meine Hand gab, da – –« Und nun folgte eine Beschreibung ihres unglücklichen Lebens, die mir das Blut siedend in die Wangen trieb; es war das Sittengemälde einer modernen Ehe, in welcher der Mann, ein notorischer Wüstling, die arme, ihn innig liebende Frau auf jede Weise vernachlässigt, kränkt, beschimpft. »Ich war damals so weit, meinem Leben ein Ende zu machen!« schloß sie.

»Aber Sie hatten doch Ihr Kind, Ihr kleines Kind!« rief ich, um etwas zu erwidern.

»Ja, meinen süßen Liebling, aber er war noch so klein, ich konnte ihm doch nicht Leid und Kummer klagen. O, überlegen Sie ja recht, Lena,« fuhr sie fort und ließ die Jetperlen ihrer Halskette durch die Finger gleiten, »ehe Sie einmal einer Bewerbung Gehör schenken; ich wäre tausendmal glücklicher, hätte ich mich nie verheiratet! Man liebt, man würdigt sich zur Sklavin herab, man erträgt alle Launen mit unerschöpflicher Geduld und erntet nichts als Undank; alles, was man sich als Mädchen schönes erträumte und erhoffte, geht unter in dem empörendsten Egoismus unseres Herrn und Gebieters. Und so sind sie alle, die Männer, alle! Ich verachte das ganze Geschlecht!«

»Das ist nicht wahr, Ferra,« sagte Tante Edith kühl, die eintretend die letzten Worte gehört hatte; »Gott sei Dank, gibt es auch Ausnahmen. Ich bitte dich, teile dem jungen Dinge dort nichts von deinen Erfahrungen mit, sie bekommt eine total unrichtige Auffassung solcher Verhältnisse.«

»Alle Männer sind Egoisten,« wiederholte Ferra sanft überzeugend, nur ihre Augen blitzten unheimlich zu Tante hinüber.

»Der deine war es, der meine war es, alle sind es auf dem Erdenrund, und Gerhard, dein vielgepriesener Gerhard ist einer der hervorragendsten dieser Species –. Verzeihe, liebe Tante, daß ich diese Wahrheit ausspreche vor jenen unschuldigen Ohren, indessen immer werden sie sich dieser Ueberzeugung auch nicht verschließen können. – Ich beklage es aber, dich heute beständig zum Tadeln reizen zu müssen, liebe Tante; ich bitte dich, verzeihe mir, und verzeihe mir auch, daß ich trotz deiner Mißbilligung nach Berlin gehe; wenn ich zurückkomme, sind meine Nerven hoffentlich nicht mehr ganz so reizbar.«

Sie nahm ihren Mantel und beugte sich, Abschied nehmend, über Tantes Hand, und mir mit einer kühlen Freundlichkeit zunickend, verließ sie das Zimmer.

»Ferra ist ein beklagenswerter Charakter, sie hat nie verstanden, sich mit dem zu begnügen, was sie besaß; Unzufriedenheit macht das Leben zur Qual und treibt zu thörichten Dingen,« sagte Tante Edith, als die junge Frau gegangen war. Sie nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand, schlug ein Kapitel in einem Romane von Walter Scott auf und versenkte sich, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, in den Altertümler. Sie wollte mir augenscheinlich zeigen, wie wenig Wert sie auf Ferras Raisonnement lege.


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