Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

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XX.

Mann, Weib und Kind sind durch die Nebel des kalten Herbstmorgens, der schon an den Winter mahnt, über den Stutz hinab thalaus geeilt, aber Kaplan Johannes ist nicht mehr bei ihnen.

Sie mögen Thöni Grieg selbst suchen, das Entsetzen wird um so größer sein, wenn sie ihn finden.

Der Garde weilt beim Presi: »Binia retten, was auch geschehen sei, auf eine blutige That darf keine blutige That folgen. Und die Gier des Verrückten trachtet nach dem Kind. Gebt sie in meine Obhut – Presi – ich bürge für sie. – Aber rasch – rasch –«

Der Presi spürt die bittere Not der Stunde: »Wohin wollt Ihr mit ihr, Garde?«

»Ich geleite sie auf den Berg, daß sie zu Josi gehe. Dort ist sie sicher; wenn er will, kommt keine Maus in seinen Gang, und bis am Morgen ist auch schon Mannschaft zum Schutz beider an den Weißen Brettern. – Presi, telegraphiert in die äußeren Gemeinden um Hilfe.«

Der Presi will es thun – er kommt kreideweiß aus der Postablage zurück – der Draht ist abgeschnitten.

»Dann holt Eusebi die Mannschaften – ein paar Stunden später sind sie doch da – nur ein Verbrechen darf nicht geschehen – eher mögen unsere Häuser zerstört werden.«

In dem sonst so schwerfälligen Garden lebt und bebt alles, die klugen und guten Augen unter den buschigen Brauen sprühen Feuer, er ist wieder jung.

»Ja, zu Josi!« klingt das Stimmchen der erschrockenen Binia fein und traumhaft und ihre Finger spielen, ohne daß sie es weiß, mit dem Tautropfen, den sie aus der Kapsel des Halskettchens geholt hat. »Komm mit mir, Vater, es ist mir so angst um dich, wir wollen uns nicht trennen.«

Sie kniet vor ihm, er aber antwortet fast streng: »Heute gehört der Presi in die Gemeinde, das weißt du, Kind!« Dann in überströmendem Gefühl: »Geh, Binia!

– Auf Wiedersehen, Herzensvogel – grüße mir Josi.« Er reißt sie an seine Brust: »Liebe Bini – sollte es anders kommen – sollte ich morgen nicht mehr leben – doch wenn nur du lebst – ich habe einmal einen sonderbaren Traum gehabt – aber ich glaube nicht mehr daran – geh zu Josi – geh in Gottes Namen.«

Mit sanfter Gewalt löst der Garde die schluchzende Binia aus den Armen des Vaters: »Ich will dich führen, Binia! – Komm – komm.«

Vater und Kind nehmen Abschied wie für die Ewigkeit.

Der Garde führt Binia im kalten, dichten Nebel durchs öde Dorf gegen die Alpen empor. Er redet herzlich zu der Schwankenden, die doch tapfer geblieben ist: »Und nun, Binia,« fragt er, »was für eine Bewandtnis hat es mit der furchtbaren Anklage, die gegen dich und Josi erhoben wird –« Da beichtet sie dem alten Freund, wie sie dem Vater gebeichtet hat.

»Binia!« sagt der Garde stillstehend und faßt ihre beiden Hände: »Jemand anders als du könnte es mir nicht vorgeben, daß der betrunkene Thöni selber in die Glotter gelaufen ist – aber wenn es einen Menschen giebt, dem ich glaube, so bist du es, denn du hast, wo andere gestrauchelt wären, immer den Mut der Wahrheit besessen.«

Sie sehen sich in die Augen, der Garde und Binia. O, sie hat es wohl gefühlt, daß der Vater ihrer Erzählung nicht ganz vertraute, und nun ist sie endlich glücklich, daß wenigstens der Garde sie in ihrem tiefen Elend versteht.

Noch zuckt ein Strahl der Hoffnung, daß alles gut kommen werde, durch ihre Brust, da aber taucht Kaplan Johannes gespenstisch aus dem Nebel auf und lacht sein gräßlichstes Lachen: »Wir tanzen doch, Jungfrau – wir tanzen an den Weißen Brettern!«

Irrsinnige Gier lodert in seinen Blicken.

Ehe der Garde sich auf ihn stürzen kann, verschwindet er so rasch, wie er aufgetaucht ist, im Nebel.

Binia zittert und der Garde muß sie wohl oder übel noch ein gutes Stück begleiten.

Da dringt das helle Tageslicht durch das Grau – es liegt unter ihnen – eine blasse Sonne scheint durch weiße Wolken – über das Gebirge ziehen dunklere Streifen und Bänke her – es rüstet zum Schneien – aber in der Felsenhöhe winkt der sichere Hort.

»Fürchte dich nicht, Binia,« mahnt der Garde, »gewiß geht eher St. Peter unter, als daß deinem Haupt ein Leid geschieht.« Hoch oben trennen sie sich. – Binia geht langsam, Schritt für Schritt, sie steigt in die falbe, schweigende Einöde – sie ist auf der Flucht – ihre Lippen zittern: »Zu Josi!«

Einen Augenblick noch sah ihr der Garde nach, dann wendete er sich in Selbstvorwürfen: »Der Mensch meint, er mache ein Ding gut, und er macht es böse. – Es wäre in diesem Augenblick viel wert, wenn das Dorf wüßte, was für ein Verbrechen Thöni Grieg an Josi begangen hat,« – –

Eusebi ist auf dem Weg nach Hilfe und der Garde eilt zu den Dörflern hinaus, die die Leiche in der Glotter suchen. Vielleicht bringt er sie im letzten Augenblick zur Vernunft.

Im Bären aber kämpft ein alter, einsamer Mann, er kämpft wie der angeschossene Adler, der jäher als je zuvor gegen den Himmel steigt. Er kämpft wie die Forelle an der Angel, die auf den Grund des Wassers schießt und sich in Schlamm und Kies verbohrt. Aber der Adler fällt rauschend in die Hochgebirgstannen, die Forelle verliert die Kraft und muß aufwärts steigen.

Der Presi weiß es: er ist der Adler – er ist die Forelle – seine Stunde ist da.

Er sitzt und betet – er blickt über sein Leben – er sieht alle seine Missethaten gegen Fränzi und Seppi Blatter – gegen die selige Beth – gegen Josi – gegen Binia – und er hat Thöni auf dem Gewissen. Eine furchtbare Angst um Binia überfällt ihn. Sie ist wohl sicher in Josis Felsenwerk – aber er hätte sie nicht gehen lassen sollen – in seiner grenzenlosen Verlassenheit gewinnt der alte Traum Macht über ihn – und er weiß jetzt, wer der dritte ist, der am Haupt seines Kindes rühren wird – es ist der schreckliche Kaplan, der den Haß gegen ihn und eine verbrecherische Leidenschaft für das Kind in einer Blutthat ertränken möchte.

Er sollte jetzt der Presi sein – er sollte handeln – sollte reden – aber die Kraft versagt. – Das Dorf ist totenstill – er weiß nicht, was draußen an der Glotter geschieht – wie Vinia ihr Ziel erreicht. – Die Furcht lähmt ihn und kein Mensch kümmert sich um ihn.

Doch, die bebende Vroni steckt den Kopf herein und harrt den langen Tag als Samariterin bei ihm aus.

Sie kommen so furchtbar lange nicht, die den toten Thöni bringen. Mittag. – Abend. – Da naht endlich der traurige Zug, in dessen Mitte die Leiche auf einer Bahre liegt.

Die Männer des Gebirges haben die Hüte gezogen, finster und gemessen schreiten sie und reden nichts.

Noch einmal ist ihr furchtbarer Entschluß, den sie nur im höchsten Taumel des Schreckens faßten, erschüttert worden.

Denn der Garde hat geredet, er hat allen, die sehen wollten, den falschen, entsetzlichen Brief Thönis gezeigt, und das Mitleid mit dem, der in der Glotter lag, ist dahin. – Hätte ihn Josi erschlagen, man könnte nichts dawider haben.

Nein, sie können Binia nichts thun – selbst das entstellte Gesicht Thönis, den man unter unendlichen Mühen aus den Tiefen der Glotter geholt hat, giebt ihnen den Mut nicht mehr.

Da ziehen die Sprengschüsse Josis lang hinhallend durch das Gebirge und die Donnerschläge von den Weißen Brettern jagen die Furcht neu in die vom Totenfund erregten Herzen, die wie unter dem Bann einer höheren Fügung stehen. Morgen schlägt der Hammer – morgen fallen die Lawinen von der Krone – morgen geht St. Peter unter.

Die Fäuste ballen sich, die Blicke steigen drohend gegen die Felsen empor. »Der braucht wohl noch zu sprengen,« knirschen die Männer, »in dieser Nacht muß doch noch das Gericht ergehen.«

Wohin mit der Leiche? – Auf den Kirchhof. Die Bahre steht. Um sie knieen im sinkenden Abend die Dörfler.

Von der Freitreppe des Bären schreitet im Sonntagsstaat würdig und feierlich der Presi, der den schrecklichen Anfall vom Morgen überwunden hat. Zitternd, doch hochaufgerichtet steigt er langsam zum Kirchhof empor und scheu geben die Dörfler Raum.

Er zieht den Hut, tritt an die Bahre und nimmt die schneeweiße Hand des Ertrunkenen. Ruhig spricht er, so daß es alle hören können: »Thöni Grieg, du weißt es, daß ich dich erschlagen habe, daß Josi und Binia unschuldig sind. – Garde und Gemeinde, ich ergebe mich euch als der Mörder Thöni Griegs!«

So spricht der Presi!

Was er erwartet, erfüllt sich aber nicht. Das Volk stürzt sich nicht auf ihn, sondern stutzt in Verwirrung und Hohngelächter erschallt ringsum. Die Rede des Garden und des Presi widersprechen sich. – Der Garde schluchzt laut auf: »O Presi, was habt Ihr gesagt!« Er fällt seinem Freund an die Brust.

Ein unbeschreiblicher Aufruhr entsteht. Die Dörfler schreien: »Sie spielen Komödie – der Garde draußen, der Presi hier – sie lügen – Josi Blatter und Binia Waldisch sind die Mörder. – Die Führer der Gemeinde sind auch des Teufels und mit ihnen gegen uns verschworen.«

Zu diesem Aufruhr kommt von der Kirchenthüre herüber ein zweiter – ein entsetzliches Geschrei: »Wehe St. Peter – wehe – wehe – wir sind exkommuniziert.«

Ein Blitz, der in den Kirchhof gefahren wäre, hätte die Verwirrung nicht vermehren können.

Wo am Morgen die Schrift des Kaplans hing, klebt eine andere. Der Pfarrer schreibt:

»An die räudige heidnische Rotte von St. Peter. Im Namen der heiligen Kirche sind die Siegel an dieses Gotteshaus gelegt. Wer sie bricht, der sei einem Selbstmörder gleich geachtet, wer am Strang der Glocke zieht, den soll die Religion nicht lossprechen in seinem Sterben, und wer in der heiligen Erde wühlt, soll selbst kein geweihtes Grab finden. Das soll so lang gelten, als ihr nicht mit dem rechtmäßigen Pfarrer Frieden macht und von dem Baalspfaffen Johannes und seinem Teufelsglauben laßt!«

Darunter steht das Pfarramtssiegel. – Die Leiche Thöni Griegs ist über dem Schrecken, den die neue Botschaft erregt, vergessen. Man sucht den Pfarrer, man findet ihn nicht, in aller Heimlichkeit hat der alte gekränkte Mann das Thal verlassen, einige, die an der Glotter standen, haben ihn sogar gesehen.

Da liegt ein Toter, der begraben sein sollte, und übermorgen ist Allerheiligen – dann Allerseelen! Kirche und Kirchhof aber sind gesperrt. Nun rüttelt und schüttelt das Entsetzen ein ganzes Dorf.

»Die Regierung hat uns ins Elend geführt, unsere alten Vorsteher lügen uns an, die Kirche giebt uns auf – und alles kommt vom Rebellen und der Hexe – den Mördern. – Gut, wenn man will, daß wir wilde Tiere meiden, so wollen wir wilde Tiere sein und uns unseres Lebens wehren – der Rebell und die Hexe müssen sterben.«

So rasen die von St. Peter.

Der Presi schwankt, wie er sieht, daß seine Selbstaufopferung nichts hilft, davon – die Dörfler beachten es im Aufruhr kaum – der Garde will reden – aber ihm antwortet der hundertstimmige Ruf kreischender Weiber und tobender Männer: »Wir wollen nichts mehr von euch – ihr seid alle Verräter.«

Die neblige Herbstnacht ist hereingesunken – das Grauen wächst.

Da schwingt sich Kaplan Johannes mit einer qualmenden Kienfackel auf die Bahre und beleuchtet das zerwaschene Gesicht des Toten; der Ruf läuft durch die dunklen Gruppen: »Wir haben niemand mehr, der sich unser erbarmt, als Johannes – Kaplan, führt uns – sagt uns, was sollen wir thun?«

Der Schwarze lächelt höllisch: »Erschlagt die Teufelin und den Rebellen – sie ist bei ihm an den Weißen Brettern, ich öffne euch den Weg.«

Da ruft der alte greise Peter Thugi: »Ergebt euch nicht in die Gemalt des Schwarzen – ihr werdet es bereuen.«

Im gleichen Augenblick aber ertönt ein seltsames klirrendes Geräusch durch den Kirchhof. Alle erschaudern. Wahnsinnige Weiber haben die ersten Kreuze ausgerissen. Die Männer knirschen dumpf: »Jetzt können wir nicht mehr zurück – vorwärts also – wir müssen Totschläger sein!«

Das vom Entsetzen gerüttelte Dorf rüstet sich zum schrecklichen Auszug an die Weißen Bretter, die Grabkreuze klirren durch die Nacht. Hinter Kaplan Johannes, der das Kreuz Seppi Blatters an sich gerissen hat und den Weg mit seiner Kienfackel beleuchtet, zieht die heulende, betende Schar, die sich der Hölle ergeben hat. Sie hat aber das Dorf kaum verlassen, da röten sich die nächtlichen Nebel und schon rennen die Ausziehenden schreiend zurück: »Es brennt in St. Peter. – Feurio! – Feurio!«

Die unbestimmt in die Nebel flutende, wogende, wachsende Glut reißt alle ins Dorf zurück. – »Vielleicht ist es unser Haus – vielleicht ist es unser Vieh, das verbrennt,« jammern sie; es scheint durch die schwelenden Nebel, als stehe das ganze Dorf in Flammen.

Fluchend sieht es der Kaplan, wie seine Herde die Kreuze von sich wirft und zu ihren Häusern rennt.

Wie die Erschrockenen aber zurückkommen, brennt der Bären, steigen die Lohen schon prasselnd durch das Dach in die Nebel empor. Der Bären, das alte schöne Haus, der Stolz von St. Peter, das Wahrzeichen des Dorfes, brennt. Sie stehen erschüttert davor – und ihre erste Eingebung ist: retten – helfen, – das Gewissen für die bürgerliche Pflicht erwacht.

Wie aber einige zur Kirche hinauf eilen und die Sturmglocken ziehen wollen, prallen sie wieder an die Siegel des Pfarrers. Es brennt und man darf nicht läuten.

Die Verzweiflung packt das Dorf. – Die Leiche Thöni Griegs, die noch auf dem Kirchhof steht, steigert das Entsetzen. Das Brandlicht fliegt über sie und giebt den Zügen einen Schein des Lebens. – –

»Wer hat den Bären angezündet?« – »Ein Voreiliger vom Ahorn!« So redet ihnen das schlechte Gewissen ein. »Wo ist der Presi? Wenn er im Haus verbrennte?« – Einige Beherzte steigen in den Bau, er ist nicht darin.

Da predigt von der Kirchhofmauer herunter der schwarze Kaplan, der schrecklich im Schein der Flammen steht, mit seiner hohlen Grabesstimme: »Meine fromme Gemeinde. Dich rufen heiligere Pflichten – wir müssen Teufelstöter sein – folgt ihr mir, so wird zu Allerheiligen ein erlösendes Wunder für alle geschehen, die mit mir sind – folgt ihr mir nicht, so seid ihr um Mitternacht schon in der Gewalt des Feindes – der Presi ist auf dem besten Tier nach Hospel geritten und bietet die äußeren Dörfer gegen uns auf. Er hat das Haus angezündet, um uns aufzuhalten.«

Das erste glauben die Dörfler, das letzte nicht, denn zu sehr hat der Presi sein schönes Heim geliebt.

Das Entsetzen steigt. – Mord und Feuersbrunst in der Gemeinde – und morgen militärische Besetzung oder Untergang. – Dazu den Zorn und die Strafen der Kirche.

Der Brand, dem man nicht wehrt, wirft seine rauschenden Funkengarben auf das Dorf, Frauen und Kinder flehen die Männer auf den Knieen an, daß sie das Dorf retten, der Garde mahnt mit Thränen in den Augen zur Vernunft.

Endlich, endlich arbeitet die Feuerspritze, er kommandiert, Wasserstrahlen stiegen auf die Kirche und die nächsten Häuser. Die Nacht ist windstill, die riesige Lohe des Bären verfließt wie eine feurige Wolke im Nebel, die gewaltigen Mauern halten stand, aber aus den berstenden Fenstern zischen die Flammen und zerstören die alten Jagdtrophäen am Dachgebälk und prasselnd fällt das graue Bärenhaupt auf die Straße und zersplittert.

Aus dem Erdgeschoß ist einiges gerettet morden und nun schreit Bälzi: »Der Wein! der Wein! Laßt uns doch den Wein holen!«

Er dringt mit einigen Burschen in den Keller, sie wälzen die Fässer auf die Straße, und da man sich wegen der steigenden Hitze zurückziehen muß, zum Kirchhof hinauf.

Die Flaschen, Krüge, Becher und Gläser kreisen.

»Wenn doch St. Peter untergehen muß,« gröhlen die Männer, »so wollen wir noch trinken. Zum Wohl – zum Wohl!«

Ein gräßliches Bild! Der Brand nimmt schon ab, die Gefahr für das Darf ist vorbei, der Bären ist ein riesiger glühender Ofen, auf dem Kirchhof aber beraten die Trunkenen zwischen betenden Frauen und schreienden Kindern, was sie jetzt anfangen wollen.

Einen Augenblick ist es, als siege die Vernunft, der Garde und noch einige haben sich auf den Kaplan geworfen, haben ihn gefesselt und wollten den Tobenden abführen.

Da stiegt eine Nachricht herbei, die den letzten Funken der Besinnung löscht: »Wir sind verraten. – Die wehrfähige Mannschaft der vorderen Dörfer ist im Anzug – sie sind schon an der Brücke – sie helfen dem Rebellen – sie sind gegen die von St. Peter.«

Die Bestürzten bitten, drohen, sie kämpfen, sie machen den gebundenen Kaplan Johannes mit Gewalt frei: »Er allein kann uns jetzt helfen!« rufen sie. Er aber schreit, das Grabkreuz Seppi Blatters wieder ergreifend: »Vertraut mir, ihr Frommen. – Zu Allerheiligen erlöse ich euch alle – denn ich bin nicht Kaplan Johannes, wie ihr meint – sondern ich bin St. Peter, euer Schutzpatron, ich richte unter euch meine Kirche ein – und wer in den Himmel kommen will, folgt mir!«

Der helle Wahnsinn steht in den Augen des Schrecklichen, der sein Grabkreuz schwingt – die Hälfte der Dörfler weicht über die Gotteslästerung entsetzt von ihm zurück: »Wir haben uns einem Narren ergeben!« stammeln sie.

Zwanzig, dreißig Frauen aber, die noch in Furcht und Entsetzen an ihn glauben, scharen sich um ihn, eine Zahl Männer ahmen das Beispiel nach, doch viele unter ihnen verhalten sich schweigsam und drohend: »Wir gehen mit,« knurren sie finster, »denn nach allem, was sich ereignet hat, können wir nicht mehr zurück, aber wenn er uns ins Unglück führt, ist er der erste, der fallen muß.« – –

Siegesgewiß lächelt der wahnsinnige Kaplan: »Kommt, kommt, ihr Getreuen – an den Weißen Brettern wird sich das Glück der Gemeinde erfüllen.«

»Auch Ihr, Peter Thugi?« – Der Garde, der den Mut verloren hat, sagt es traurig und vorwurfsvoll. –

»Garde,« erwidert der junge Mann, »wenn Josi oder Binia ein Härchen gekrümmt wird, so kehre ich nicht zurück zu meinen Kleinen – mich schämt das Leben an, wenn er untergehen soll, der mich gerettet hat!«

Der Zug der Verzweiflung zieht, während es leise zu schneien beginnt, in die Nacht.

Umsonst hat der Garde noch einmal geredet – jetzt sitzt er still in seiner Wohnung und weint über seine verirrte Gemeinde.

Vroni steht tröstend bei ihm, aber ihr ist todesangst um Binia. Die alte Sage!

Eusebi kommt so lange mit der Hilfe nicht.

Da horch! Gleichmäßige, taktfeste Schritte von Männern schallen von der Straße, die sich mit dem Flaum des fallenden Schnees bedeckt. In guter Ordnung rückt die waffenfähige Mannschaft der äußeren Dörfer in St. Peter ein, die Befehle tönen ruhig durch die Nacht, im Haus des Garden atmet man auf aus grimmiger Not.

»Wo ist mein Mann, Eusebi Zuensteinen?« fragt Vroni die Ankommenden.

»Mit dem ersten Zug der Unsrigen ist er vor dem Dorf an die Weißen Bretter empor geschwenkt. – Josi Blatter darf nichts geschehen,« antworten die Männer.

Draußen im Lande weiß man es: Das Werk Josi Blatters ist gut. Mit denen von St. Peter aber, die man schon lange als harte, abergläubische Köpfe kennt, muß man scharf rechnen, sie haben mit dem, was heute geschehen ist, die Ehre des ganzen Berglandes beleidigt.

Daß Josi Blatter, der Held der heligen Wasser, ein Mörder sei, will niemand glauben; daß die von St. Peter sich unter die Anführung des verrückten Kaplans stellten, den man als einen gemeingefährlichen Vagabunden kennt, daß sie nach dem Leben eines durch seine Rechtschaffenheit und Schönheit bekannten Mädchens trachten, erfüllt die Mannschaft mit solcher Wut, daß die Führer Mühe haben, sie von unüberlegten Thaten gegen die Dörfler zurückzuhalten.

Morgen wird aber ja schon die gerichtliche Untersuchung walten, bis in die Stadt ist man durch Eusebi und den Pfarrer über den Plan derer von St. Peter unterrichtet und empört.

Wenn den zwei Liebenden ein Leid geschähe, wehe dann dem Dorf.

Nun aber sind die Männer enttäuscht – in St. Peter brennen nur wenige Lichter – wo sie eintreten, treffen sie nur betende Frauen – aber keinen Mann, der Auskunft über die Ereignisse des Tages gäbe.

Endlich greifen sie einen auf – den betrunkenen Bälzi, der in seinem Rausch den schrecklichen Ahornbund verrät. Sie sperren den Gefesselten in die Gemeindescheune.

Da bringen einige von jenen, die mit Eusebi an die Weißen Bretter emporgestiegen sind, auf einer Notbahre von Tannenreisern einen Mann. Die erste falsche Nachricht sagt, es sei Josi Blatter, der erschlagen worden sei, aber es ist der Presi, der machtlos röchelt.

»Wohin mit ihm?« fragen die Träger. – »In mein Haus,« erwidert der erschütterte Garde, und wie er in das Gesicht seines Freundes blickt, da weiß er, daß er einen vor sich hat, der nicht mehr lange leben wird.

Auf dem Weg zu seinen Kindern ist der Presi hilflos zusammengesunken.

Da liegt er nun in der Kammer des Garden, aber er kann nicht sterben: »Mein Traum,« stöhnt er, »mein entsetzlicher Traum – dazu die alte Sage, daß eine Jungfrau bluten muß, ehe St. Peter von der Wasserfron erlöst ist. Garde, seht Ihr nicht – meine arme Bini blutet.«

In schrecklichen Gesichtern lebt der Sterbende.

»Ich kann nicht selig werden, es sei denn, ich wisse meine Bini mit Josi glücklich und daß er unschuldig ist. Nur kein Fluch von mir in ein folgendes Geschlecht. – Seppi Blatter – Fränzi – macht es mir nicht zu streng.«

Der Garde hält die Hand des Bebenden, selbst ein unglücklicher Mann, fühlt er verzehrendes Mitleid mit ihm und tröstet: O Presi – es leben allerdings mächtige Wahrheiten in den alten Sagen, in Träumen wohnt tiefer Sinn, aber glaubt, eine Vatertreue, wie die Eure, vermag die verhängten Schicksale zu brechen. Es wird Euch vor Gott groß angesehen sein, daß Ihr Euer Kind in dem Augenblick, wo Ihr seiner bedurftet, dahin ziehen ließet, wo seine Sicherheit und sein Glück liegen, – daß Ihr die Folgen einer unglücklichen Stunde vor dem erregten Volk selber tragen wolltet, – daß Ihr Eure letzte Kraft dahin wandtet, wo Ihr glaubtet. Eure Kinder hätten Eures Schutzes nötig. Presi, gebt die Hoffnung nicht auf.«

So tröstet der treue Freund feierlich und unablässig und zitternd horcht der Presi.

Der Garde, der es spürt, wie das Leben seines Freundes schwinden will, sagt: »Ihr habt mehr gethan – um sie zu retten, habt Ihr das Haus, das Euch lieb war wie Euer Leben, in Brand gesteckt. Bekennt es nur!«

Aber der Sterbende verzerrt sein Gesicht und knirscht. Mit tiefem Kummer sieht es der Garde: Sein Freund ist noch der alte Presi. Er würde, wenn er seine Kinder nicht mehr sähe, mit einem schrecklichen Geheimnis ins Grab steigen und auf St. Peter den Verdacht der Brandstiftung ruhen lassen.

»Bekennt Ihr,« fragt der Garde, »wenn Josi und Binia unversehrt durch diese Thüre treten?«

Da schluchzt der Presi, aber er schweigt.

»Josi und Binia sind unschuldig – es kann ihnen nichts geschehen – jetzt nicht und vor Gericht nicht – ich werde mit ihnen kämpfen – sie müssen glücklich werden, die so viel gelitten haben!«

So mahnt und tröstet der Garde, und aus seiner vollen Brust strömt der Glaube in die Brust des Presi über, ergebungs- und hoffnungsvoll erwartet er, während seine Pulse schon schwächer und schwächer gehen, die Botschaft von den Weißen Brettern.

Ehe er weiß, wie es sich an den heligen Wassern entschieden hat, kann er nicht sterben.


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