Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

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XVI.

Einen Tag zurück.

Binia ist vom Haus des Garden wieder daheim. Mit verkrampften Händen sitzt sie am Rand des Bettes. Die dunkle Flut ihrer Haare ist ihr zu beiden Seiten niedergeglitten, zwei brennende Augen schauen zwischen den Strähnen hervor. Das Gesicht ist starr und blaß wie ein Steinbildnis, aber im Blick funkelt das Leben, strömt die Leidenschaft. Sie stößt einen Ton hervor, wie ein kleines Kind, das seufzt. Es beben die Lippen: »Er ist gekommen wie ein Held – er ist schön wie ein Held!«

Dann wimmert sie und beißt sich die Fingerknöchel wund. »Wie hat er mich genannt? – Frau Thöni Grieg!« Das Wort brennt sie wie eine Hölle im Herzen! »Es ist nicht wahr. Nein. In Ewigkeit nein. – Ich werde es nicht.«

Sie schleudert den Reifen weit von sich.

Sie wankt zum Schrank, sie nimmt aus einer kleinen bemalten Truhe ein goldenes Kettchen, sie öffnet die Kapsel die daran hängt, und ein Tautropfen glänzt. Sie küßt ihn mit glühenden Lippen und sagt: »Wie ein Tautropfen so frisch, so rein, so sonnenvoll habe ich wollen sein, damit ich dir immer gefalle, Josi.«

Die Stimme erbebt zart und fein. Da merkt sie erst, daß ihr die Haare niedergefallen sind. Sie tritt vor den Spiegel und ordnet sie. Und nun lächelt sie doch. Sie ist wohl blaß und ihre Wänglein sind schmal, aber ihre gewölbte Stirn ist rein – und die Lippen sind rein.

Und sie stammelt: »Das Herz ist rein! – Und er liebt mich noch – ich habe es ihm angesehen – ich will demütig sein gegen ihn – o, so demütig – und wenn er mich nicht mehr will –«

Ein Schrei!

Und nun staunt sie wieder: »Wenn der Vater nicht will, wenn Thöni nicht will. Sie wollen nicht!«

Kämpfen, kämpfen will sie jetzt um Josi bis ans Ende – gegen Thöni – gegen den Vater – gegen die ganze Welt. Nein, um das einzige große Glück ihrer Liebe darf sie sich nicht betrügen lassen.

Und wenn sie Josi fortjagt, so will sie zu ihm hinkriechen und betteln: »Dulde mich bei dir!«

Sie sinnt und nach einer Weile tönt wieder ihr kleiner Schrei.

In den fliegenden Gedanken hat sie etwas Sonderbares gehört und gesehen; die Leute haben gesagt, Josi habe geglaubt, Vroni sei tot. Und auf dem Tisch des Garden lagen zwei Briefe. – Ein alter Verdacht zuckt auf: »Warum hat Thöni die Postschlüssel immer abgezogen?« Ist sie hellseherisch geworden aus langer, unbegreiflicher Blindheit?

»In verbrecherischer Weise hat sich Thöni zwischen mich und Josi gestellt.« Mit einem Schlag hat sie die sichere Ueberzeugung gewonnen.

»Ja, jetzt Kampf!« Ihre Augen flammen auf, alles an ihr lebt und bebt. »Du wirst sehen, Vater, du armer, in einen Verbrecher vernarrter Thor, wie ich Thöni liebe.«

Mit fieberglühendem Köpfchen schwankt sie hinab in die Postablage. Sie hat die Hand am Telegraphenapparat: »Postdirektion. In St. Peter ist ein Postverbrechen geschehen. Ich bitte um Untersuchung. Binia Waldisch.« Da läßt sie die Hand sinken – der Schrecken lähmt sie. Der Vater ist der Posthalter, nicht Thöni. Hat je ein Kind seinen Vater den Gerichten ausgeliefert?

Wie mit Wasser begossen schleicht sie davon. Sie weiß ja nicht einmal, ob ihr brennender Verdacht gerechtfertigt ist. Und nun noch ein furchtbarer Gedanke: »Wenn der Vater in seinem wilden Haß auf Josi der Anstifter der Briefunterschlagungen wäre?«

»Schäme dich, Binia,« flüstert sie, »so ist er nicht. – Unerhörte Gewaltthaten haben dir sein Bild verdunkelt, aber du mußt ihm nur in die Augen sehen, in die lieben und schönen Augen, dann siehst du einen gewaltigen Mann, der sich eher würde zerbrechen lassen, als daß er mit Absicht und wissentlich bei einer Schlechtigkeit mithülfe. – Er ist das Opfer – armer, armer Vater!«

Ehe es Morgen wird, will sie hinter den Geheimnissen Thönis sein.

Sie sieht, wie ihr die Blicke der Frau Cresenz mißtrauisch folgen – sie geht in ihre Kammer – – sie liest den Ring Thönis knirschend auf – aber sie bringt ihn nicht mehr an den Finger – sie läßt ihn in die Tasche gleiten.

»Mutter,« flüstert sie, »jetzt sollte dein armes Kind klug sein wie eine Schlange.«

Sie steigt in die große Wohnstube hinab – sie näht – aber die Nadeln brechen und der Faden reißt. Und dennoch denkt sie: »Wie ich heucheln gelernt habe! Nähen – und das Herz zerspringt.«

Sie denkt an alles, was sie mit Josi gemeinsam erlebt hat. Sie sieht die Bilder, als schaue sie in einen Guckkasten: den kleinen Buben, der das wilde Kind herumträgt – den Kuß im Teufelsgarten – den schlafenden Josi, den sie mit Fränzi beschaut – Josi, das Knechtlein, das zerschmettert mit Bälzi geht – Josi, der unter dem Peitschenhieb des Vaters blutet – Josi, der zu Madonna del Lago erwartungsvoll vor der Gartenpforte steht.

Wie hat sie auch nur einen Augenblick vor dem Zorn des Vaters schwanken, einen Augenblick glauben können, Josi sei tot.

Da kommen die Männer heim.

»Hole mir Wein, Bini, ich habe noch einen verdammten Durst,« johlt Thöni, – »schau mich nicht so verächtlich an, Bini, und so seltsam. So, schwillt dir der Kamm wieder, weil der Rebell und Halunke da ist. Es nützt dir nichts. – Am Sonntag muß der Pfarrer unsere Ehe verkündigen!«

»Ins Bett mit dir, Thöni,« keucht und donnert der Presi, der müde und elend auf einen Stuhl gesunken ist.

»Von Euch laß ich mich nicht mehr so anfahren, Presi,« mault Thöni unter der Thür zurück, »wenn ich im Kot bin, so seid Ihr auch drin.« »Geh jetzt,« sagt der Presi matt, »schlafe den Rausch aus. Gelt, Bini, du machst keine Thorheiten wegen des Rebellen!« Thöni schwankt ohne »Gute Nacht« fort.

Sie antwortet dem Vater nicht. Das Linnen, an dem sie arbeitet, ist ihr vom Schoß geglitten. Sie hat das letzte Wort Thönis anders gefaßt als der Vater – für sie ist es ein Schuldbekenntnis, daß an Josi ein Verbrechen geschehen sei.

»Ich gehe jetzt auch zu Bett, es ist mir nicht recht wohl. Gute Nacht, Binia.« Der Vater sagt es so gütig, wie er seit langem nicht mehr geredet hat, aber tiefbekümmert, als hätte er etwas Schweres erlebt.

Binia schläft nicht.

Mitten in der Nacht wandelt sie barfuß und gespensterhaft durch das Haus. Leicht gekleidet schleicht sie von ihrer Kammer durch den Gang zu Thönis Zimmer. Sie lauscht eine Weile an der Thüre. Der drinnen schnarcht laut. Sie öffnet die Kammer, läuft auf den bloßen Zehen zu Thönis Kleidern und zieht daraus den Schlüsselbund, er klirrt leise, der Schläfer wendet sich auf die Seite, sie huscht in den Mondschatten, aber einen Augenblick später schnarcht er weiter, sie huscht zurück durch Gang und Treppen abwärts bis zur Postablage.

Sie entzündet Licht, schließt Pult und Truhen auf und findet, was sie sucht, in einer kleinen Schublade – Briefe – die Notschreie Josis um sein totes Schwesterlein und um sie.

Sie küßt sie – ihre Augen blitzen – ein bleiches Lächeln geht über ihr Gesicht. »Darum hast du so viel trinken müssen, Thöni, du Schuft! Aber ein Narr bist du wie alle, die Schlechtes thun. Sonst hättest du die Briefe vernichtet.« Aus der Ferne hört sie den gleichförmigen Gesang des Wächters, der mit seinem Spieß taktmäßig auf das Straßenpflaster schlägt. Sie löscht das Licht aus, bis er vorübergegangen ist.

Dann entzündet sie es wieder. Ein jubelndes Triumphgefühl steigt in ihr auf – sie will am Morgen die Briefe dem Vater vorlegen – Thöni ist geschlagen, das Feld für Josi frei. – Und vor Josi will sie sich rechtfertigen – so bald als möglich.

Sie schreibt in fliegender Hast ein paar Zeilen, die ihn in den Teufelsgarten bestellen, steigt durch den Untergaden ins Freie und hängt den Brief mit Hilfe einer Stange, einer Nadel und eines Fadens an die Haken des Fensters, hinter dem Josi schlafen muß, und kehrt leis zurück.

Alles was sie thut, thut sie wie im Traum – sie ist ihrer Sinne nicht mächtig, so hämmert die Brust – sie taumelt durchs Haus, sie tritt wieder in Thönis Zimmer, sie steckt den Schlüssel in seine Kleider, sie betrachtet einen Augenblick den Schläfer, sie hebt die geballte Faust: »Josi hast du gemartert und schläfst so gut.«

In ihren Augen funkelt der Haß, sie flüstert: »Weiß Gott, ich könnte Judith sein.«

Fort eilt sie und nun ist ihr doch, sie höre etwas. – Das Entsetzen rüttelt sie – sie hat den Vater seufzen gehört – aber sie hat nicht gewagt, sich umzusehen. War es nur Einbildung der gespannten Sinne, daß er unter der Thür seiner Kammer stand.

Wie eine Bildsäule lehnt sie noch im Morgenrot mit gefalteten Händen an ihrem Bett, blaß und aufgeregt, aber in furchtbarer Entschlossenheit. Sie muß mit dem Vater reden – rasch – rasch.

Am Morgen aber meldet Frau Cresenz, der Vater sei krank, und wie Binia doch zu ihm heraufsteigen will, da fleht jene, daß sie ihm Ruhe gönne.

Daran hätte sich Binia nicht gekehrt, es handelte sich jetzt gewiß um mehr als Ruhe, aber – ihr selber liegen die Erregungen der Nacht wie Blei in den Gliedern – sie hätte die Kraft nicht, mit dem Vater zu reden, wie sie müßte – sie könnte nur weinen.

»Wohl, wohl,« meint Frau Cresenz, »das wird eine heitere Wirtschaft auf den Sommer, der Präsident ächzt, du bist so zitterig wie Espenlaub und von Thöni mag ich schon gar nicht reden – der war heute früh wie eine Leiche – die Post hat er nicht besorgt – er hockt schon wieder beim Glottermüller und säuft. – Und ich überlege, ob ich nicht fortlaufen will.« – –

Der Presi sitzt in seiner Stube im Lehnstuhl und stöhnt: »So viel Elend! – Die Dörfler drohen mit Aufruhr – der Garde ist wild über mich – die Wildleutlaue steht in Sicht – und nun ist auch der Rebell wieder da – der unheimliche Rebell, von dem man nicht weiß, woher er in allen Dingen seine Stärke hat.«

Wie sonderbar hat er es im Kreuz zu Hospel vernommen, daß der zurück ist. Die Bräggerin plauderte so harmlos, als ob sie nichts merke. Thöni aber stürzte Glas auf Glas und in seinem Rausch sagte er auf dem Heimritt immer nur, er werde den Rebellen töten.

Er hat sich an der letzköpfigen Aufregung Thönis geärgert – er konnte nicht schlafen vor Verdruß. – Da – da – hört er eine Thür gehen – er streckt den Kopf aus dem Schlafgemach – – Binia schleicht leichtgekleidet und barfuß aus Thönis Kammer und huscht hinüber, wo sie und die Mägde schlafen – Bini – seine Bini. – Ist's möglich – sie in der Nacht bei Thöni – sie, die sich immer gegen ihn gewehrt und gesperrt hat – sie, das wilde und doch so keusche Blut ist so wohlfeil geworden.

Er ächzt – er stöhnt. – Es ist unfaßbar, daß Binia zu Thöni gegangen sei, aber was das Auge sieht, glaubt das Herz. Er hat gestern abend einen Groll gegen ihn gefaßt – und die Wahrheit – er hat schon lange etwas gegen ihn. Wie, wenn Thöni doch nicht der rechte Schwiegersohn wäre? Es ist ihm furchtbar zu Mute. Er hat mit der Verlobung das Dorf schlagen wollen, nun ist ihm, er habe sich selber und Binia geschlagen. Das arme Kind – der liebe, lose Vogel – ob ihm nun die Wiederkehr Josi Blatters nicht das Herz bricht. Und in heißen Stößen spürt der Presi, wie er Binia liebt, die arme Maus, die sich mit Thöni vergessen hat. – Er möchte sie schlagen vor Wut, er möchte vor ihr niederknieen: »Bini, meine einzige, sage es deinem alten Vater, was er gesehen hat, sei nicht wahr.« Aber er kann das Kind nicht rufen. Vor eigener Scham. Sein Herz klagt ihn schreiend an: »Ich habe sie mißhandelt. Und der Mensch ist wie ein Pferd. Das edelste Tier wird, wenn es genug Schläge bekommen hat, störrisch und stürzt sich in den Abgrund.«

So ist Binia gestürzt, sein herrliches Kind – sein ist die Schuld – er darf ihr nicht mehr in die Augen sehen.

»Möge dich Gott schlagen,« hat er einmal gesagt – und Gott hat sie geschlagen. Es ist schrecklich. – Eine Umkehr giebt es nicht mehr, nur Eile vor dem Rebellen. Am Sonntag muß der Pfarrer die Ehe Thönis und Binias verkündigen. Ein Glück ist in diesem grenzenlosen Elend: Binia weiß jetzt, daß das Spiel mit Josi Blatter aus ist – das ist vorbei!

Es ist ein furchtbar bleiches Lächeln der Genugthuung, das um die Lippen des Presi spielt.

Josi Blatter bringt er nicht aus dem Kopf. Er ist in Ehren und mit guten Zeugnissen aus der weiten Welt zurückgekehrt. – – Ja, er ist halt Fränzis Sohn, das ist seine geheimnisvolle Kraft.

Der Presi keucht und schwitzt. Da pocht es, Frau Cresenz bringt ihm einen Brief, den der Viehhüter Bonzi abgegeben hat. Er trägt die knorrige Schrift des Garden.

Der Presi ahnt nichts Gutes, erst als Frau Cresenz gegangen ist, öffnet er das Schreiben.

»Presi!« schreibt der Garde, »ich laufe Euch nicht nach, aber wenn Ihr zu mir kommen wolltet, so hätte ich Ernstes mit Euch zu reden. Ich habe die Beweise in den Händen, daß Thöni Grieg an Josi Blatter einen gottlosen Brief geschrieben, die Schrift gefälscht und das Schreiben mit meinem Namen mißbräuchlich unterzeichnet hat. Ferner besitze ich von der Post in Hospel die Bescheinigung, daß zwei eingeschriebene Briefe, darunter der des Gemeinderates an den Konsul in Kalkutta, im Postbuch nicht vermerkt und also nicht durch Hospel gegangen sind. Thöni Grieg hat also diese und andere unterschlagen. Ich hoffe, daß Ihr nicht Mitwisser des Verbrechens seid.«

Der Presi liest den Brief nicht zu Ende – er neigt das blasse Haupt auf die Seite – seine Hände zucken – er will aufstehen – es geht nicht – mit vorgelegten Armen läßt er den Kopf fallen. – Aus der Brust des Gerichteten stöhnt es, wie wenn eine gewaltige Eiche sich zum Falle rüstet.

Der Sturz einer Eiche. Wer das Bild einmal gesehen hat, vergißt es nie! Es seufzen tief unter der Erde die Wurzelgrüste, es bebt die Krone, die Vögel flattern schreiend heraus, die Käfer kriechen aus der Rinde und rennen davon, quiekend würgt es in den Stammfasern, als ob sich Jahrhunderte trennen, es ist ein Knistern und Brechen, ein geheimnisvolles Raunen von Abschiedsstimmen – das Fallen einer Eiche ist eine ganze Schlacht.

Eine würgende, ächzende Schlacht ist in dieser Stunde das Leben des Presi.

Er zweifelt nicht. Er wütet nicht, aber sein leises Zittern ist schrecklicher als ein lauter Ausbruch der Wut.

Wenn die Eiche vor dem Falle erbebt, so sagen die Holzleute: »Der Baum redet!«

Der Presi redet.

Mit zuckenden Lippen murmelt er: »Nein, Garde. – Gott weiß es – ich bin unschuldig – Bini – Vogel – meine Ehre und deine Ehre durch einen Schuft dahin.«

Sein Wort klingt wie eine sanfte, feierliche Knabenstimme. Die dünnen spärlichen Thränen des Alters rinnen über seine Wangen. Er merkt es erst, wie sie auf seine Hände fallen. Die Thränen beelenden ihn noch mehr. Sechsundzwanzig Jahre hat er nicht geweint. Er hat es beim Tode der Beth nicht gethan, sondern das letzte Mal, als er Fränzi um ihre Hand bat.

»Fränzi, – Sepp Blatter,« stöhnt er, »erbarmet euch meiner – ich gebe nach!« »Ich gebe nach – ich will hinter sich machen – Zuerst mit Bini. – – – – Ja, wenn es ginge! Aber sie ist aus Thönis Kammer gekommen!«

Und das Wort Thönis: »Wenn ich im Kot bin, seid Ihr auch drin,« tönt in seinem Ohr wie die Posaune des Gerichts.

Da murmelt er in seinen wilden Schmerzen: »Für den Rebellen thut sie es schon noch,« doch er hat es kaum gesagt, so rauft er sich das Haar: »Nein – nein – das gilt nicht – das habe ich nicht gedacht.« Er zuckt in der gräßlichen Furcht, daß dieser eine schlechte Gedanke schon wieder ein neues Verhängnis zeitige, und die Stunde ist da, von der der Garde gesprochen hat. »Auf den Knieen würdet Ihr zur Lieben Frau an der Brücke rutschen, wenn Ihr Bini nur dem Josi geben könntet und Ihr sie friedlich wüßtet.«

Die Stunde ist da – sie ist gekommen wie ein Dieb über Nacht.

O, wie der wilde Presi zahm ist und betet.

Ein schönes Alter. – Nein, kein schönes Alter. – Binias Augen reden: Vater, warum hast du mich in die Hand eines Schuftes gezwungen und ich hätte glücklich sein können mit Josi Blatter, der ehrenvoll aus der Fremde heimgekommen ist.

»Frieden. – Frieden! –«

Wieder sinkt sein Kopf. Er sieht es nicht, wie Frau Cresenz angstvoll kommt und geht. Er weiß nicht, wie viele Stunden er in brütender Vernichtung sitzt, er hört es nicht, wie der wachsende Föhnsturm pfeift und an den Fenstern rüttelt.

Sein Leib ist lahm, seine Glieder sind gebrochen. endlich aber steht er schwankend auf, er nimmt Rock und Hut und steigt die Treppe hinab. »Wo ist Bini?« fragt er Frau Cresenz. Er leidet furchtbare Angst um das Kind – es ist ihm, es schwebe in drohender Lebensgefahr – und doch, nein, er möchte sie nicht sehen – er schämt sich vor Binia und für sie.

»Sie hat so stark den Föhn im Kopf – sie hat nicht mehr stehen können – sie ist in ihre Kammer gegangen,« jammert Frau Cresenz. »Um tausend Gotteswillen redet jetzt nicht mit ihr.«

»Föhn im Kopf,« grollt der Presi dumpf – »ich gehe jetzt zum Garden – und ich hoffe, daß mir Thöni nicht begegnet – sonst muß er sterben.«

Das letzte sagt der Presi so fest, wie es ein Richter sagen würde.

Frau Cresenz schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: »Was giebt es auch, Präsident, was giebt es?«

Da schleudert er ihr den Brief des Garden vor die Füße und geht.

Allein in der Dämmerung geht er nicht gleich zum Garden, er schwankt, ohne zu wissen, was er thut, hinüber zum Neubau, steht eine Weile davor, schüttelt den Kopf und wendet sich wieder zum Gehen.

Da hört er plötzlich ein gräßliches Lachen. Kaplan Johannes mit dem Bettelsack steht neben ihm. »Herr Presi, merkt Ihr es nicht, es kommt ein Wetter. Geht doch lieber zum Glottermüller, dort zahlt einer Wein, so viel man will, und erzählt den Leuten lustige und traurige Geschichten aus dem Bären von St. Peter.«

»Du räudiger Pfaff!« schreit der Presi, er stürzt sich auf den Kaplan und mißhandelt ihn. Unter heulenden Flüchen flüchtet der Letzköpfige, er droht: »Ich will doch einmal mit Eurer Tochter tanzen!«

Das andere versteht der Presi nicht.

»Zu allem Elend den Hohn. Aber warum sollte man mich nicht auslachen, mich, den alten Thor, der sein Kind in die Arme eines Verbrechers gezwungen hat. Und der Schuft hockt noch in St. Peter? Eine Axt will ich nehmen und ihn erschlagen.«

Er schwankt nun aber doch zum Garden, zu dem schwer beleidigten ehemaligen Freund. Bitter wie noch kein Gang in seinem Leben wird ihm der Besuch. »Garde,« keucht er, »verzeiht mir, und Josi Blatter lasse ich danken, daß er nicht klagt.«

Mehr würgt er nicht hervor, der Garde will ihm die Beweise vorlegen, aber ein Blick, und der Presi nimmt plötzlich den Hut und stürmt fort.

Beim Garden hat er das Glück gesehen, das innige Familienglück um Vroni, in seinem Haus aber wütet das Unglück.

Er stürmt durch die Nacht. Wer nicht ein Dörfler ist, fände jetzt den Weg nicht. Der Föhnsturm singt an den Felsen ringsum, er stöhnt, er jauchzt und die Wolken hangen so tief ins Thal, daß sie das Dorf fast erdrücken. Ferne Lawinen donnern, es regnet in starken einzelnen Tropfen. Jeder Regentropfen thut dem Presi im brennenden Gesichte wohl.

Zuletzt kommt er doch wieder heim; der wirre Mann ächzt: »Präsidentin, ich muß zu Bett – ich glaube, es ist meine letzte Nacht – ich habe mein Herz gewendet – aber ich weiß schon – es kommt noch mehr – es kommt noch mehr.« Gräßliche Furcht rüttelt ihn.

Früh schon ist der Bären dunkel. Einige Stunden später steht im Wettersturm ein Mann vor dem unglücklichen Haus, und wie es elf Uhr schlägt, öffnet er die Thüre.

»Bist du es, Thöni?« kreischt Frau Cresenz, die ihn trotz dem Sturme gehört hat, angstvoll. Keine Antwort. Da rennt sie halb angekleidet die Treppe hinunter, Thöni kommt aber schon wieder aus der Postablage und eilt ins Freie.

»Thöni, was thust du?« schreit sie angstvoll.

»Lebt wohl, Tante, Frau Präsident,« ruft er. »Nach der Postkasse fragt nicht – ich gehe nach Amerika – und der Revolver ist für Verfolger geladen.«

»Er geht den rechten Weg,« knirscht der machtlose Presi, der sich ans Fenster geschleppt hat.

Eine Nacht ist eingefallen, wie man sie im Bergland selten erlebt.

Der Föhn fährt in Stößen von den Gipfeln, heiß im einen Augenblick, im nächsten bis ins Mark erkältend. Die Wolken jagen sich, stieben schwarz und schwer über die Hausdächer dahin, die Blitze erleuchten das Thal taghell, die schäumenden Wasser der Glotter erglänzen. Dann ist wieder pechschwarze Nacht. Jetzt spielen die Feuerflammen um die Krone, der Firn funkelt und leuchtet. Unaufhörlich knattert der Schnee- und Eisbruch im Gebirg, an den Bergwänden verfängt sich der schmetternde Donner, rollt und grollt, das Krachen der frischen Schläge wird verstärkt durch den Wiederhall der vorangehenden und rings im Gebirg sind die Runsen los. Die Berge wanken, es ist, als ob, was tausend Jahre fest und starr gewesen ist, plötzlich lebendig würde und wandern müsse. Es ist ein Bild wie Weltuntergang! Die Welterglocken von St. Peter wimmern durch den Aufruhr der Elemente.

In allen Häusern brennt Licht, um den Tisch sammeln sich bleiche Gesichter, in den Händen der Beter beben die Kruzifixe, und selbst die Gottlosen falten die Hände und seufzen: »Herr! – Herr!« –

»Es ist eine Totennacht,« flüstern die Aelpler. In dieser Nacht steht nach uralter Sage ein geheimnisvolles, im Bergland begrabenes Kriegsvolk auf und zieht zur Heimat. Da darf niemand ins Freie blicken, denn wer die Reiter sieht, wird vor Schrecken siech:

Es donnern die reitenden Boten:
»Gebt Raum für das irrende Heer,
Es fahren, die Goten, die toten,
Vom Bergland ans heilige Meer.«

Frau Hulder auf leuchtendem Schimmel
Sprengt jauchzend den Reitern voran.
Sie ziehn auf der Erde, am Himmel;
Sie kämpfen und brechen sich Bahn.

Von reisigen Vätern und Söhnen,
Wallt klirrend der Heerzug durchs Thal, –
Die Trommeln, die Hörner erdröhnen –
Sie reiten in brennender Qual.

Schaut – allen die fahren und fliegen.
Strömt aus den Wunden das Blut,
Die weinenden Mütter, sie wiegen
Im Arm die erschlagene Brut.

So reiten und ziehen die Goten,
Der schallende Hornruf ergellt:
»Hu-hoi, hu-hoi! Wir Toten
Sind Herren der lachenden Welt.«

In dieser Nacht schwitzt der Presi Blut: »Es kommt noch mehr – es kommt noch mehr!« Ja, Herr Presi, es kommt noch mehr.

In dieser Nacht stehen im Teufelsgarten eng aneinander geschmiegt zwei Liebende. Und zärtlich spricht der junge Mann: »Bini, weil ich dich rein erfinde wie einen Tautropfen, will ich das große Gelübde meiner Jugend halten.«

»Josi« – es tönt wie ein kleiner Schrei, »Josi, mein Held!« Sie umarmen sich, sie küssen sich, sie flüstern es einander selig zu, daß es kein Leben mehr giebt als eines im anderen.

In dieser Nacht flieht ein Mann, den das schlechte Gewissen jagt, thalaus.

Wie er am Teufelsgarten vorbeirennen will, zuckt eine Blitzschlange durch die Glotterschlucht und erleuchtet sie taghell. Er sieht das engverschlungene Paar. Aus dem Revolver blitzen die Schüsse, die Kugeln zischen. Die Schlucht wird dunkel, am Glottergrat kracht es und ein gewaltiger Donner erstickt die Stimmen eines Kampfes, der im Teufelsgarten wütet, und übertönt den Sturz eines Mannes, der in der Glotterschlucht versinkt.

Im ersten Morgengrauen geht das Liebespaar blaß und eng aneinander geschmiegt den Stutz empor und der Mann flüstert dem bebenden Mädchen zu: »Arme Bini – das habe ich nicht gewollt – so elend müssen wir sein – nun mag uns Gott helfen.«

Wie er es sagt, schießt johlend Kaplan Johannes am Wegrand auf.

»Hoho! – Rebell und Hexe,« lacht er drohend, »ich komme auch an eure Hochzeit.«

Und während des Männerkampfes im Teufelsgarten ist die Wildleutlawine gegangen.


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