Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

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XIV.

»Died in the cholera-hospital at Srinigar!« Thöni jubelte das Wort wie Siegesbotschaft durch das Haus. Der Presi sah vergnügt in das Spiel der Schneeflocken, die dicht und schwer herniederwirbelten.

Da zog es doch plötzlich wie ein Seufzer durch seine Brust: »Ich hätte Josi Blatter in St. Peter zurückhalten sollen!«

Wie er es wider Willen dachte, schritt vor dem Fenster Kaplan Johannes durch das Schneegestöber und wies ihm eine drohende Grimasse.

Die plötzliche Erscheinung des Halbverrückten, der seit seiner Vertreibung einen dämonischen Haß auf ihn und Binia warf, peinigte den Presi, ohne daß er wußte warum, wie Schicksalsdrohung. Es giebt aber einen Helfer in der Freude und einen Sorgenbrecher im Leid.

Die trostlose Binia überraschte den Vater und Thöni, die zusammen vom besten Hospeler zechten. Da stieß der schon lallende Vater sein Glas ins Leere: »Zum Wohl, Seppi Blatter – hörst du, dein Bub' ist gestorben. – Was willst du jetzt noch?« Er lachte hellauf.

Thöni, der nüchterner war, folgte dem Beispiel: »Josi Blatter, du Laushund. – Ja so, da ist Binia. – Komm, trinke auch eins auf deinen toten Schatz!« »Schändet die Toten nicht.« Mit dem gellenden Ruf sprang sie zu den beiden Männern und wischte die vor ihnen stehenden Flaschen und Gläser mit leichtem Arm vom Tisch.

»Josi lebt – er lebt!« bebte ihre Stimme. »Ihr könntet ihm sonst nicht zum Wohlsein trinken. Der Blitz vom Himmel würde in den Bären fahren!«

»Binia, wenn du so wild bist, bist du teufelsschön,« lallte Thöni.

Der Vater wollte über ihre Keckheit wüten, aber es ging nicht mehr wohl an. Am anderen und in den folgenden Tagen sagte er kein Wort, er war stillverdrießlich, und das war ein Zeichen, daß er sich selbst grollte.

Seit Binias empörtem Ruf: »Er lebt!« glaubte auch er nicht mehr, daß Josi Blatter tot sei. Nein, der stand ja immer wieder auf, wenn er schon begraben war. Um so stärker jedoch bekräftigte der Presi die Todesnachricht, wenn andere Leute darein Zweifel setzten: »Ta-ta-ta!« sagte er, »es giebt auf der Welt nichts Zuverlässigeres als die englische Post!«

Unterdessen begann eine seltsame Zeit für Binia. Sie mußte an ein Wort der alten thörichten Susi denken: »Schlaft, schlafe, Schäfchen, wenn du groß und ein schönes Mädchen sein wirst, kommen um dich viele Burschen fragen.«

Darauf hatte sie erwidert: »Ich liebe aber nur Josi.«

Nun war beides in Erfüllung gegangen: viele Freier kamen, und sie liebte nur Josi.

Gegen den Vater hatte sie Gewissensbisse. Sie fühlte sich ihm heiß verpflichtet, daß er sie nicht zwingen wollte, irgend einem jungen Manne, der ihm gerade gefiel, die Hand zu reichen. Das war ein großes Zugeständnis. Für Josi jedoch wollte sie die Liebe aller Freier ausschlagen, darüber würde er kommen. Die Todesnachricht auf dem Brief war gewiß ein Irrtum.

Der erste Freier war ein ungeschlachter Holzhändler aus dem Oberland. Als er sich mit ein paar Schoppen Hospeler Mut getrunken hatte, stieß er sie mit dem Ellenbogen in die Seite: »He, Kind, luge einmal meine Geldkatze an – was meinst – wollen mir einander heiraten? – Ich bin halt keiner von denen, die lange ›ich bitte und ich bete‹ stammeln und Küsse betteln – dummes Zeug – gerade recht geheiratet muß sein.«

»Wenn's nur so geht, ist leicht ledig bleiben,« lachte Binia.

Der Presi war es zufrieden, daß sie den ersten, die nach ihrer Hand trachteten, Körbe gab, denn es schien ihm nicht vornehm, daß ein Mädchen gleich auf einen, der ihm freundlich thut, mit offenen Armen zueilt, und er hatte den Vogel doch am liebsten im Haus. Der Gedanke, sich einmal von Binia trennen zu müssen, fiel ihm schwer.

Doch in St. Peter hätte kein junger Mann so recht den Mut gehabt, der Schwiegersohn des gefürchteten Presi zu werden. Binia allein hielt den alten freundschaftlichen Verkehr mit dem Dorfe noch aufrecht. Und sie war mehr die Freundin der Armen und Gedrückten, als der wohlhabenden Haushaltungen mit heiratsfähigen Söhnen.

»Vater, gebt mir noch zwanzig Franken – ich habe keinen Rappen mehr.« Sie wußte so drollig zu betteln.

»Ich spare – und du verschwendest – will wieder einer eine Geiß kaufen?« »Ja, aber wer, sag' ich dir halt nicht –«

Der Presi, der nicht geizig war, lachte und gab ihr den Betrag. Was verschlug es? Es ging ja auch viel Geld ein. Und es mußte ein leidliches Verhältnis mit dem Dorf unterhalten sein.

Die von St. Peter schauten beinahe teilnahmlos zu, wie die Touristen mit ihren Bergstöcken durch die Gegend klapperten. Besteigungen der Krone fanden jetzt jeden Sommer mehreremal, ja häufig statt und der Bären war ein echtes, rechtes Bergsteigerquartier geworden.

Gegen den Presi aber, der diese neue Zeit gebracht hatte, herrschte ein dumpfer Groll. Die Dörfler fühlten sich in St. Peter wie nicht mehr zu Hause, und wenn die Bauern auch viel Milch und allerlei anderes zu erhöhten Preisen in den Bären verkaufen konnten, so sprachen sie doch am liebsten von der alten Zeit, wo der Sommer in ruhigen Prächten durch das Thal gegangen war.

Thöni diente nicht mehr als Bergführer, er war in allen Dingen die rechte Hand des Presi. An seiner Stelle geleiteten jetzt Führer von Serbig und Grenseln, Leute, die gemerkt hatten, daß auch in St. Peter ein schönes Stück Geld zu verdienen sei, die Touristen auf die Berge.

Mit Schrecken sah Binia die wachsende Freundschaft zwischen dem Vater und Thöni.

Thöni war, so vornehm er sich gab, eigentlich doch ein recht gemeiner Kerl. Wenn er einen freien Augenblick hatte, stand er unten vor dem Haus bei den Führern und unter vielem Lachen redeten sie miteinander wüste Dinge.

Dann fuhr der Vater wohl mit einem »Gott's Sterndonnerwetter, Thöni!« dazwischen. – Wenn er ihm aber in seiner handfesten Art das Kapitel verlesen hatte, so ging alles langehin wieder glatt und gut, er hatte seine Freude an dem jungen Mann, der sich gewählt wie ein Fremder kleidete, den wohlgepflegten Schnurrbart kühn in die Welt stellte und seine vielen Geschäfte mit spielender Leichtigkeit erledigte.

Und wie wußte Thöni dem Vater zu Willen zu sein und sich seinen Launen anzupassen! Darin war er unübertrefflich.

Wie eine Hornisse aber schoß er durch das Haus, wenn er in irgend einem Gast einen Freier für Binia witterte. Und sie kamen immer zahlreicher, die Freier; aus dem Unter- und Oberland kamen die reichen Händler, die jungen Hotelbesitzer, und unter den Gästen waren nicht wenige, die für Binia schwärmten.

Der Vogel aber entschlüpfte. In Binias ganzem Wesen lag wie in ihrem schlanken Leib die Kraft stählerner Geschmeidigkeit und stählernen Widerstandes. Wo sie ein echtes Gefühl spürte, da lohnte sie es wohl mit einem Blick, daß der Freier meinte, er habe in seinem Leben noch nichts Süßeres gesehen, aber durch alles, was sie that und ließ, klang es bald schelmisch, bald traurig: »Seht ihr nicht, daß ich frei sein will? – Was zwingt ihr mich, es euch zu sagen?« Wer ihr mit zudringlichen Huldigungen zu nahe trat, den blitzte sie mit einem Blick oder einem Wort nieder, daß er sich schämte und zahm wurde wie ein kleines Maultier.

Jetzt lächelte aber der Vater nicht mehr, wenn sie einen Freier zurückwies. Mißtrauisch und grimmig loderte es aus seinen Augen. »Kind,« stieß er hervor, »wenn du meinst, du könnest mich narren!«. Und der Zorn zuckte um seine Brauen. Frau Cresenz tröstete dann auf ihre Art.

»Was sich zankt, das liebt sich,« meinte sie mit kühlem Lächeln. »Ihr werdet sehen, das Blatt zwischen Thöni und Binia wendet sich. Nur sich nicht einmischen und nicht drängen.«

Dem Presi kam eine Verbindung zwischen Thöni und Binia selber nicht mehr so unsinnig vor wie damals, als er den Garden wegen des sonderbaren Gedankens ausgelacht hatte.

Das Kind blieb dann doch in St. Peter. Sie zu zwingen hatte er aber das Herz nicht. Sie war ja noch so jung.

Die Zeit schritt, der Tag kam, wo Eusebi und Vroni, das glückliche Paar, Hochzeit hielten.

So ein schönes Fest hatte man in St. Peter noch kaum erlebt. Ein junger Verwandter der Gardenfamilie und Binia führten das Brautpaar, und wie lieblich war Vroni mit der niedlichen kleinen Krone auf dem blonden Haupt, wie hübsch der einst so häßliche Eusebi, wie sah man es ihm an, daß das Glück den Menschen verschönt.

Ans Glück dachte Binia am Morgen nach der Hochzeit, da donnerte sie der Vater an: »He, das Wildheuerkind ist am Ziel! Aber deinem Spiel schaue ich jetzt nicht mehr zu. – Meinst du, du dürfest um den toten Rebellen noch ein paar Jahre greinen. – Nichts da! Wenn du jetzt deinem Vater nach vielem Leid eine Freude bereiten willst, so zankst du dich mit Thöni nicht mehr, sondern überlegst ernstlich, ob du nicht im Frieden seine Frau werden könntest. Ich habe einen schönen Plan und daran hänge ich. Der Bären ist für unsere Gäste zu klein geworden, ich baue drüben gegen die Maiensässen hin ein Chalet im Berneroberländerstil, daß es mit seinen Balkonen ganz St. Peter überscheint. Und nun meine ich, wenn Thöni Direktor und du Frau Direktor des Hotels zur ›Krone‹ würdest, so wäre für dich gesorgt und ich könnte mein Haupt ruhig niederlegen. Thöni,« fuhr er fort, »ist aus guter Familie, er versteht das Geschäft und ich habe ihn mit der Zeit und namentlich in diesem Jahr lieb gewonnen – er ist lenksam und hört auf mich.«

Das letzte sagte der Presi mit besonderem Nachdruck.

Binia sah den Vater nur noch durch Thränen.

»O, Vater,« stöhnte sie, »mir thun Kopf und Herz weh. – – Baue doch lieber nicht. – Denke an die Leute von St. Peter, die uns jetzt schon wegen der Fremden im Bären grollen.«

»Ho, mit denen von St. Peter nehme ich es auf,« erwiderte er hart und es blitzte so bös aus seinen Augen, daß sie verstummte.

Thöni zankte, wütete, schmeichelte, er weinte vor ihr. »O Bini – Bini,« suchte er sie zu überreden, »wir hätten's so schön zusammen!«

»Thöni, ich nehme den, der mich freut, aber nicht einen, der schon mit so vielen Mädchen gelaufen ist.«

Sie sagte es ernst und bekümmert – sie hatte eine geheime Furcht vor ihm.

Doch war die Zeit da, wo Josi nach seinem Versprechen hätte zurückkehren müssen. Sie war in fieberischer Erregung, sie stand stundenlang am Fenster und schaute auf die Straße in den Herbstsonnenschein, später schaute sie in die Schneeflocken und am strahlenden Dreikönigstag sah sie, wie die Kinder ihre Häspel mit den drei papiernen Sternen drehten und hörte ihren Ruf:

»Die heiligen drei Könige mit ihrem Stern,
Sie kommen von fern und suchen den Herrn!«

So hatte sie als kleines Mädchen neben Josi den Windhapsel getragen und sich innig gefreut, wenn die drei Rosen, die gewöhnlich nicht spielen wollten, liefen.

Kein Brief kam an Vroni – kein Lebenszeichen von Josi – er kam nicht und kam nicht. Und zum Neubau fällte man das Holz.

Ja, wenn ihr dummes Köpfchen nur einsehen wollte, daß Josi gestorben ist. Mit Entsetzen gestand sie es sich: Sie sah sein liebes, offenes Gesicht nicht mehr so klar wie einst. Ihr war, leise und langsam senke sich ein feiner Nebel zwischen ihm und ihr und sein Bild weiche in die Ferne. Sie streckte die Arme aus nach ihm: »Josi, zeige mir deine schwieligen Hände – ich kann sie mir nicht mehr so recht vorstellen. – Josi, lache mit deinem trockenen und doch so herzinnigen Lachen, es klingt mir nicht mehr deutlich im Ohr. Mutter! – Mutter! – Hilf mir, daß ich nicht wanke!«

Und ein Wunder geschah! Für viele Wochen gab Thöni Grieg manchmal sein wildes, eifersüchtiges Drängen auf, er schwieg, nur in seinen Augen lag etwas Unerklärliches, etwas wie Haß und Drohung.

Er war nicht mehr der schöne Thöni, der lustige Thöni, er war ein reizbarer, übellauniger Herr mit einem aufgedunsenen rötlichen Gesicht. Sobald der Vater aus dem Haus gegangen war, wurde er nachlässig und grob, er kam alle paar Augenblicke aus der Poststube und schenkte sich Wein ein. Ein paarmal fanden Frau Cresenz oder Binia auch in der Ablage geleerte Flaschen. Und auf ihre Vorhalte grollte er: »Was hat das Weibervolk im Bureau zu thun, was geht euch die Poststube an?«

Binia aber liebte die Post, besonders das Telegraphieren, so viel als möglich besorgte sie mit flinken Fingern die Depeschen selbst.

»Das ist langweilig,« sagte sie vorwurfsvoll, »daß du immer die Schlüssel ziehst. Früher wußte ich alles, was auf der Post ging – hast du so eine Lumpenordnung, daß man nicht mehr hineinsehen darf?«

»Eben, gerade Ordnung habe ich, du Wildkatze,« höhnte er.

»Dann mache doch die Sendungen bereit, die noch liegen!«

»Ich gehe jetzt Revolverschießen,« trotzte er.

»Wozu brauchst du einen Revolver?«

»Er ist für solche, die nach St. Peter kommen, aber nicht hergehören,« lachte er seltsam.

Binia kam ein fürchterlicher Verdacht, aber sie wagte ihn kaum zu denken. »Nein, so bodenlos schlecht ist Thöni doch nicht,« beruhigte sie sich selbst.

Im übrigen schoß er, wenn er ausging, nicht immer mit dem Revolver, sondern saß ebenso häufig im Wirtschäftchen des Glottermüllers oder bei irgend einem hübschen Mädchen.

Frau Cresenz und Binia, Gäste und Dorf sahen es, der schöne Thöni, der lustige Thöni, hatte einen Wurm, die einen sagten im Kopf, die anderen im Leib.

Zuletzt sah es auch der Presi: »Thöni, du gefällst mir nicht mehr – weiß der Kuckuck, was du hast und was mit dir ist.« »Ich meine, man sollte jetzt einmal bauen, das Holz liegt schon lange genug,« gab Thöni mürrisch zurück.

»Natürlich wir bauen jetzt,« antwortete der Presi fest.

Als man den ersten Spatenstich führte, rief er Binia auf seine Stube. Er streifte sie mit forschendem, sorgenvollem Blick; dann hob er an: »Binia, du verlobst dich jetzt mit Thöni, spätestens im Frühjahr heiratet ihr. Ich habe dir Zeit gegeben, eine Wahl nach deinem Sinn zu treffen, du hast sie verwirkt. Jetzt befehle ich dir!«

Binia stand totenblaß; mutlos und verschüchtert wagte sie keinen Widerspruch.

Man baute, aber im schlechtesten Zeichen. Die Werkleute brachten die »Krone« nicht vorwärts. Als hätte Gott selbst einen Zorn darauf, regnete und wetterte es im Glotterthal den ganzen Sommer durch und der Presi eilte in hundert Nöten zwischen dem Bären und der Baustelle hin und her. Zum erstenmal, seit Fremde nach St. Peter kamen, füllte sich der Bären nicht. Und er wünschte das Trüpplein von Sommerfrischlern, das da war, wieder nach Hospel zurück und weiter. »Herr Präsident,« fragten sie Tag um Tag und jede Stunde, »glauben Sie, wir bekommen bald schönes Wetter?« – »Ich weiß es nicht. In hundert Jahren kann der Sommer ja auch im Glotterthal einmal herzlich schlecht sein.« Mit verhaltener Wut sagte er es. Die Maulaffen! Wer litt mehr unter dem schlechten Wetter als er.

Und zum erstenmal waren die Fremden mit dem Bären nicht zufrieden. »Der Herr Präsident ist mürrisch,« klagten sie, »Herr Grieg, der früher so jovial war, unaufmerksam und grob. Frau Cresenz lächelt so seelenlos wie ein Automat. Und Binia, die alpige Rose, hat alle Schelmerei verloren oder dann zuckt sie so heftig und seltsam heraus, daß es wie ein Lachen im Fieber ist.«

Die Freier blieben aus. Nur einer wandte sich noch an sie, ein junger stiller Gelehrter.

Er hatte ihr die paar Blumen gebracht, die trotz dem schlechten Wetter an den Bergen gewachsen waren, aber sonst eine große Zurückhaltung gegen sie beobachtet. Am Abend, bevor er abreiste, erst nahm er ihre Hand: »Fräulein Waldisch – Binia,« sagte er tief bewegt, »diese Hand ist zu klein und zu mollig für Ihr rauhes Bergthal. – Kommen Sie mit mir in die Stadt – ich liebe Sie – werden Sie meine Braut – meine herzliebe Frau.« – – – –

Es war so ein gediegener Mann und redete so warm.

Binia wurde dunkelrot und ihre Hand zitterte: »Herr Doktor!« Sie senkte das Köpfchen. »Ich passe nicht in die Stadt, ich kann ja kaum recht lesen und schreiben und bin ein schlichtes Bergkind.«

Da drang er heiß in sie: »O Binia! für mich ist das genug – ich bin selbst ein einfacher Mann. Was Sie an Wissen nicht haben, das ersetzen Sie mir hundertmal mit Ihrer sonnigen Natürlichkeit, mit Ihrem klugen Auge, mit der Wärme Ihres Gemütes. Ich habe eine liebe alte Mutter daheim – sie ist auch schlicht und kann keine überbildete Tochter brauchen.«

Bei dem Wort »Mutter« begann Vinia zu schluchzen. Eine Mutter! In ihrem Leben noch einmal eine Mutter, Das war ein stürmischer Angriff.

»Die oberflächlichen Leute meinen,« fuhr der junge Mann fort, »Sie seien nur ein überaus gescheites, allerliebstes Naturkind, aber ich will es Ihnen sagen: Sie sind ein großes, liebeheischendes, heißes Herz – und wenn ich Sie verstanden habe, wenn Sie es sind, Binia, so gehen Sie um Ihres eigenen Glücks willen nicht kalt an mir vorbei. Darf ich mit dem Herrn Präsidenten reden?«

Wie die Männerstimme zitterte!

»Nein – nein – Herr Doktor, nein,« erwiderte sie angstvoll, »ich ehre Sie – ich will Ihnen ein Geheimnis verraten – ich bin verlobt.« – –

Da ging der junge Mann in tiefer Trauer. Er schrieb ihr aber später: »Ich weiß, was ich verloren habe. Sie einzige – tausend-, tausendmal Glück!«

Ueber diesen Brief weinte sie bitterlich. Sie wußte es, sie hätte froh werden können mit dem Manne. Und, seine Hand wäre Rettung vor Thöni Grieg gewesen.

Wozu diese wahnsinnige Treue für Josi? Das fünfte Jahr erfüllte sich jetzt bald, daß er fortgegangen war.

Tiefen Kummer bereitete ihr die durch das schlechte Sommerwetter entstandene Stimmung im Dorf.

Wenn man nur mit dem Vater reden, ihn warnen dürfte, aber er ist wie ein Pulverfaß. Man darf nicht an ihm rühren. Alles muß sich vor ihm drücken. Thöni – Frau Cresenz – am meisten sie selbst: »Bini,« donnert er sie an, »Gott's Hagel – ich mache das Wetter nicht, lasse mich mit den Kälbern im Dorf in Ruh'.«

»Binia,« sagten die von St. Peter, »Ihr seid ja lieb und gut, aber wir wollen nichts aus dem Bären, es klebt Unglück daran,« und einige Weiber erklärten es frei heraus: »Kommt uns nicht mehr ins Haus. Wenn Ihr schon so lieb lächeln und reden könnt, mit Euren dunklen Augen seid Ihr doch eine Hexe und der Bären ist das Unglück von St. Peter.« Eine furchtbare Zeit war gekommen. Immer lagen Nebel an den Bergen; wenn die Sonne am Morgen auch ein wenig schien, so donnerten am Nachmittag doch wieder die Gewitter, und wenn sich die Wolken ein wenig lichteten, sah man neue Runsen an den Bergen. Die oberen Alpen wurden spät schneefrei, ehe das Gras gewachsen war, deckte sie schon wieder Schnee, ein früher Reif vernichtete die Ernte und am Glottergrat rückte der Gletscher vor. Die Wildleutlaue rüstete sich!

Not herrschte bei Menschen und Vieh, ein Angstgefühl legte sich über das Dorf, als dürfe es nie mehr auf bessere Zeiten hoffen, und der gräßliche Kaplan Johannes, der wieder von Fegunden heraufgekommen war, verließ St. Peter nicht mehr.

Binia wußte es. Dieser Wahnsinnige lebte fast nur von dem Haß gegen den Vater, der ihn vor Jahren hatte aus der Gemeinde treiben lassen. Er wühlte und hetzte im Dorf mit den dunkelsten Künsten des Aberglaubens. Entsetzlicher noch! Der böse Narr hatte seine Begierde auf sie geworfen. Sie fürchtete ihn wie die Taube den Habicht; seit er ihr letzthin zugerufen: »Jungfer, merkt Ihr, wie mein Korn reif wird?« zitterte sie vor ihm und ahnte schwere Ereignisse.

Gewiß trieb der dämonische Kaplan die von St. Peter zu einer thörichten That, um in einer Stunde der Verwirrung seine düstere Seele an den Bildern erfüllter Rache zu ergötzen.

Ein ungeheuer peinlicher Vorfall, von dem zum Glück der Vater selbst nichts erfuhr, trat dazu.

Eine fremde vornehme Dame, die mit ihrem Hund hergekommen war, verlangte, daß man das Tier wie einen Gast bediene. Thöni, der Thor, der sich in das Gesicht der Dame vergaffte, gab es zu, allerdings nur in einem besonderen Zimmer. Die Mägde hatten zu dem Hund »Guten Tag, Herr Walo!« zu sagen, wenn er auf den Stuhl sprang, ihm ein weißes Tuch vorzubinden und dann je auf besonderem Teller fünf Gerichte vorzulegen, zuletzt wie zu einem Gast zu sprechen: »Wünschen wohl gespeist zu haben, Herr Walo!« und die Dame überwachte die Bedienung ihres Viehes.

Mit flammendem Gesicht schaffte Binia Ordnung, aber die Mägde schwatzten, und nun lief die Geschichte im Dorf.

»Jetzt, wo wir und unser Vieh Mangel leiden,« staunten die Leute entsetzt.

Kaplan Johannes trug die Erzählung von Haus zu Haus: »Merkt ihr,« fragte er, »aus dem Wetter nichts? Geht nach Hospel, dort sind sie froh über den Regen, der dann und wann fällt. Merkt ihr nichts?«

»Wohl, wohl!« erwiderten die Dörfler, »die armen Seelen wollen die todsündige Völlerei im Bären nicht, sie wollen den Neubau nicht, die Zwingburg, die uns hudlig machen soll. In den fürchterlichen Wettern geben sie uns ihre Zeichen.«

»Wir sind ja schon hudlig,« antworteten andere ingrimmig: »die drei Kleinsten Bälzis stehen am Weg und strecken den Fremden die Hände um Almosen hin. Die Haushaltung hat nichts zu beißen und zu brechen. Und noch viele müssen vor Elend auch zu betteln anfangen. Das ist das Werk des Presi.«

Der Garde mahnte zur Ruhe, der Pfarrer predigte gegen den Aberglauben und wies seiner Herde in Chroniken nach, daß es auch früher schon so schlimme Jahre gegeben habe.

Die Dörfler aber schrieen ihm zu: »Pfarrer, Ihr hütet die heilige Religion nicht. Wißt ihr es nicht? Der Presi will in dem Neubau heimlich eine Kapelle für die Ungläubigen einrichten, wie eine zu Grenseln steht, und wenn Ihr nicht helft, müssen wir selbst Ordnung schaffen. Wir sind nicht gewaltthätig und den Fremden wollen wir nichts thun, aber wenigstens den Neubau dulden wir nicht.«

»Man muß mit dem Presi in Güte reden!« meinten einige Ruhige, wie der Fenken- und der Bockjeälpler.

»Wenn wir das thun,« erwiderten aber die anderen, »sind wir verloren. – Er ist ein alter Fuchs, er weiß schon, wie er zu sprechen hat, daß keiner von uns mehr etwas sagen kann.«

Der Glottermüller hatte mit seinem Wirtschäftchen gute Zeiten, aber auch in den eigenen Stuben sammelten sich da und dort die Dörfler.

»Wir müssen es hinter den Garden stecken,« meinten sie, »er kommt dem Presi am ehesten bei. Der Glottermüller muß mit ihm gehen. Der Kaplan Johannes auch.«

Der Garde seufzte, als Bauer um Bauer in seine Wohnung kam und ihm zuredete, daß er Vermittler zwischen der Gemeinde und dem Presi werde. »Ich bin nicht mehr sein Freund!« erklärte er. – »Aber Ihr seid der Garde!« drangen sie in ihn. – »Dann gehe ich allein,« sagte er. – »Nein, wenigstens einer muß mit,« erwiderten sie, »damit der Presi spürt, daß es Ernst gilt.«

Nach gewaltigem Sträuben fügte sich der Garde in den sauren Gang und darein, daß der Glottermüller ihn begleite.

Es war im Herbst und nach vielen Wochen der Verdüsterung stand der Himmel in reinem Blau, nur hingen an der Krone so drohende Wächten, wie man sie niemals zuvor gesehen. Durch das Dorf flog es von Mund zu Mund: »Schaut, seit die Fremden fort sind, ist der Himmel uns wieder wohlgesinnt.«

Würdig empfing der Presi die beiden Abgesandten von St. Peter, würdevoll wie ein König antwortete er ihnen, sich mit der Hand auf sein Pult stützend: »Ihr Männer von St. Peter. Meint ihr, daß ich die Gemeinde weniger lieb habe als ihr? – Aber in einer thörichten Sache lasse ich mich nicht von euch zwingen. Wir sind alle freie Männer. Wir beugen uns vor nichts als vor den Ueberlieferungen unserer Väter und den Gesetzen des Landes. Ueberlieferung und Gesetz ist aber, daß jeder bei uns frei bauen darf, wie er will. Ich habe kein minderes Recht als ihr, der Bären und die Krone stehen unter dem Schutz des Gesetzes, der das Eigentum heiligt. Wer daran rührt, ist dem Gericht verfallen. Nicht anders ist es mit den Fremden, die ins Thal kommen. Sie sind nicht, wie ihr meint, vogelfrei, sie stehen unter dem Schirm mächtiger Verträge. Wehe dem, der die verletzt! Und also habe ich eine gerechte Sache, wenn ich ein neues Haus aufschließe und Gäste darein führe, und ich will es euch beweisen, daß ich euerm ungerechten Verlangen nicht nachkomme. Thöni – Binia!«

»Presi, seid barmherzig,« bat der Garde, »sonst gerät die Gemeinde ins Unglück. Was Ihr sagt, ist wohl wahr – aber es ist nicht gut – es ist nicht gut.« Scheu kam Binia geschlichen, sie konnte den Garden fast nicht ansehen, Thöni aber erschien wie ein großer Herr.

»Thöni Grieg und Binia Waldisch,« wandte sich der Presi stolz und feierlich an die beiden, »vor der Gemeinde St. Peter verlobe ich euch, auf daß ihr in Frieden und Glück das neuerbaute Haus zur Krone führt. Binia, hole mir Bissen und Wein, daß ich sie euch reiche.«

Sie zitterte. Wie im Verscheiden sagte sie: »Nein – ich kann nicht, Vater.«

Da wurde er kreideweiß: »Du Elende!« knirschte er mit einem entsetzlichen Blick der Wut, »vor der Gemeinde machst du mich zu Schanden – möge Gott dich dafür schlagen!«

Der Glottermüller verlor seine Haltung und quiekte mit seiner hohen Weiberstimme: »Das ist ja abscheulich! Ich gehe, lebt wohl!«

»Ja,« bebte die Stimme des Presi, »sagt es dem Dorfe nur, was für eine Ungeratene ich zum Kinde habe.«

Da nahm der Garde die Hand des Presi und mit Thränen in den Augen sprach er: »Gewaltthat auf Gewaltthat! – Sünde auf Sünde – Presi! alter Freund – muß ich es wirklich erleben, daß Ihr Euch selbst. Euer Kind, Euer Haus, das ganze Dorf zusammenschlagt!«

»Was, alter Freund?« erwiderte der Bärenwirt kalt und hohnvoll, »einer, der es mit den Kälbern hält, – ein Tropf seid Ihr, Garde!«

»Alte Männer schlagen sich nicht. – Ihr schlagt Euch selbst.«

Der Garde keuchte es, er ging und in einer Ecke lag Binia, das Häuflein Unglück. Am anderen Tag aber flog die Kunde von Mund zu Mund: »Nun hat sich Binia doch mit Thöni Grieg verlobt.« Schreckliche Gerüchte waren im Umlauf. Drei Stunden sei der Presi auf dem Boden gelegen und habe mit Armen und Beinen ausgeschlagen. »Ich kann nicht mehr leben. Mein Kind hat mich vor der Gemeinde zu Schanden gemacht.« Da habe sich Binia auf ihn geworfen und verzweifelt gerufen: »Vater – lebe! – ich will Thöni nehmen!«

Der Presi hatte den Sieg über sein Kind und die Abgeordneten davongetragen, aber der Bären lag in Acht und Bann, furchtbare Erregung und Empörung gegen ihn herrschte im Dorf.

So kommt der Winter, ein verkehrter Winter! Es fällt viel Schnee, aber er hält nicht. Die Lawinen donnern Tag um Tag und ihre Luftstöße erschüttern die Hütten. Jetzt tritt endlich bittere Kälte ein. Da geschieht ein schreckliches Wunder. Eine Windsbraut fährt über die Krone, sie wirbelt den Firnenschnee wie Gewitterwolken auf, die Wolken verfinstern das Thal, sie sausen herab, sie drehen sich und prasseln aufs Dorf. – Die Glocken läuten.

»Wohl denen, die tot sind,« schreien die Leute. »St. Peter geht unter – die armen Seelen ziehen aus – für die Zeit, die uns bleibt, haben wir noch genug zu essen, und daß unser armes Vieh an Seuchen stirbt, kann nichts mehr schaden.«

Da schleicht ein Wort heimlich durch das geängstigte St. Peter, das Wort »Ahorn!« Wo sich zweie treffen, redet der eine geheimnisvoll von hundert Dingen, bis er unauffällig das Wort »Ahorn« ins Gespräch mengen kann. »Ahorn!« erwidert der Angeredete feierlich. Außer dem Garden, den man immer noch einer alten Freundschaft für den Presi verdächtig hält, dem Pfarrer und einigen anderen, denen man nicht traut, ist ganz St. Peter in einem geheimen Bund, dessen Mitglieder sich im Wort »Ahorn« erkennen. Wer die Losung spricht, weiß es: Im Namen der armen Seelen muß der Bären, das Sündenhaus, fallen und der Neubau zerstört werden. Es giebt sonst keine Rettung für das Dorf. Wen das schreckliche Los trifft, der muß den Bären und die Krone anzünden. Sonst ihm selbst »Ahorn«. Es giebt keinen Verräter im Bergland. Sonst auch ihm »Ahorn«. Wer es aber thut, der soll, auch wenn er dem Gericht in die Hände fällt, in der Gemeinde nicht ehrlos sein, sondern alle anderen sollen für seinen Haushalt einstehen.

Was die von St. Peter thun wollen, ist aber so fürchterlich, daß sie selber davor zurückbeben. Sie losen noch nicht, erst zu äußerst soll es geschehen – gerade ehe die Fremden wieder erscheinen.

»Ahorn« und Wildleutlaue! So kommt der Frühling.

Der Presi und Thöni sind nach Hospel geritten. Am offenen Fenster steht im Abendsonnenschein Binia und träumt. Ihre Wänglein sind bleich, die Augen noch dunkler und größer als früher. Auf dem Kirchhof sprießt das erste flaumige Grün und auf dem Kirschbaum, der sich bräutlich schmückt, flötet eine Amsel.

Eine Amsel. – Sie denkt an Santa Maria del Lago. – Jetzt ist sie selbst der gefangene Vogel, aber keine barmherzige Hand kommt und schneidet sie aus dem Netz. Josi, dessen Bild ihr so gräßlich entschwebt ist, steht wieder in Klarheit vor ihr.

Die Reue wütet in ihrer Seele. In einer augenblicklichen Wallung des kindlichen Gefühls hat sie dem Vater das Opfer gebracht, daß sie sich mit Thöni verlobte. Ist der Vater des Opfers wert? – Nein, wie könnte er sonst die Freundschaft mit Thöni halten, dem Schuft.

Und der Vater ist ein Thor. Die Gier Thönis wehrte sie ab, da kam er gerade, allerdings nicht ganz nüchtern, dazu. Thöni ließ sie los, da lachte der Vater glückselig. »Haltet euch nur, Kinder, vor mir braucht ihr nicht so scheu zu thun.« Und Thöni überredet den Vater, heimlich sei sie gar nicht leid zu ihm. Sie aber hat es noch nie dazu gebracht, Thöni nur den kleinen Finger zu strecken oder sich eine Berührung von ihm gefallen zu lassen. Allein an den mißverstandenen Augenblick, an Thönis Vorspiegelungen klammert sich der Vater und betäubt sein schlechtes Gewissen.

Ob er nun glücklich ist? – Nein, er ist ein armer, armer Mann! Er fällt aus den Kleidern, er beginnt zu ergrauen, er lächelt wohl darüber, daß kein Mensch den Bären betritt, aber der Haß des Dorfes peinigt ihn, die Beleidigung, die er dem Garden angethan hat, tötet ihn fast.

Er könnte ein herrlicher Mann sein, das Dorf würde an ihm hangen, aber die Welt mag sterben, er setzt seinen eigenen Willen durch.

Und sie – und sie – dieses viel zu starken Vaters Kind – sie ist schwach geworden – nach unsäglicher Treue doch treulos. Wie sie als Kind gethan, wenn sie hilflos war, beißt sie in die Finger und schaut mit großen traurigen Augen in die sonnige Frühlingswelt.

Da rennen Leute die Straße daher und kreischen: »Es ist ein Toter auferstanden – Josi Blatter, der Rebell!«

Sie schreit auf – sie fällt in die Kniee, sie flüstert: »Er lebt!« und vor ihr versinkt die Welt.


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