Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X.

Was man in St. Peter erlebte!

Vor einigen Tagen war es gewesen. Da hatte der Pfarrer, der zwischen Tag und Nacht von Hospel kam, im Teufelsgarten ein unheimliches Stöhnen gehört. Er war ihm als Diener des Herrn, der den Satan nicht zu fürchten hat, nachgegangen und hatte Josi Blatter, den Rebellen, gefunden, den man verhungert und erfroren glaubte. Er hatte Anzeige beim Garden, dem Vormund des Burschen, gemacht, und dieser den schwerkranken, blutrünstigen Jungen, der vor Entkräftung nicht mehr gehen konnte, mit einem Wägelchen in seine Wohnung geholt.

Und gestern war ein neues Ereignis gekommen. Der Presi hatte, ohne daß er vorher mit einem Menschen davon gesprochen hätte, fast heimlich und über Nacht Binia aus dem Dorf fortgeschafft. Wohin? – Die Bärenwirtin erzählte den Dörflern, die es hören wollten, sie sei in eine Erziehungsanstalt verreist, wo sie die fremden Sprachen lerne, die man im Verkehr mit den Sommerfrischlern brauche.

»Es ist aber doch seltsam,« sagten die Leute, und sie ergingen sich in allerlei Mutmaßungen, doch ohne die Ursache der plötzlichen Reise zu ergründen. Und heute hatte der Gemeinderat einstimmig beschlossen, daß Kaplan Johannes den Gemeindebann verlassen müsse, da er einem minderjährigen jungen Menschen Unterschlauf gegeben und in der Auflehnung gegen die Behörden unterstützt habe.

Der Pfaffe schlug ein lautes Gejammer an und eilte in alle Häuser, wo er auf Gehör rechnen konnte. »O, der meineidige Rebell. Wem als mir hat es St. Peter zu danken, daß das Dorf noch steht. Ich schwöre es, er hat es an allen vier Ecken anzünden wollen, nur mit den höchsten Formeln habe ich ihm die Hände binden können. Aber wißt, wißt: Durch den Rebellen Josi Blatter wird früher oder später ein Unglück, wie noch keines erlebt worden ist, über das Glotterthal kommen. Ein Alraun hat es mir im Spiegel gezeigt: Die Kirchhofkreuze hat man in St. Peter ausgerissen und die ganze Gemeinde hat geschrieen: ›Laßt uns den Uebelthäter erschlagen!‹ Und der Bären lag in Schutt und Asche.«

Die Zähne der Weiber klapperten, doch die gruseligen Erzählungen retteten den Kaplan nicht. Gerade die ruhigeren Bürger drangen darauf, daß er jetzt mit fester Hand aus dem Thal vertrieben würde: »Er macht das Dorf verrückt,« sagten sie, »denn die Weiber glauben ihm.« Der Presi, der sich selber zürnte, daß er Johannes zu lange hatte gewähren lassen, schickte kurzerhand ein paar Mann nach dem Schmelzwerk, die das Gerümpel des Kaplans aus der Ruine warfen und sie so weit abbrachen, daß sie sich nicht mehr zur bescheidensten Wohnstätte eignete.

Dafür war besonders der Pfarrer dem Presi dankbar – jetzt, in alten Tagen, konnte er ungestört das Wort Gottes säen, der böse Feind, der immer das Unkraut des Aberglaubens dazwischen gestreut hatte, war vertrieben. Zum Dank dafür richtete der alte Priester, der es sonst für klüger hielt, sich nicht unmittelbar in die Angelegenheit der Bauern zu mischen, am Sonntag ein kräftiges Wort an seine Herde und bat darin, daß man sich des wiedergefundenen Josi Blatter, der in aller Verirrung nichts Böses gethan, in Liebe erbarme.

Die einen hingen nun an Kaplan Johannes, die anderen am Pfarrer.

Inzwischen genas Josi.

Eines Tages spürte er das Gesicht Vronis über sich und er hatte einen wunderschönen Traum: Er, Vroni, die Mutter und Binia saßen auf dem Felsen über dem Haus, sie sangen: »Du armer Knabe, schlaf am Meere,« und die goldenen Schwingen der Abendluft brachten ein leises Echo von den Bergen zurück. Plötzlich aber fing es an zu regnen, die heiße Erde kühlte sich, die Blumen erhoben die Häupter, die ganze Welt trank das köstliche Naß. Der Regen kam aber nicht vom Himmel, es waren Thränen Vronis!

Ja, sie fielen auf seine Wange. Er erwachte, sah Vroni, lächelte, dann fielen ihm die Augen müde wieder zu und er träumte weiter.

Als ein wackerer Mann hatte sich der Garde des verlorenen Sohnes erbarmt, der wiedergefunden war. Er schlachtete zwar kein Kalb zu seinen Ehren, aber er beruhigte die Gardin, die über den unerwarteten Familienzuwachs ungehalten war.

»Hätte Fränzi zehn Kinder gehabt, ich glaube, du würdest mir alle zehn an den Tisch bringen – sind wir eigentlich das Waisenhaus von St. Peter?«

Sie war kein unbarmherziges, sondern ein zu Wohlthaten für andere geneigtes Weib, das keinen Vorwurf der Härte auf sich kommen ließ, aber Josi litt sie nicht wohl. Seit man ihn gereinigt und ihm das Haar geschnitten hatte, war er in aller Verelendung, mit seinem blutroten vernarbenden Riß über die Wange, der hübschere Bursche als Eusebi. Und doch hätte sie auf der Welt nichts Lieberes gehabt als einen eigenen schönen Sohn, als ein ganzes Haus voll schmucker Kinder, Knaben und Mädchen. Heimlich neidete sie nicht nur alle Frauen, die hübsche Kinder besaßen, sondern auch der Anblick fremder schöner Jugend bereitete ihr Herzeleid.

»Aber Frau, siehst du nicht, wie Eusebi wächst und erwacht? Nimm den Segen nicht mit unchristlicher Rede von ihm. Ich habe eine Hoffnung, die ist so groß, daß ich sie nicht verraten darf,« mahnte der Garde.

»Thun wir nicht genug an Vroni?« fragte die Frau.

»Was genug ist, weiß der Herrgott – ich meine, bis er wieder ganz gesund ist, bleibt der arme Bursche da.«

Murrend fügte sich die stolze Gardin.

Vor dem Haus saß Josi auf dem Dengelstein, er sonnte die sich kräftigenden Glieder und ein unsägliches Glück summte in seinem Kopf. Der Garde hatte sehr ernst und väterlich mit ihm geredet. Alles hatte er ihm bekennen müssen, was er das Jahr lang als Rebell erlebt hatte. Dann hatte er ihm in die Hand versprochen, daß er sein Leben lang nie mehr mit Kaplan Johannes verkehre und dem Presi nichts nachtragen wolle.

»Nein – nein,« versicherte Josi, er war ja überglücklich, daß er durch den Streich des Presi wieder unter die rechten Menschen gekommen war.

So viel war der grausame Hieb schon wert.

Da schlarpte der letzköpfige Pfaffe heran und redete dem Burschen, der in einem hübschen Kleid aus einem alten Sonntagsgewand des Garden steckte, schmeichelnd zu: »Du liebes Söhnchen, komme mit mir – bei Fegunden baue ich eine Einsiedelei – du bist es mir für den Winter schuldig, daß du mir sommersüber Krystalle suchst. Im Herbst will ich dich loslassen.«

»Gebt Euch keine Mühe, Johannes, mit Euch bin ich fertig,« erwiderte Josi, den Blick verachtungsvoll von seinem Peiniger wendend.

Da wütete der Schwarze gräßlich: »O du räudiges Schaf – du Lügner – du teuflischer Judas. – Deinetwegen werde ich aus St. Peter vertrieben – Du Satansaas! – du vom Teufel Gezeichneter – du ekliger Dämon! – ich weiß es, du liebst den Balg des Presi noch, aber auf des Teufels Großmutter reite ich, wenn ihr die Hände nacheinander streckt, zwischen euch; meine weiße Seele werfe ich dafür hin, daß ihr nie zusammenkommt.«

Josi lächelte über die Ohnmacht des Tobenden: »Thut, so wüst Ihr wollt, ich glaube nicht an Eure schwarze Kunst.«

Mit entsetzlichen Flüchen ging der Kaplan. Josi lächelte immer noch verträumt in sich hinein. In die Schläfrigkeit der Genesung gaukelten die lieblichsten Bilder: Binia und Vroni! – Vroni und Binia! Es war ihm, als habe die Begegnung mit Binia im Teufelsgarten allen seinen Gedanken eine andere Richtung gegeben, sein Wesen mit Licht übergossen. Wie ein Engel war sie in den dunklen Kreis seines Elends getreten, er schämte sich, daß er sie so viele Jahre in seinem Herzen nie anders als die »Giftkröte« genannt hatte. Er sann allerlei schöne Namen aus für sie. Glich sie nicht jenem leuchtenden Krystall, den man Tautropfen nennt?

»Tautröpfchen, Tautröpfchen, du liebes, wo bist du jetzt?«

In seiner Brust brannte das Mitleid mit der, die seinetwegen aus dem Thale hatte gehen müssen.

Der Garde hatte ihn zwar eindringlich gemahnt, daß er sich jeden Gedanken an Binia aus dem Kopf schlage, das sei überspanntes Zeug, aber ihm klang es immer in den Ohren: »Wenn du keinen Fetzen auf dem Leib hättest und noch zehnmal mehr Läuse auf dem Kopf – o Josi – ich liebte dich doch.« Das rauschte wie Orgelton durch seine Sinne; wenn es auch der Garde nicht ausdrücklich gewünscht hätte, so hätte er es schon um Binia gethan: er sagte keinem Menschen, woher der häßliche rote Strich auf seiner Wange kam.

Dafür mußte er es freilich dulden, daß ihn jeder, der des Weges ging, mit neugieriger Scheu betrachtete und die Leute von St. Peter es einander zuraunten: »Seht, der Kaplan Johannes hat doch recht, der Teufel hat den Rebellen gezeichnet, damit er ihn kennt, wenn er ihn holen kann.«

Die Geschichte machte dem Garden schwerer als Josi selbst. Mit gelassener Ruhe suchte er für den Burschen bei rechtschaffenen Leuten einen neuen Dienst, erhielt aber überall ausweichenden Bescheid: »Ja, als er zu Bälzi kam, hätten wir ihn auch genommen, aber jetzt – man weiß nicht, was er in dem Jahr aufgelesen hat und einem ins Haus bringen würde. Und hat er nicht St. Peter anzünden wollen?«

Doch forderte wenigstens niemand mehr, daß man ihn ins Gefängnis werfe. Den breiten, schwerfälligen Garden aber hielt das Dorf für einen gutmütigen Narren.

Der obdachlos gewordene Kaplan Johannes ging erst aus der Gemeinde, als man ihn bei knappstem Futter einige Tage eingesperrt hatte. Sein Abschied waren gräßliche Flüche auf den Presi: »Holt der Satan nicht ihn,« schwor er mit rollenden Augen, »so holt er sein Kind.«

Der Presi hatte aber genug Arbeit mit den Fremden, die wieder nach St. Peter kamen und mit fröhlichem Lachen durch das Bergthal schweiften – Schweizer, Deutsche, Franzosen und – der erste Engländer. Auf diesen war er besonders stolz, erst die Engländer gaben seiner Meinung nach einer Sommerfrische die Vornehmheit, die man sich wünschte.

Ein Lord war nun freilich George Lemmy nicht, aber – was fast ebensoviel bedeutete – ein Ingenieur der britischen Regierung in Indien.

Er war bergsteigermäßig gekleidet, trug Nagelschuhe, grünwollene Strümpfe mit gewürfeltem Muster, graue Kniehosen, graue Jacke und grünen Filz. Er war ein Dreißiger mit blondem, kurzgeschnittenem, zugespitztem Bart, gelblichem, ausgemergeltem Gesicht, prachtvollen Zähnen, ein Mann von beinahe schwächlichem Körperbau, aber von überraschender Energie des grauen Auges und der Haltung. Er wußte immer genau, was er wollte, und setzte es mit einer gewissen Schärfe durch. Und als der Presi die wissenschaftlichen Apparate sah, die sich Georg Lemmy nachführen ließ, galt es ihm für ausgemacht, daß er ein Besonderer sei.

»Nun, Herr Bärenwirt, hätte ich gern einen vertrauenswürdigen Mann oder Burschen, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, als Träger und Begleiter.« Der Engländer sprach sein Deutsch gut, wenn auch mit stark englischer Betonung.

Der Presi stellte ihm den lustigen Thöni Grieg zur Verfügung. George Lemmy pfiff eine Melodie vor sich her und maß den Burschen mit einem scharfen Blick: »Well, ich will ihn prüfen!« Aber am dritten Tag kam er wieder: »Ich mag Thöni nicht, er schwatzt mir zu viel, er ist eingebildet wie ein Hahn und schwindelt, daß die ganze Geographie dieser Gegend ins Wanken kommt.«.

Da machte der Presi ein langes Gesicht: Was verstand der frisch angekommene Engländer von der Gegend? Er wagte einige Einwendungen, man sei mit Thöni bis jetzt immer zufrieden gewesen, der Ingenieur aber schlug seine Karten auf und erklärte dem Presi die Aufschneidereien Thönis mit Heftigkeit.

Der Presi stand und that so, als ob er auch etwas von den Karten verstände, und seufzte verlegen.

»Ich will mir selbst einen Mann suchen.« Damit klappte der Ingenieur die Karten zusammen. Er hatte sich beim Presi in einen großen Respekt gesetzt, Thöni aber, der sonst so aufgeblasene junge Herr, schlich herum wie ein gezüchtigter Hund. Er wußte es schon, wie oft er die Fremden mit den tollsten Angaben beschwindelt hatte. Jetzt war er an den Unrechten geraten. Und der Presi sah's kommen: Sein erster Engländer fand in St. Peter keinen, der mit ihm ging – er reiste wieder ab.

Nein, nach einer Stunde kehrte der Ingenieur zurück, pfiff vor sich her und lachte befriedigt: »Ich habe ihn schon – habe ihn schon« – und rief Josi Blatter, der etwas zögerte, vor dem Presi zu erscheinen, lustig zu: »Komm, zeige dich, Boy!«

»Teufel auch,« knirschte der Bärenwirt leis, und als er die rote Narbe auf der Wange des Burschen sah, ging ihm doch ein Stich durch die Brust.

»Josi, ist der Garde auch einverstanden, daß Ihr Bergführer werdet?«

Josi war über zweierlei verwundert, über den freundlichen Ton, den der Presi anschlug, und darüber, daß er ihn mit »Ihr« anredete. Er stotterte es beinahe: »Ja, ich finde halt sonst nichts zu thun.«

So war's! Mit schwerem Herzen hatte der Garde, als die Augen des Jungen hoffnungsvoll aufflammten, eingewilligt, daß er mit dem Fremden gehe. Nur aus bitterer Verlegenheit, nur weil sich niemand des Burschen annehmen wollte, weil die Gardin stets über den ungebetenen Kostgänger murrte, obgleich der kaum Wiedergenesene überall tüchtig zugriff, wo er etwas zu thun sah.

»Was denkt das Dorf? – Wohl, er, er, der Garde, helfe mit am Hudligwerden!«

Als der Presi den Bescheid des Garden hörte, lächelte er sonderbar befriedigt, aber Josis Gesicht verfinsterte sich, er erriet, was sein Gegner dachte, und der Engländer mit den stechend klugen Augen merkte, daß die beiden übers Kreuz standen. Lustig sagte er: »Bitte, besorgen Sie meinem Boy ein Nest, er kann, wo er bis jetzt gewohnt hat, nicht bleiben. Haben Sie im Bären einen Schlupf für ihn?«

Das war nun dem Presi doch zu viel. Er ging zu den armen Leuten, die in Josis Vaterhaus wohnten, und mietete dort für den Burschen das Dachkämmerchen, in dem er zu Lebzeiten seiner Eltern geschlafen hatte. Ein saurer Gang, aber der Presi wollte es mit dem Garden, der das Häuschen und den Acker verwaltete, nicht ganz verderben und der grollte ihm wegen Josi schwer.

Als er zurückkam, meinte Thöni eifersüchtig: »Ihr werdet es doch nicht zugeben, daß der Rebell Führer wird!«

Da schnauzte ihn der Presi an: »Ich glaube, daß der eher auf einen grünen Zweig kommt als du.«

Thöni hatte seine Schwächen. Das wußten nicht nur der Bärenwirt und seine Frau, sondern bald auch die Gäste. Die Damen, die in der Sommerfrische waren, trieben häufig ihren heimlichen Ulk mit dem fröhlichen Jungen, indem sie seine kleinstädtische Galanterie herausforderten und dann mit ihrem Spott über ihn fielen.

Das brachte den Wirtsleuten manchen stillen Aerger und oft donnerte der Presi: »Herrgott, Thöni, so ziehe doch einmal die Bubenschuhe aus. Du bist ja der Narr aller.«

Dann stellte sich der schöne Thöni einige Tage beinahe hochmütig gegen die Fremden, aber er erlag ihren Schelmereien immer wieder.

Jetzt merkte er erst, wie wild der Presi über seinen Mißerfolg bei dem Engländer war, und nachdem er zuerst mit dem größten Hohn auf Josi Blatter gesehen, haßte er ihn. Eines nur ließ ihn den Engländer leicht verschmerzen, die Lasten, die er dem Rebellen zu tragen aufbürdete!

Jeden Morgen erwartete Josi seinen Ingenieur und schleppte ihm die Instrumente, insbesondere den photographischen Apparat, nach. George Lemmy photographierte, indem er dazu fortwährend pfiff. Berge, Häuser, Bäume, Viehgruppen, spielende Kinder. Selten aber sprach er ein überflüssiges oder gar ein freundliches Wort zu seinem Gehilfen, doch gab es in seinem Verkehr so viel Neues zu sehen, daß Josi das Leben überaus kurzweilig erschien. Er lernte die Instrumente handhaben und die Furcht, sein Herr würde ihn eines Tages entlassen, verschwand vor dem beglückenden Gefühl, daß er ihm nützlich sei.

Freilich, hart genug ließ es ihm der Ingenieur werden, doch just, wenn er mit den letzten Kräften noch aushielt, indem er an die guten Vorsätze dachte, die er in der Einsamkeit seines Rebellentums gefaßt hatte, lächelte sein Herr: »Boy, ich glaube, wir arbeiten gut zusammen.«

George Lemmy war einer von denen, die mit sich selbst und anderen erst zufrieden sind, wenn sie von der Mühe des Tages am Abend zusammenbrechen.

Eines Tages drohten ihm die von St. Peter, sie würden ihm die Bildermaschine zusammenschlagen, wenn er sie und ihre Häuser damit nicht unbehelligt ließe; nun war er wütend über die »Pfahlbauern«, wie er sie nannte, und sein Zorn wuchs noch, als der Presi, der »Oberpfahlbauer«, erklärte, er könne ihn nicht schützen, man müsse die von St. Peter nehmen, wie sie seien.

Abreisen! – Allein George Lemmy war verliebt in das Glotterthal und wandte nun seine Aufmerksamkeit den heligen Wassern zu. Ihretwegen war er ja eigentlich ins Thal gewandert.

Er war von Bräggen im Oberland nach Hospel gekommen und hatte dort zufällig ein überraschendes Volksbild erlebt. Ein Ausrufer gab unter Trommelschlag den Leuten, die aus der Kirche strömten, bekannt, daß die Versteigerung eines »Baches« stattfinde. Neugierig schaute er zu, wie sich die Bauern in ihren halbleinenen Hosen und roten Westen sammelten, wie die Frauen, Mädchen und Buben sich in ihren malerischen Trachten an die blumenumsponnene Kirchhofmauer lehnten, auf der Straße der Präsident, der Garde und der Schreiber von Hospel Stellung nahmen und einen von den hundert Fäden, in die sich die heligen Wasser beim Flecken teilen, für den Sommer versteigerten. Sie schlugen ihn dem Meistbietenden zu, der damit das Recht erlangte, den Faden Woche um Woche während drei Tagen zu benutzen. Jedes Angebot malte der Schreiber mit großen Zahlen an ein Scheunenthor, damit jedermann ein klares Bild vom Gang der Steigerung erhalte, und aus dem Eifer, mit dem die Bauern boten, spürte der Ingenieur, wie wichtig ihnen der Besitz des Wassers sei. Bei der Gasttafel sprach er mit dem Kreuzwirt darüber: »Warum versteigert man das Wasser nur für die ersten Tage der Woche?« – »Nach einem alten Gesetz gehört es Donnerstag, Freitag und Samstag jedermann, also den Armen.« Und sie redeten von den heligen Wassern so lange, bis den Ingenieur eine große Neugierde dafür gefaßt hatte.

Jetzt studierte er sie. Er maß und photographierte ihren Einlaß am Gletscher, folgte den Känneln, bestimmte an vielen Stellen zwischen St. Peter und Hospel die Wärme des Wassers, merkte sich die Gefälle, die Wassermengen, die durchflossen, verpfropfte zahlreiche Wasserproben und zeichnete draußen in den Reben von Hospel die geeichten eisernen Schaufeln und Scheiben, mit denen die Winzer die Verteilung des Wassers besorgen.

Josi verstand nicht alles und sah den Zweck nicht für alles ein, was der Ingenieur that, aber er spitzte die Ohren und hörte es gerne, wenn George Lemmy über die heligen Wasser sprach.

Der Engländer forschte nach hundert kleinen Dingen, und wenn ihn die anderen Gäste foppend fragten, ob er denn nicht mehr von der großen Klapperschlange loskomme, antwortete er lachend: »Lassen Sie mich. Sie ist ein merkwürdiges Stück Bauerngenie, ein Riesenlaboratorium der Natur. Hier meine chemischen Ergebnisse: Die Leitung führt in ihren Wassern jede Woche hundert Zentner Schlamm, darunter zehn Pfund reine Phosphorsäure, sieben Pfund Kali und hundertfünfzehn Pfund Bittererde. Stattliche Düngerfabrik, was? Und der analytischen Wertung entspricht die praktische Erfahrung. Drüben am Hochpaß haben Sie die Wasserfuhre der Lissa. Als vor zwanzig Jahren ein Erdbeben sie auf weite Strecken zerstörte, konnte, wie amtlich belegt ist, die Berggemeinde Zuenzirbeln bald nur noch fünfzig Stück Vieh erhalten, während vorher zweihundert reichliche Weide auf ihrem Gebiet gefunden. So giebt es genug Nachweise, daß die sonnenwarmen Gletscherwasser den Ertrag des Bodens verdrei- und verfünffachen. Lassen Sie also die Heligen ruhig klappern – ich erwäge sogar ernsthaft, ob ich der britischen Regierung nicht vorschlagen will, daß sie vom Himalaja herunter in benachbarte Distrikte Indiens ähnliche Leitungen baue.«

Wörter, die Josi nie zuvor gehört, schwirrten ihm im Verkehr mit dem Ingenieur um den Kopf und die heligen Wasser schienen ihm, seit sich George Lemmy damit beschäftigte, selber viel wunderbarer als je zuvor.

Eines Tages schritt er mit George Lemmy den schwindligen Weg über die Kännel an den Weißen Brettern, und mit Staunen sahen Einheimische und Fremde die beiden Akrobaten an den schimmernden Wänden.

Josi war es ein unvergeßlicher Tag. Als er an der Stelle stand, wo sein Vater gestürzt war, pochte sein Herz in der Brust, und als sie in der Mitte des schrecklichen Pfades, das in leichten Dunst getauchte Thal tief unter sich, eine Viertelstunde ruhten, da ging ihm der Mund über und er erzählte dem Ingenieur das Leiden und Sterben des Vaters.

George Lemmy sagte auffallend wenig dazu, er war und blieb der trockene Engländer. Aber Josi fühlte doch seinen Blick der Teilnahme. Erst als sie aufstanden, meinte Lemmy fast scherzhaft: »Josi, neunzehnjähriger Boy, werde Ingenieur und führe die Leitung sicher durch die Felsen. Es giebt jetzt in unserer Wissenschaft Mittel genug, daß man auch diese Schlange zähmt. Nicht wahr, das wäre ein Streich für die Pfahlbauer von St. Peter, wenn es keine Wasserfron mehr gäbe.«

Ein jähes Feuer flammte aus den Augen Josis.

Er schwieg, aber vor Erregung konnte er auf der zweiten Hälfte des schmalen Weges fast nicht gehen.

Als sie am Abend ins Dorf zurückkamen, schlang Vroni die Arme um den Bruder: »O, was die Leute sagen! Weil du unnötig über die Kännel an den Weißen Brettern gegangen bist, so habest du für die nächste Wassertröstung das Los auf dich gezogen.«

Da lächelte Josi kühl geheimnisvoll: »Die Leute sagen, wenn der Tag lang ist, viele Thorheiten – aber ich glaube selbst, daß ich einmal wie unser Vater selig an die Weißen Bretter steigen muß.«

Vroni sah ihn erbebend an: »Josi, du bist früher ein so artiger lieber Bub gewesen, und jetzt bist du ein so Besonderer worden, so ein Geheimnisvoller, daß es mir bald wie den anderen Leuten geht, daß ich dich zu scheuen und zu fürchten anfange.«

»Sei nicht so närrisch, Vroneli,« schmeichelte Josi und blickte zufällig nach den Firnen der Krone.

»Am Ende gehst auch noch dort hinauf, wo die armen Seelen hausen! Josi! Versprich es mir, daß du es nicht thust. Denke an den seligen Vater, denke an die selige Mutter!«

Je inniger das Mädchen flehte, um so finsterer zog der Bruder das Gesicht: »Alle Tage denke ich an sie, aber wenn George Lemmy es wünscht, so gehe ich mit ihm auch auf die Krone. In jedem folge ich ihm.«

»Dann stürzest du dich ins Unglück,« jammerte das Mädchen. Josi aber schritt mit einem nachdenklichen Lächeln in sein Nachtquartier.

»Was man doch um einen so lieben Bruder für Kummer hat!« Vronis schöne blaue Augen wurden trüb. Als indessen der Anteil des fremden Ingenieurs auch stark für die Sagen erwachte, die um die heligen Wasser gingen, und ihn Josi, der im Erzählen nicht besonders gewandt war, zu ihr führte, da hatte sie ihre helle Freude an dem aufmerksamen Zuhörer.

Bei Vroni saß der Fremde an der vollen Quelle. Dem Bruder zuliebe besiegte sie die Scheu vor ihm, und dem Ingenieur gefiel das blonde schöne Mädchen, das seine Geschichten in der vollklingenden alten Sprache des Thales erzählte, ausnehmend gut.

Er behandelte es mit Auszeichnung. »Ein Brigante wie du bist, hat so ein Edelweiß zur Schwester!« scherzte er zu Josi.

»Und also fügt es Brauch und Gesetz,« erzählte sie mit errötenden Wangen, die Hände über das Knie geschlagen, »wenn ein Jungknabe ein Mädchen lieb hat und will mit ihm ein eigenes Feuer machen, so mag er sich beim Garden melden, daß er ihm einen Sommer lang in der Bestellung der heligen Wasser zudiene und in der Wasserpflicht erfahren in den Stand des Hausvaters trete.

»Wenn ein Jungknabe, der Knechtlein oder sonst geringen Standes ist, ein Mädchen liebt und es vom Vater nicht erlangen kann, mag er die Liebe dem Garden darlegen und glaubhaft darthun, daß die Jungfrau einer Seele mit ihm sei, und legt er vor dem Garden und der Gemeinde das Gelübde ab, daß er beim nächsten Leitungsbruch an die Weißen Bretter steige, so soll der Gemeinderat Freiwerber für ihn werden. Will aber der Vater des Mädchens nicht einwilligen, so sollen die Nachtbuben und wer will unstrafbar den Lauf haben, ihn und sein Haus zu verhöhnen und dem Werber zu helfen, bis der Vater die Jungfrau dem Jungknaben giebt.«

Josi brannte das Gesicht, unruhig vor innerer Bewegung hörte er zu, obgleich er die Satzungen schon kannte. Vroni sah es wohl. »Wegen Binia,« dachte sie.

Die Freude des Ingenieurs an Josi wuchs und er befreundete sich auch mit dem Garden.

Eines Tages erfuhren die Geschwister aus dem Gespräch der beiden, wer George Lemmy eigentlich sei. Er habe zuerst, erzählte er, an einer Hochschule in England, dann zwei Jahre in der deutschen Schweiz studiert und auf sommerlichen Exkursionen die Bergwelt lieb gewonnen. Später sei er nach Indien gegangen, wo schon sein Vater Kolonialbeamter gewesen, und dort baue er im Auftrag der Regierung Straßen und Eisenbahnen. Das Klima sei aber unzuträglich, und nachdem er fünf Jahre in dem heißen Land gearbeitet habe, sei er genötigt gewesen, längeren Urlaub zu nehmen. Den Sommer verbringe er jetzt im Gebirge, doch nicht bloß, um die Schönheiten des Landes zu genießen, sondern auch um einen oder zwei tüchtige Bergführer anzuwerben. Er brauche die Leute als Pioniere beim Bau von Straßen, die man bedürfe, um die kleinen wilden Gebirgsvölker, welche die indische Nordgrenze unsicher machen, besser bekämpfen zu können. Ein Führer, den er von früher her kenne, sei schon geworben, Felix Indergand zu Braggen, und im Herbst wollen sie gemeinsam nach Indien reisen.

»Felix Indergand kenne ich von manchem Markt, das ist ein rechtschaffener und einsichtiger Mann,« sagte der Garde. »Da habt Ihr einen Tüchtigen geworben.«

»Und wenn ich nun auch den zweiten hätte,« antwortete Lemmy.

Josi taumelten die Sinne, Tag und Nacht dachte er nichts anderes, als ob wohl George Lemmy nicht ihn einladen würde, mit ihm nach Indien zu gehen. Was würde er dann thun? Ein freudiges »Ja!« würde er ihm zujubeln. St. Peter war für ihn doch kein Boden mehr und kein Glück. Was sollte er im Dorf beginnen, wenn der Ingenieur wieder abgereist war?

Vroni ahnte die Pläne des Bruders. Als Josi eines Tages freudvoll zu ihr gestürmt kam, fragte sie erschreckt: »Hat dich Lemmy nach Indien angeworben, daß du so rote Wangen hast?«

»Nein,« erzählte er hastig, »aber weißt du, wo Binia ist, ich weiß es! Der Knecht des Fenkenälplers war mit einer Viehherde im Welschland. Da hat er sie gesehen, wie sie mitten unter Klosterschülerinnen ging. Das Kloster heißt Santa Maria del Lago und liegt an einem schönen See. Denke, er hat mit ihr geredet, aber es war eine Nonne dabei – Bini läßt dich und mich grüßen!«

Josis Augen strahlten, der Gruß war für ihn eine Welt voll Sonne.

Nun hoffte Vroni, der Gedanke an Binia werde Josi in St. Peter zurückhalten, aber – blieb er, so stieg er wohl bei der nächsten besten Gelegenheit für Binia an die Weißen Bretter und fiel wie der Vater zu Tode.

Die Kunde, daß Binia im Kloster Santa Maria del Lago jenseits des Hochpasses sei, erregte im Dorf große Verwunderung, namentlich als man von Hospel aus erfuhr, die besondere Thätigkeit der Nonnen der frommen Anstalt sei die Besserung solcher Mädchen aus wohlhabenden Familien, die sich irgend einen leichtsinnigen Streich hatten zu schulden kommen lassen oder auf deren Lebenswandel ein Makel lag. Fast mit Schaudern sprach man von den grausamen Mitteln, welche die frommen Damen anwenden, um ihre wilden Zöglinge zu zähmen, die Dunkelzelle, das genagelte Scheit, auf das die Sünderinnen so und so viel Stunden knieen müßten, den Hunger, das Nichtschlafenlassen, das Bespritzen mit kaltem Wasser.

Um so mehr erregte der Aufenthalt Binias an diesem Ort Aufsehen in St. Peter. »Was hat sie verbrochen?« – Darüber grübelte man, und dann löste die alte Susi in Tremis den erstaunten Dörflern den Knoten: »Binia und Josi Blatter haben vom Kaplan Johannes den bösen Segen empfangen, daß sie nicht voneinander lassen können. Jetzt wird sie im Kloster enthext.«

Da man nichts Besseres wußte, so glaubte man der Erzählung der Alten. Um so mehr, als der Kaplan, der von seinem Fuchsbau an der Berghalde von Fegunden aus immer etwa heimlich nach St. Peter kam, die Thatsache nicht in Abrede stellte, sondern nur geheimnisvoll lächelte und die lodernden Augen vielsagend spielen ließ.

Nun sah man den Rebellen, der auf einer Wange das Zeichen des Teufels trug, erst recht mit scheelen Blicken an.

Dem Presi lag es schief, daß der Aufenthalt Binias bekannt geworden war, ein Schatten fiel damit auf die Hausehre, obgleich es um das Kloster nicht so schlimm stand, wie die Dörfler erzählten. Wäre er nur den Warnungen des Kreuzwirtes in Hospel gefolgt! Von Anfang Sommer bis jetzt war in quälender Gleichförmigkeit die Frage: »Wo ist denn Ihre alpige Rose, Ihr Herzensmädchen?« Tage um Tage, Stunde um Stunde wiedergekehrt. Dazu Ausdrücke des Bedauerns, die man nur mit Lügen beantworten konnte. Und ihm selbst fehlte sie, die zärtliche Maus, das Vögelchen mit den dunklen Augen, in denen eine so wunderliche Welt schimmerte. Die Berichte der Priorin von Santa Maria del Lago über Binia lauteten auch nicht sonderlich. Sie bete alle Tage zwei Stunden mit einer Schwester für ihre Besserung, aber das Kind sei klug wie eine Schlange, so weit es ohne Strafe durchschlüpfen könne, sei es immer bereit, sich über die Nonnen lustig zu machen. Und im Hintergrund der Briefe versteckt sah der Presi einen frommen Drachen, der auf eine Novize lauerte wie der Teufel auf eine Seele.

Nein – nein, siebenmal nein! Keine Braut des Himmels wollte er, nein, er selber wollte sich freuen an seinem lieben Vogel, an dem zärtlichen Kind.

Eher als den Nonnen gäbe er sie Josi Blatter, dem Rebellen.

Aus Empörung über die sonderbare Liebeserklärung, deren Zeuge er im Teufelsgarten gewesen war, hatte er Binia in der Meinung fortgeschafft, daß sie das siebzehnjährige Köpfchen schon breche, wenn sie den furchtbaren Ernst seines Willens sehe. Das war wohl nötig, denn Binia und Josi Blatter kamen jetzt in das Alter, wo der Ernst des Lebens beginnt.

Dieser verfluchte Rebell! Er, den man schon tot gesagt hatte, lebte so gesund. Jeder andere wäre in dem furchtbaren Jahr der Einsamkeit zu Grunde gegangen, aber gerade er nicht, sondern er ging jetzt so tröstlich mit seinem Engländer, als hätte er nie etwas anderes gethan. Und merkwürdig, dachte der Presi, von dem Peitschenhieb, den er auf seine Wange geführt, weiß im Dorf kein Mensch ein Wort. Der Bursche schwieg auf alle Fragen, woher die Narbe komme, wie das Grab, und ertrug es mit lachendem Mund, wenn die Leute sagten, der Hinkende habe einen Hufstreich in sein Gesicht geführt.

Dieses Benehmen verwirrte den Presi. Ihm war manchmal, er müsse Händel mit dem Burschen anfangen, der schlank und gerade wie ein Bolz heranwuchs, das Nächstliegende mit klugem Auge erfaßte, seine Tagesarbeit mit zäher Ausdauer that und sich sonst nicht um die Welt scherte. Den könnte man, dachte er, töten und begraben, am Morgen aber stände er wieder da in blühender Lebendigkeit und schaute, wenig redend, doch alles überlegend, mit seinem gescheiten Gesicht um sich.

Ausnehmend gut gefiel Josi der Frau Cresenz. »Merkt Ihr nicht, Präsident, daß das einer ist, der einmal euch allen in St. Peter über den Kopf wächst? Ich würde den alten Span, an dem nichts ist, ruhen lassen und zöge den Vorteil gegen mich. Stellt Josi Blatter als Führer ein, wir machen Staat mit ihm.«

»So, Präsidentin!« donnerte darauf der Bärenwirt, »dürfen mir die Gäste nicht mehr selber sagen, was sie für thörichte Wünsche aushecken – müßt Ihr ihnen als Fürsprecher dienen? Gott's Wetter, da wird kein Heu dürr. Wo habt Ihr den Verstand?«

Eines Tages aber entstand in St. Peter ein großer Auflauf von Einheimischen und Fremden. Auf der Spitze der Krone sah man zwei schwarze Punkte – zwei Bergsteiger! »Der Engländer und der Rebell,« rieten die Leute gleich, »es sind gewiß keine anderen.« Was im Thal an Fernrohren aufzutreiben war, richtete sich auf den in erhabener Einsamkeit schwebenden Gipfel des reinen Firns. Seit vor fünfunddreißig Jahren jener Naturforscher ins Thal gekommen und von der Krone über die Schneelücke nach St. Peter niedergestiegen war, hatte niemand mehr die wunderbare Spitze betreten. Von den Schleiern der Armenseelensage geheiligt schien sie den Menschen nichts weiter zu sein als ein göttlicher Altar des Lichtes, auf dem der Morgen und der Abend ihre Fackeln anzündeten, die Sterne in bleicher Mitternacht ruhten und arme Seelen sich büßend auf die Freuden des Paradieses vorbereiteten.

Jetzt war der Bann gebrochen. Die Fremden jubelten, sie schwangen den Kühnen zum Gruß mächtige Tücher und sahen durch die Ferngläser, wie die zwei Männchen auf der Spitze die Grüße erwiderten. »Ein patenter Bursche, dieser Boy des Ingenieurs!« widerhallte es im Bären.

Die Frauen von St. Peter aber jammerten und die Männer tobten: »Jetzt ziehen die armen Seelen aus, das Dorf muß untergehen, wäre doch der Rebell im letzten Winter erfroren, der bringt Unglück über das ganze Thal.«

Die furchtbare Erregung wuchs, einzelne, die meinten, die Strafe des Himmels breche sofort herein, rüsteten ihre Siebensachen zum Auszug, andere stürmten zur Kirche: »Läutet die heiligen Glocken, damit die armen Seelen bleiben.«

Der Pfarrer, der nicht an die Abgeschiedenen im Eise glaubte, erhob Einsprache – umsonst – die Glockenklänge rauschten durchs Thal und vermehrten die Verwirrung.

»Haben die von St. Peter schon wieder einen Heiligen zu verehren, den niemand kennt als sie?«

So fragten die Fremden verwundert, der Presi und Frau Cresenz aber gaben ausweichenden Bescheid. Vroni weinte herzlich: »Nun ist er doch gegangen!«

Als die beiden Bergsteiger in der Abenddämmerung todmüde, aber mit erhobenen Häuptern in das Dorf schritten, da ballten sich die Fäuste und die Zurufe der erzürnten Dörfler schwirrten an Josis Ohr: »Du Teufelshund – wärst du doch im letzten Winter beim Kaplan verreckt!«

Und hinter den Häuserecken hervor flogen die Steine um die Köpfe der beiden.

Der Presi und der Garde gingen ihnen entgegen, beruhigten die schimpfenden Älpler und Bauern, und ihrem Ansehen gelang es, die Tollkühnen, ohne daß sich die von St. Peter an ihnen vergriffen, in den Bären zu führen.

Da bereiteten die Gäste, die eben an der Tafel saßen, den Bergsteigern einen begeisterten Empfang – besonders Josi.

George Lemmy nahm den Vorfall von der fröhlichsten Seite, mit dem Humor seiner Rasse fand er, es sei merk- und denkwürdig, ein solches Abenteuer erlebt zu haben.

»Bub! – Unglücksbub! – was hast du angestellt? – du bist ja deines Lebens nicht mehr sicher im Dorf, komm morgen zu mir, wir wollen beraten, was zu thun ist,« knurrte der Garde und ging, nachdem er noch mit dem Presi abgeredet hatte, daß Josi zur größeren Sicherheit im Bären schlafe, mit tiefbekümmertem Gesicht.

Seine Worte klangen Josi, obgleich ihn die Kletterei fast zu Tode erschöpft, die ganze Nacht in den Ohren wie die Posaunen des Gerichts.

»Vater – Mutter,« jammerte er in sich hinein, »was habe ich thun können, als mit meinem Herrn gehen.« Mit zerschlagenen Gliedern und matten Sinnen erschien er am Morgen vor dem Ingenieur.

»Ich komme mit dir zum Garden!« lachte der gutgelaunt.

Der Presi sah, auf der Freitreppe stehend, den beiden nach. Er wollte sich wegen der kühnen Bergbesteigung in einen großen Zorn auf Josi Blatter hineinreden, aber es gelang ihm nicht, der Mut des Burschen zwang ihn zu heimlicher Hochachtung vor ihm und er dachte an das Wort der Frau Cresenz: »Das ist einer, der euch allen in St. Peter über den Kopf wächst,« er dachte an Binia – und seufzte.

Am Nachmittag kam der Garde in den Bären und saß mit dem Presi lange im oberen Stübchen.

»Ich habe mit dem Pfarrer geredet,« berichtete der Garde, »er will die Leute, indem er von Haus zu Haus geht, zur Ruhe mahnen und am Sonntag einen Spruch, daß der Glaube an die armen Seelen im Eis eine wahrer Frömmigkeit widersprechende Thorheit sei, in die Predigt flechten. Ich aber mache mir eine Todsünde daraus, daß ich Josi mit dem Ingenieur habe gehen lassen.«

»Er ist ein Satan, der Rebell,« lachte der Presi, »ich fürchte, er ist bald nicht mehr zu bändigen – das kommt, weil Ihr ihn immer beschützt.«

»O, ich habe ihm heute vor dem Ingenieur das Kapitel verlesen wie noch nie, aber nicht mit gutem Gewissen, Ihr und ich, wir sind verantwortlich für ihn und sein Thun. – Ihr von lange her – ich, seit ich ihm gestattet habe, daß er mit George Lemmy gehe. – Im übrigen giebt es eine Änderung im Leben Josi Blatters – ladet auf den nächsten passenden Tag den Gemeinderat ein. – George Lemmy, der Ingenieur, will ihn mit nach Indien nehmen. Wie ich den Burschen so recht in die Zange gefaßt habe, hat mich der Engländer lachend unterbrochen: ›Unnötige Mühe!‹ eine Lobrede auf Josi gehalten und bestimmt erklärt: ›Ich nehme ihn mit mir!‹«

»Nach Indien!« Der Presi schoß auf. Hundert Gedanken kreuzten sich in seinem Kopf, am vernehmlichsten der: »Endlich von einem Alpdruck erlöst!

Er beruhigte sich aber und sagte: »Das will doch erwogen sein!«

»Lemmy hat mir versprochen, daß er einen rechtschaffenen Mann aus ihm mache – einen Ingenieur, so weit es Josis geringe Schulbildung erlaubt – und, ich weiß nicht warum, ich habe ein seltsames Zutrauen zu dem Manne. Ich reise übrigens morgen eigens nach Bräggen, um mit Felix Indergand zu reden, der auch mit Lemmy über das große Wasser geht. Schlaflos legt mich die Geschichte, aber nach allem, was geschehen ist, kann Josi nicht in St. Peter bleiben.«

»Das stimmt, das stimmt!« erwiderte der Presi kühl, »es ist ein verdammter Streich, den uns die beiden gespielt haben. Im übrigen, wie sind die Bedingungen? Muß die Gemeinde etwas für ihn zahlen?«

»Nichts! Es ist freie Hin- und Rückfahrt verabredet, Josi muß wenigstens drei Jahre bleiben und wird von Lemmy gehalten wie jeder andere, der unter seiner Führung steht.« –

»So – sonst hätte ich vielleicht einen Beitrag dran gethan!«–

Der Garde sah ihn mit einem Blick an, der ungefähr sagte: »So steht es also um dein Gewissen, Presi!«

Als er gegangen war, schritt der Presi schwer auf und ab: »Heimkommen, Binia! – Die Luft ist rein. – Seppi Blatter, wir wollen dafür sorgen, daß dein Spiel verloren ist!« – Dann stutzte er: »Dieser Josi Blatter – der stirbt in Indien nicht. – Der kommt eines Tages wieder heim – und dann ist die Not um Binia größer als jetzt. – Das Kind muß jung heiraten.«

Nicht lange, und die Nachricht, daß Josi mit seinem Engländer in ein fernes Land gehe, flog durchs Dorf. Man kränkte sich sonst in St. Peter, wenn, was bei Jahrzehnten nicht vorkam, ein junger Bürger in die Fremde zog. Nach der Meinung der Dörfler war es doch nirgends auf der Welt so schön, lebte es sich so gut wie zu St. Peter. Und man betrachtete jeden als einen Verlorenen, der sich außer Landes begab. Josi Blatter, den Rebellen, aber ließ man gern ziehen. Die Kunde von seiner bevorstehenden Abreise beruhigte die Leute, und die Gäste des Bären, die genußfreudige, vom schlichten frommen Sinn der Dörfler durch eine Welt anderer Anschauungen geschiedene Gesellschaft falterte unangefochten wie sonst durch Dorf und Feld, auf dem bereits die Herbstblumen zu blühen begannen.

Von dem Sturm, der bei der ersten Besteigung der Krone das eingeborene St. Peter bewegt hatte, hatten sie kaum Kenntnis erlangt.

Aus dem großen Thal kamen ein paar junge Bergsteiger, die von der überraschenden Besteigung der Krone gehört hatten, und wollten sie mit Josi Blatter wiederholen. Er aber wies sie ab. Thöni indessen, der an dem Tag, wo die beiden den Gipfel der Krone erstiegen hatten, in Hospel gewesen war und nach seiner Rückkehr mehr vom Ruhm der Gäste als von der drohenden Haltung der Bauern reden gehört hatte, wurmte die Eifersucht auf den Rebellen bis ins Mark.

Er ließ sich heimlich von den jungen Steigern als Führer mieten. Als ob er mit den Ehrgeizigen nur einen größeren Spaziergang auf den Gletscher, aus dem die Glotter fließt, unternehmen wollte, ging er mit ihnen in der Morgenfrühe weg. Erst am Nachmittag sah man erstaunt eine kleine Kolonne auf dem unteren Firn der Krone. »Die Wahnsinnigen gehen auf einem überhängenden Schneeflügel!« riefen plötzlich Stimmen, und man hatte es kaum bemerkt, so brachen die fünf durch die Wächte. Zum Glück kollerten sie nicht sehr tief einer Wand entlang, aber nun saßen sie auf einer Felsenplanke, von der kein Ausweg zu sehen war. Sie schwenkten Tücher, daß man sie holen möge.

Und sicher war eins: Mußte das arme Fünfblatt dort über Nacht bleiben, so erfror es.

Der Presi wütete über Thöni, er sammelte dann eine Hilfskarawane, und die von St. Peter ließen sich, obgleich sie sich über den neuen Frevel wie über den ersten empörten und ihre Schadenfreude nicht verbargen, sofort herbei, die Rettung der Gesellschaft zu versuchen. Denn wo Menschenleben in Gefahr schwebten, waren sie, wie alle Leute der Berge sind: sie kannten nur die Pflicht der Hilfe.

Josi war in fiebernder Erregung: »Darf ich sie holen? Sie erfrieren, bis die Mannschaft oben ist,« fragte er den Ingenieur. »Well, hole die Unglückseligen, Boy.« Und George Lemmy war, indem er die Hände in die Hosentaschen steckte und ein Liedchen pfiff, selber neugierig, wie der Bursche nun vorgehen würde.

Eine – zwei – drei Stunden! – Man sieht ihn! Wo scheinbar nur glatte Wände sind, klettert der ehemalige Wildheuerbub wie ein Kaminfeger durch Felsenrisse, eilt über schmale Kanten, ist wieder in einem Riß und klettert aufwärts!

Ein Dutzend Fernrohre folgen ihm. – Noch eine Stunde – die Hilfskarawane ist erst auf den oberen Alpen – da schwingt sich Josi auf das Band, wo die fünf armen Knaben sitzen.

Er hört die Jubelrufe aus dem Thale nicht, er weiß nur, daß er eilen muß, die Leute zu bergen, denn St. Peter liegt schon im tiefen blauen Schatten, nur noch an den Spitzen glänzt die Sonne.

»Du lausiger Rebell, dich haben wir nicht gerufen,« empfängt ihn Thöni.

»Grieg, seid artig, sonst lass' ich Euch beim Eid über Nacht da oben hocken,« erwidert Josi.

Die von Thöni Schlechtgeführten danken ihm überschwenglich, einer weint vor Freude. Josi mahnt: »Nur Mut! – gangbarer Fels und Schutt ist nicht weit, aber ein Umweg ist nötig.«

Er kennt die Gegend genau, er hat über der Planke manchen Tautropfen gebrochen, er löst auch jetzt einen, den sein geübter Blick in einer kleinen Höhle entdeckt hat, und steckt ihn wie zum Andenken in die Westentasche.

»Aufpassen!« ruft er. Die Lotserei beginnt, sie geht im Bogen und Zickzack bergauf, bergab, den greifbaren Vorsprüngen entlang. Er würde den halsbrecherischen Weg in einer Viertelstunde machen, aber er muß den Ermüdeten und von jedem Selbstvertrauen Verlassenen die Füße einstellen, die Handgriffe zeigen, die mutlos werdenden Zurückgebliebenen nachholen, einen um den anderen am Seil herunterlassen, eine Stunde fieberhafter Anstrengung vergeht, und sie sind noch nicht am Ziel – die Nacht ist gesunken – – aber jetzt! – endlich! – endlich hat die Gesellschaft ein sanftes Geröllfeld erreicht – Josi will jauchzen, er kann es nicht vor Erschöpfung. Heiser nur sagt er: »Ihr seid auch da, Grieg!«

Thöni spürt aber kaum den sicheren Boden, so fährt er Josi an: »Du hättest uns nicht zu holen brauchen, du Laushund, ich wäre schon losgekommen. Den Schimpf machen wir einmal handgreiflich aus!«

»Gut, Ihr könnt Euch nur melden!«

Um drei Uhr des Morgens kamen Josi, die Geretteten und die Hilfskolonne im Dorfe an. Einheimische und Fremde wachten. Unter der Thüre des Bären, wo ihm der Presi mit einem Ausdruck aufrichtiger herzlicher Achtung entgegentrat und beide Hände reichte, brach er, den Jubel der Glückwünschenden in den Ohren, zusammen.

Kaum hatte er sich am Morgen erholt, als ihn der Presi in jene Stube rufen ließ, wo sie sich nach dem Tod der Mutter gegenüber gestanden hatten. Als der mißtrauisch dreinblickende Bursche eintrat, empfing ihn der Bärenwirt fast feierlich. Er stand auf, stützte die Linke auf das Pult und reichte ihm die Rechte: »Setzen wir uns! Ich bekenne, daß ich Euch eine Weile unterschätzt habe, Blatter, sonst hätte ich Euch nicht zu Bälzi gethan. Zunächst danke ich Euch, daß Ihr die fünf geholt habt. Die Rettung ist ein Ehrenblatt für Euch.«

Josi wurde feuerrot und verlegen, er stand bei dem Lob des Presi wie auf Nadeln. Der Mann, der so mit Wärme und Achtung zu ihm sprach, war der, der ihm die Peitsche ins Gesicht geschlagen. Er war aber auch Binias Vater. Die Gedanken spannen sich ineinander und verwirrten ihn.

»Ihr wollt also jetzt mit George Lemmy nach Indien. Das ist ein abenteuerlicher Plan. Der Gemeinderat hat indes einstimmig beschlossen, daß man Euch kein Hindernis in den Weg legen will. Im Frühling werdet Ihr ja volljährig und dann seid Ihr ohnehin der Vormundschaft entlassen.«

Der Presi stand auf und langte in ein Pultfach: »Wenn man ins Leben geht, dann ist es von besonderer Wichtigkeit, daß man die Freiheit, sich zu wenden und zu kehren hat. Die besitzt man nur mit Geld. Ich möchte Euch einen Reisepfennig mitgeben. – Ihr seht, wenn ich gebe, bin ich nicht klein!«

Er reichte Josi etliche Blätter Banknoten. Der junge Mann fuhr auf, er wollte reden, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Nur ein seltsames »Herr Presi!« würgte er hervor.

So viel Geld hatte er natürlich noch nie beisammen gesehen, dachte der Presi, mißverstand seine Bewegung und hielt sie für Gier.

»Ich will keinen Dank, die Blätter sind für das Herunterholen der Jungen, es ist Rechnung und Gegenrechnung – nehmt sie herzhaft.«

Eine verwirrende Liebenswürdigkeit lag in seinem Ton, »Ich will noch einmal so viel zulegen, Blatter. Gebt mir nur das Versprechen in die Hand – daß Ihr – wenn Ihr je aus Indien zurückkehrt – mit Binia nichts zu schaffen haben wollt. – – Es kann nicht sein – es darf nicht sein. – Ich sage es Euch in heiligem Ernst: Ich leide es nicht – ich leide es nicht.«

Düster und trotzig waren seine letzten Worte.

Nun aber brach Josi los: »Herr Presi, glaubt Ihr, daß ich meinen Vater schände? Um wie viel weniger Geld habt Ihr ihn in jener Nacht gekreuzigt, daß er an die Weißen Bretter steige. Ihr meint, ich nehme je einen Rappen an aus Eurer Hand?«

Etwas Ergreifendes, Rührendes lag im Zorn des Burschen, eine durch Bescheidenheit gezügelte heiße Entrüstung.

Seppi Blatter und Fränzi in einem, ein verdammt schöner Bursche, dachte der Presi.

»Und Binia?« fragte er mit einem leisen Seufzer, schon halb verstimmt.

In den Augen Josis loderte es, er keuchte: »Herr Presi, ich bin kein Hudel. Behaltet das Geld, ich behalte mir das Recht, das Mädchen um seine Hand zu fragen, das mir am besten gefällt. Und im Glotterthal ist's ja noch so: Keine Jungfrau steht so hoch, ein ehrbarer Bursch darf um ihre Hand anhalten.«

Seine Stimme bebte, der Presi lachte scharf: »Gewiß darf er darum anhalten – es kommt aber nicht aufs Fragen, sondern auf den Bescheid an, den er erhält. – – Wollt Ihr das Geld, Blatter?«

Das letzte sprach er mit hartem, höhnischem Klang.

»Nein, Herr Presi!«

Das tönte nicht herausfordernd, aber als wären die Worte von Granit.

»Du Steckgrind – ein Rebell bist und bleibst du!« – Der Presi schrie es. – »Mit dir habe ich es gut gemeint. Ich habe wollen Frieden zwischen mir und dir machen – du bist aber ein Thor – ein wahnsinniger, verstockter Thor – – he, du und Binia? – Wo nimmt auch so ein Fötzel das Recht her, an so etwas zu denken?«

»Herr Presi, in drei Jahren wollen wir wieder zusammen reden, helf' mir der Himmel, daß Ihr mich dann nicht mehr so verachten könnt.«

Josi sagte es bescheiden – doch das Wort war Oel ins Feuer.

»Gottes Heilige hören es – die Tatze soll mir eher aus dem Grabe wachsen, eher soll ein Traum, den ich einmal gehabt habe, in Erfüllung gehen und Binia von einem Gespenst erschlagen werden – als daß ihr zwei zusammenkommt.«

»Ihr redet entsetzlich!« Helle Thränen liefen Josi über die braunen Wangen. »Lebt wohl, Herr Presi!«

»Dich mögen in Indien die Königstiger fressen!«

Er donnerte es dem Forttaumelnden nach – –

»Ihr redet entsetzlich!« Dem Presi klang der Ausruf Josis im Ohre fort, es lag darin etwas so Wundes, wie wenn ein Tier aus tiefsten Nöten schreit. Aus sich selber wiederholte er: »Ich redete entsetzlich!« Ihm war, er müsse Josi zurückrufen, er müsse ihm noch etwas sagen. Ein seltsamer Einfall kam ihm. Er wollte zu George Lemmy sprechen: »Laßt mir Josi Blatter da – er paßt mir als Bergführer.« Eine sonderbare Empfindung durchrieselte ihn. Er könnte, war ihm, den schönen, gescheiten, rechtschaffenen, heimlich stolzen Burschen unendlich lieb haben – lieb wie einen Sohn, – er staunte, wie ihm der Gedanke angeflogen kam – er sperrte sich wütend dagegen – er zitterte – er schwitzte und schnaufte.

»Ich muß noch einmal mit ihm reden! – Seppi Blatter – Fränzi. – Habt ihr Gewalt über mein Herz?«

Nach drei Tagen aber sammelte sich in der Morgenfrühe ein Häuflein Dörfler vor dem Bären, um Josi Blatter, den Abenteurer, abreisen zu sehen. Der Bärenwirt stand auf der Freitreppe und winkte, wie ein Wirt winkt, wenn ein so angesehener Gast wie George Lemmy geht. –

»Jetzt habe ich doch nicht mit ihm geredet.« Seit einer Weile saß der Presi, den Kopf stützend, am Tisch. Und wütender über sich selbst als über Josi, murmelte er:

»Binia erschlagen – nein – nein – das ist Wahnsinn.«

Bei sich selbst war er überzeugt, daß Josi Blatter in drei Jahren als Freier vor ihm stünde.

»Nun wohl – dann Gewalt gegen Gewalt.«

Da kam Thöni: »Ich führe das Gepäck des Engländers nach Hospel!«

»Gut – doch noch etwas! Der Schwager Kreuzwirt fährt Ende dieser Woche oder Anfang der nächsten über den Hochpaß. Ich lasse ihn um den großen Gefallen ersuchen, daß er Binia aus dem Kloster heimbringt.«

Als Thöni gegangen war, lächelte der Presi glücklich: »Binia – wenn du schon an dem Burschen hängst und thöricht bist wie alle Weiber – mein lieber Herzensvogel bist du doch!«


 << zurück weiter >>