Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

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II.

Der Gasthof zum Bären war ein Altertum des Dorfes St. Peter. Die Ueberlieferung berichtete, das aristokratische Haus sei, als noch ein Saumweg über die damals weniger vergletscherten Berge nach Welschland geführt habe, eine Sust, eine Warenniederlage, gewesen, wo die Maultiere gewechselt wurden. Man erzählte sich, die Knappen des Bergwerkes hätten, wenn sie ihr Silber und Blei über die Berge nach Welschland führten oder von dort mit dem Erlös zurückkamen, im Bären hart gezecht, aus silbernen Bechern getrunken, mit silbernen Kugeln gekegelt und manchmal sommerlang fröhliche Italienerinnen als Spielgefährtinnen in dem Haus einquartiert.

Nur als Nachklang lebte die Erinnerung an diese üppigen Zeiten in St. Peter fort, das Leben ging jetzt in Haus und Dorf den gemessenen stillen Gang der einsamen Alpendörfer. Seit zwei- oder dreihundert Jahren stand das Bergwerk still; so glänzend, wie es die Sage schilderte, mochte das Knappenleben nie gewesen sein. Das Schmelzhaus war eine Ruine und der alte Paßweg nach Welschland mit seinem Verkehr war verschollen, an den Erzreichtum der Gegend erinnerten nur noch die schönen Drusen und Gesteinsblüten, die man da und dort als Schmuck hinter den Fenstern der Wohnungen sah.

Für den vielhundertjährigen Bestand des Bären aber sprachen seine massive Bauart und die Jagdtrophäen, die am Dachgebälk befestigt waren: gebleichte Steinbock- und Wolfsschädel, besonders ein eingetrocknetes mumienhaftes Bärenhaupt, das als Wahrzeichen des Hauses an einer Kette gegen die Thüre und die Freitreppe hinunterhing, die mit schönem eisernem Geländer zum Eingang emporführte. Die weißgrauen Zähne des Hauptes waren vermorscht und verwittert; die Jagdzeichen reichten wohl bis in die Zeit der Venediger zurück, denn so lange schon gab es im Glotterthal weder Bär noch Wolf, und seit dem Anfang dieses Jahrhunderts sind auf den Felsen und Firnfeldern der Krone die Steinböcke ausgestorben.

Ueber dem Fenster neben der Treppe prangte als eine neuere Zuthat am alten Bau die Inschrift »Postbureau St. Peter« und der eidgenössische Postschild.

Die stattlichen Wirtschaftsräume des Bären befanden sich im ersten Stock; helles Arvengetäfel, aus dem die dunkeln Astringe wie Augen schauten, und alte geschnitzte Wappenzier an den Decken fesselten den Eintretenden. Der Hauptschmuck der großen Stube war ein alter Leuchter, der ein Meerweibchen darstellte, dessen Leib in ein Hirschgeweih auslief.

Am Eichentisch unter dem Leuchter sahen der Bärenwirt Peter Waldisch und Hans Zuensteinen, der Garde.Garde (französisch garde, Hüter) nennt man in den Thälern, wo »Wässerwasserfuhren« bestehen, dasjenige Gemeinderatsmitglied, das die Aufsicht über die Wasserleitung hat.

Sie prüften das Fäßchen Eigengewächs, das jener gestern in Hospel draußen geholt hatte.

»Wie Feuer, meiner Treu!« sagte der rauhbärtige Garde, das eine Auge zukneifend und durch das erhobene Glas blinzelnd, in dem der Weißwein sonngolden erglänzte – »aber, aber, Presi,« seine Stimme wurde plötzlich sehr ernst, »die Abmachung mit Seppi Blatter ist nichts. Wenn der ganze übrige Gemeinderat dafür ist, so bin ich dagegen. Man dürfte ja Fränzi, Vroni und Josi nicht mehr ins Auge sehen. Sagt mir einmal ehrlich, wie stark hat bei seiner Unterschrift der Hospeler die Hand geführt?«

Der Presi und Bärenwirt, der den rauhen untersetzten Garden um Kopfeslänge überragte und neben ihm wie ein rechter Bauernaristokrat erschien, lächelte verlegen und rückte auf dem Stuhl.

»Wollt Ihr lieber das Los entscheiden lassen?« fragte er lauernd.

Der Garde knurrte wieder, nach einer Weile fragte er aufs neue: »War Seppi nüchtern?«

»Man macht keinen Handel, es ist ein Glas Wein zur Ermutigung dabei. Ich war grad in guter Laune, ich ließ ein paar Flaschen Hospeler fließen, Seppi aber war ziemlich nüchtern.«

Der Garde schüttelte bedächtig den Kopf, in den starken Furchen seines breiten Gesichtes spiegelte sich Mißbilligung und Sorge, erst nach einer Weile sagte er: »Das Ding ist nichts.«

Dem Presi lag augenscheinlich daran, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, lachend rief er: »Zum Wohl, Garde!« Und als nun die Gläser zusammenklingelten, fuhr er fort: »Warum ich gestern so hellauf war, Seppi Blatter, Bälzi und dem Bäliälpler ein Glas vom guten Hospeler schenkte, will ich Euch verraten. Es ist eine Ueberraschung –. Ich führe wieder eine Wirtin in den Bären.«

Da sprang der schwerfällige Garde auf: »Was Ihr meldet, Presi! Wer ists?« Die ehrliche Neugier stand ihm im Gesicht.

»Unter vier Augen und nur zu Euch – Frau Cresenz, die Schwester des Kreuzwirtes in Hospel. Wir haben die Angelegenheit gestern ins reine gebracht.«

»Ich wünsche Euch Glück,« sprach der Garde feierlich und schüttelte dem Wirt kräftig die Hand. Dann setzte er sich und knurrte in einem Ton vor sich hin, der nicht entscheiden ließ, ob darin eine Zustimmung oder Mißbilligung liege.

»Was sagt Ihr dazu?« fragte der Presi.

»Cresenz wird dem Bären schon wohl anstehen, sie hat sich als Witwe gut erhalten, ist mit ihren fünfunddreißig Jahren eine hübsche Frau, sauber und flink, sie versteht das Wirten und den Umgang mit den Leuten wie keine andere, hat einen tadellosen Ruf, kurz, ich meine. Ihr führt eine geschickte Frau ins Haus. Aber –«

Der Garde stockte.

»Aber?« – wiederholte der Presi.

»Cresenz ist aus einem so großen Gasthof und an das Fremdenleben so gewöhnt, daß es ihr hier bei uns hinten, wo doch nur Bauern und Alpleute sind, langweilig wird.«

Der Bärenwirt lachte: »Falsch, Garde, falsch! – Dafür ist gesorgt. Ein schönes Stück wird schon sein, Bini zu ziehen. Das Kind ist verwildert; denkt nur. gestern kam sie mir barfuß bis nach Tremis entgegen, es hat mich geschämt vor den Leuten. Ich habe keine Zeit, mich mit ihr abzugeben, die kropfige Susi, das Keifweib, wird nicht Herr über sie, fahre ich aber einmal mit einem Donnerwetter dazwischen, so schilt sie mich frank einen Rabenvater.«

Die beiden Männer lachten herzlich – es schien, der Streit von vorhin sei in lauter Freundschaft aufgelöst.

Da räusperte sich der Garde: »Haltet, wenn Ihr jetzt eine frische, hübsche Frau bekommt, nur die Beth selig in Ehren und gutem Andenken.«

Das Gesicht des Bärenwirts verfinsterte sich.

»Aber das gebt Ihr doch zu,« sagte er mürrisch, »Frau Cresenz wird eine bessere Wirtin als die arme selige Beth.«

»Alle Leute im Dorf haben sie geliebt und verehrt, nur Ihr nicht. Sie war eine Frau wie ein Engel, sie hat nur das Unglück gehabt, da sie Euern hochfahrenden Plänen nicht hat folgen können und nicht hat wollen. Sie war eine, wie wir alle im Dorfe sind: einfach und fromm, stets auf den Frieden im Leben und die Seligkeit im Himmel bedacht. Ihr aber gleicht von jeher mehr den Leuten draußen in der Welt, hastig und unruhig seid Ihr immer voll Pläne, habt Ihr immer eine ganze Menge Dinge umzutreiben. Da wird Euch allerdings Cresenz besser verstehen als Beth!«

Der Presi lächelte überlegen: »Handel und Wandel, mein' ich, giebt dem Leben das Salz und« – er klopfte dabei auf den Tisch – »mit Frau Cresenz wage ich es. Der Bären soll ein Fremdengasthof werden, ich nehm's mit dem Pfarrer und euch allen auf.« »Presi!« Das Blut war dem Garden in den Kopf geschossen. »Presi, das thut Ihr nicht!«

»Ihr werdet's schon erleben.« Die Augen des Bärenwirtes blitzten übermütig und unternehmungslustig.

»Der Pfarrer wird Euch von der Kanzel angreifen und alle werden mit ihm gegen Euch sein!«

»Der hochwürdige Herr soll das Geistliche besorgen, das Weltliche besorgen wir schon.« Der Presi lachte und fuhr dann fort: »Ich will Euch verraten, warum er keine Fremden will. Es sind jetzt vierzig Jahre, daß er nach St. Peter gekommen ist. Da stieg über die Schneelücke herunter der erste Fremde, ein berühmter Naturforscher, der mit seinen Führern die Krone erklettert hatte. Die Leute von St. Peter erstaunten darüber so sehr, daß sie den Pfarrer riefen, vielleicht sind's Gespenster!' sagte er und ordnete eine Prozession an, damit man ihnen entgegenziehe. Als der Bergsteiger, seine Führer und Träger kamen, spritzte er ihnen Weihwasser entgegen und schrie: ›Apage, apage Satanas‹. Auf dieses Zeichen trieben die von St. Peter die Fremden um das Dorf herum und jagten sie den Stutz abwärts. Glaubt, Garde, wegen der Schande von damals will der Pfarrer nichts von Fremden missen, er fürchtet, die Geschichte, wegen der wir von St. Peter in den Büchern als ein rauhes und dummes Volk verschrieen sind, werde dadurch frisch!«

Der Garde hatte sich beruhigt: »Der Pfarrer ist gegen den Fremdenverkehr, weil er von ihm das Verderben des Dorfes fürchtet. Er hat recht. In Grenseln, wo jetzt auch zwei Gasthöfe sind, hat erst diesen Frühling ein Mädchen, das im einen diente, ein Uneheliches bekommen. Denkt die Schande!« »Ja, aber die Forellen aus meiner Fischenz in der Glotter und den Hospeler aus meinen Bergen würde ich gern etwas besser verkaufen, als es bis jetzt geschehen ist.«

»Werdet nicht zum Fluch von St. Peter, Presi. dafür hat Euch wahrlich die Gemeinde Euer Amt nicht gegeben. – Ich muß jetzt von etwas sprechen, wovon man eigentlich nicht reden soll, so wunderbar heilig ist es. Hat je eine Lawine das Dorf St. Peter getroffen? Nie! Und doch wohnen wir unter den Firnfeldern der Krone und sie hätten freien Weg.«

»Ich weiß schon, wohin Ihr zielt, aber ich bin nicht abergläubisch; die armen Seelen kommen in die Hölle, nicht auf die Gletscher. Das sagt ja der Pfarrer selbst,« höhnte der Wirt, »der wird's wissen!«

In diesem Augenblick schaute ein etwa fünfzehnjähriger Junge blöd durch die halbgeöffnete Thüre.

»Nur hinein, Eusebi!« Lustig schob Binia den ungelenken schwächlichen Burschen mit beiden Händen vom Flur in die Stube.

»Was willst, Eusebi?« fragte der Garde freundlich.

»S–s–sollst h–h–heim–k–k–ommen, V–v– vater. Ei– ein R–rind ist k–k–kr–rank auf d– d–er Alp.«

Der Stotterer schämte sich seines Uebels, er wußte nicht wohin blicken.

»Sei nur ruhig, Eusebi, ich komme!« Der Garde stand auf und der Presi gab ihm bis auf die Freitreppe das Geleit.

Dort säumten die Männer noch einen Augenblick.

»Also wir müssen auf alles gefaßt sein, die Wildleutlaue kann jede Stunde gehen,« sagte der Presi ernst. »Ja, aber noch einmal gesagt, die Machenschaft mit Seppi Blatter ist nichts,« erwiderte der Garde. »Im übrigen hoffe ich, daß ich bei der WassertröstungWassertröstungen nennt man die Gemeindeversammlungen, in denen Beschlüsse über die Wasserleitungen gefaßt werden. das Amt niederlegen kann. Ich bin der Geschichte satt.«

»Das nicht, das nicht; über Seppi Blatter aber reden wir im Gemeinderat.«

Die Männer schüttelten sich die Hände.

»Nichts für ungut!« sagte der Garde, »ich rede frei von der Leber, anders hab' ich's nicht gelernt.«

Binia aber rief: »Nicht wahr, Eusebi darf noch bei mir bleiben.«

»Gewiß,« lächelte der Garde wohlgefällig, »ich habe nichts lieber, als wenn er bei anderer Jugend ist.« Da riß die wilde Binia den scheuen Jungen mit sich.

Der Garde, der ganz aus Eisen zusammengesetzt schien, ging langsamen Schrittes durch die kleinen Aecker zur Hütte des Wildheuers Seppi Blatter. Er hatte schwer zu denken und wiegte den mächtigen Kopf: Was für ein merkwürdiger Mann ist doch der Presi! St. Peter ist zu klein für seine rastlose Betriebsamkeit. In allem hat er die Hand. Er hat seine Schuldscheine auf Aeckerchen und Alpen, er beherrscht als Vermittler zwischen den Sennen und den fremden Händlern den Käse- und Viehhandel, er ist Posthalter und hat damit den Einblick in allen Verkehr und nun will er noch Fremdenwirt werden.

Dazu die schlechte voreilige Anbändelei mit Seppi Blatter! – Was hat er für einen Zweck dabei? Keinen! Eine Laune ist's, ein Stück sträflichen Uebermutes. Da war er bei der Hütte angekommen.

»He, fleißige Vroni, wo ist der Vater?«

Vroni saß auf dem moosüberwachsenen Block, der das Häuschen schirmte, sie flocht mit flinken Fingern an einem jener Strohbänder, woraus die Glotterthalerinnen die zierlichen Hüte machen, die sie tragen. Nebenbei überwachte sie die drei Ziegen, die, mit den Schellen klingelnd, zwischen hohen roten Enzianen und blauem Eisenhut sich ihr Futter naschten.

»Vater, Mutter und Josi wildheuen an den Bockjeplanken; kann ich dem Vater etwas ausrichten, Pate?«

»Er soll unter Licht bei mir vorbeikommen. Guten Abend, artiges Kind –«

Damit stoffelte er den Berg hinan. Vroni hatte aber von ihm einen Blick aufgefangen, der ihr zu denken gab. In seiner Freundlichkeit war ein sorglicher Ton gewesen, der ihr in den Ohren nachklang.

Wie gestern rollte auch heute in einem fort Lawinendonner in stärkeren und schwächeren Schlägen vom Gebirg, und plötzlich fiel ihr der Vater ein. Sie wußte nicht warum. Doch! Er war am Morgen so blaß gewesen, er hatte gesagt, er habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen wegen des Donners.

Vroni bemerkte es in ihrem Sinnen nicht, daß eine behende Gestalt wie ein Wiesel über die Felsen hinaufgeklettert kam, sie erschrak ordentlich, als Binia ihren Arm um sie schlang. Und dann sah sie den scheuen Eusebi unten stehen.

»Komm, Sebi, komm!« Er kletterte, setzte sich zutraulich zu den zwei Mädchen, seine Augen glänzten in stiller Freude. »Vroni und Bini wissen, daß ich nicht so einfältig bin, wie die Leute meinen,« dachte er.

»Vroni, wie geht die Geschichte von den heligen Wassern weiter, mir hat die ganze Nacht von der Wildfrau Gabrisa geträumt, sie war aber nicht schwarz, sondern blond wie du!« scherzte Binia.

Vroni lachte, dann mahnte sie: »Du, von Josi darfst du keinen Kuß mehr bekommen!«

Eusebi riß die Augen auf: »K–k–kuß,« stammelte er verwundert.

»So!« Lustig stellte Binia die weißen Zähne. »Erzähle jetzt nur, Vroni. Josis Kuß war ja nur Spiel.«

Da legte Vroni, wie sie es gewohnt war, die Hände über das Knie und sah in die Weite: »Ich fange jetzt gleich an, wo ich gestern zu überdenken aufgehört habe, ich mag das Gleiche nicht zweimal sagen.«

»O, das macht mir und Sebi nichts, wenn du nur erzählst,« versicherte Binia.

Da begann Vroni:

»Man wunderte sich, wie die Wildleute Wasser in die Weinberge hinaufführen oder tragen werden und viele Leute gingen nach Hofpel hinaus, um es selber zu sehen. Die Wildleute fingen aber bei St. Peter zu arbeiten an, sie hieben Bäume um und höhlten die dicken Stämme fast ganz aus, so daß breite und tiefe Kännel entstanden. Den ersten legten sie an das Gletscherthor, aus dem die Glotter ins Thal läuft, und dann viele Hunderte daran, den Anfang des einen in das Ende des anderen, immer fast eben hin. Von Zeit zu Zeit prüften sie, ob das Wasser hindurchfließe, und wenn es lief, so tanzten sie vor Freude und klatschten in die Hände. ›Alleweil sanft, alleweil sanft,‹ riefen sie sich zu, und da ihnen der Boden des Thales zu rasch abwärts ging, zogen sie die Kännel den Berg entlang, so daß sie viel höher als der Thalboden zu liegen kamen und sich hoch am Berg dahinwanden. Die Thalleute wunderten sich, daß sich die Wildleute so viel Mühe gaben, sie wußten nicht, was werden solle. Die Wildleute aber riefen:

›Sunneschyn, ja Sunneschyn
Macht die ruchen Wasser fyn!‹

»Wo ein Baum stand, der die Kännel beschattet hätte, fällten sie ihn. So zogen sie die Leitung der Sonnenseite des Thales entlang und hoch durch ihren eigenen Wald zwischen dem Dorf und dem Schmelzwerk, wo jetzt die Weißen Bretter sind:

›Durefüehren, durefüehren,
Zirble aber nit anrüehren!‹

»So riefen sie sich ängstlich zu. Den Leuten kam es seltsam vor, daß die Wasserleitung im Wildmannliwald am Schatten gehen sollte, sie aber sagten:

E Wurzen git dem Berg den Halt
Und wenn sie bricht, so fallt der Wald!‹

»So bauten sie die Kännel, viele Kirchtürme hoch über Hospel kam das Wasser in die Weinberge, und vom langen Lauf an der Sonne war es ganz warm.

»,Aber es ist ja trüb, was sollen wir mit trübem Wasser anfangen? murrten die Weinbergleute. Die Wildleute jedoch tanzten wie närrisch um die fertige Leitung und mahnten:

›Trüebe Wasser, güldige Wyn!
Grabend Gräben, lassend's yn!‹

»Die Leute folgten dem Rat, sie gruben Furchen zu den verdorrten Weinstöcken und siehe, die Reben grünten und trieben Schosse, wo ein Tröpflein hinkam, sproßte das Gras, die Bäume schlugen aus. Das ganze Land um Hospel wurde schön wie ein Garten und prangte in Fruchtbarkeit.

»Die Leute standen da, die Eltern zeigten das Wunder den abgemagerten Kindern, die Greise weinten vor Freude und streckten die Hände ins Wasser, daß sie merken, wie es riesele.

»Da rief einer: ›O du heliges Wasser‹, und alle antworteten: ›Ja, heliges Wasser, heliges Wasser!‹ Seither hat man die Leitung nie anders genannt.

»Die Dörfer des Thales, St. Peter, Tremis und Fegunden, und alle jene, die von dem Ueberfluß der Hospeler Wasser erhielten, traten zu einer Landsgemeinde zusammen. Sie beschworen, daß niemand das helige Wasser letzen oder damit Vergeudung treiben dürfe, sie setzten Verbannung oder Tod darauf, sie legten das Landbuch an, in dem jedes Grundstück aufgezeichnet und ihm das Maß des Wassers bestimmt ist, das ihm zur Tages- oder Nachtzeit zugeleitet werden darf, sie bestellten beeidigte Wächter, die nachsahen, daß keiner zu viel und keiner zu wenig vom Segen erhielt. Und alle drei Jahre legten die Leute den Finger auf das Landbuch, daß sie ewig halten, was darin stehe. Von da an hatten die von St. Peter Reben, die Wildleute aber zogen sich wieder tief in den Wald zurück.«

Während Vroni so sprach, schien es, als bewegten sich den steilen Alpenweg hinab drei Bündel. Zuerst waren sie nur wie dunkle Punkte gewesen, aber jetzt wurden sie größer und größer. Ihre Träger sah man nicht, aber die Erzählerin jubelte, sich selber unterbrechend, doch: »Sie kommen, schaut, wie viel Heu sie haben. Es ist das erste des Jahres.«

»Bis sie da sind, erzähle noch ein wenig, Vroni, es ist alles schön, was du sagst,« schmeichelte Binia. Selbst der blöde Sebi nickte.

Vroni, das sah man ihren glänzenden Augen an, war im Zug:

»Das dauerte lange, lange Zeit. Die Menschen kamen auf die Welt und starben, niemand wußte mehr etwas anderes, als daß die heligen Wasser Jahr um Jahr Segen und Fruchtbarkeit spendeten. Unterdessen betrieben die Venediger den Bergbau, sie lebten üppig und in Freuden, das fröhliche Leben ging im Bären nie aus. Die von St. Peter wurden durch den Wein, den sie an den Bergen von Hospel pflanzten und den Knappen verkauften, sehr reich. Allein es kam die Zeit, wo die Bergleute alles Holz, das an den Thalseiten wuchs, für ihre Feuer abgeschlagen hatten, und wegen der Lawinen und Steinschläge wuchs das neue nur langsam nach. Der Holzmangel war groß. Der Wald der Wildleute aber, der so nahe am Schmelzwerk lag, stand in Schönheit und Pracht. Da boten die Venediger denen von St. Peter so viel lötiges Silber, als sie in sieben Wochen gewannen, wenn sie diesen Wald schlagen dürfen. Da man schon lange keinen Wildmann mehr gesehen hatte und die Leute glaubten, die Wildleute seien gestorben oder fortgewandert, so verkauften sie den Forst, der nicht ihnen gehörte, und die Venediger schlugen ihn. Manchmal, wenn die Bergknappen die Axt in einen der Bäume hackten, erscholl aber aus dem Wald ein Klagen, wie wenn Kinder weinen würden, und aus den Gebüschen hörte man das Geräusch der fliehenden Wildleute. Als die Knappen die Axt an die älteste Arve legten, überpurzelte der mächtige Baum, es klirrte, wie wenn im Boden eine Kette reißen würde, und ein Wildmannli, das erschreckt forteilte, rief:

›Untrü, Untrü, du machst großes Weh,
Jetzt hebt der Wald am Berg nit meh!‹

»Das war der letzte Wildmann.«

Vroni brach ab. Die Wildheuer, der Vater, die Mutter und Josi, mit ihren Lasten waren herangekommen. Sie warfen ihre Bündel ab, streiften die weißleinenen Kapuzen zurück, die ihre Köpfe vor dem Heustaub schützten, und wuschen sich am Brunnen, der neben der Hütte summt, die erhitzten Gesichter und die Hände.

Vroni, die fast den ganzen Tag einsam gewesen war, begrüßte die Ankömmlinge mit lebhafter Freude, aber sie dauerte nur einen Augenblick. Warum zog sich die Stirne des Vaters so finster zusammen, als er Binias ansichtig wurde, was war das für ein fremder, schmerzlicher Zug, der über das braune Gesicht bis in den blonden Bart hineinzuckte?

Plötzlich schrie er wie aus wilder Qual heraus Binia an: »Fort mit dir, du Schlechthundekind!«

Die Erschrockene und Verwirrte, die das böse Wort wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, stand einen Augenblick fassungslos, dann flüchtete sie so schnell wie eine Gemse. Hinter ihr drein Eusebi, der aber weit zurückblieb.

Fränzi und die Kinder standen verdutzt; erschreckt, vorwurfsvoll sagte die Frau: »Seppi, Seppi! bist du letzköpfig geworden? Die Binia hat dir ja nichts gethan!«

Der verstörte Mann gab keine Antwort, er setzte sich auf den Dengelstein, mit verbissener Wut begann er die Sicheln zu rüsten, als ob sie in Stücke gehen müssen.

Fränzi ging beleidigt ins Haus, Vroni standen die hellen Thränen der Kränkung in den Augen, Josi machte sich mit dem Heu zu schaffen, damit seine tiefe Verlegenheit nicht zu auffällig sei.

»Vater, der Garde hat gesagt, Ihr sollt heute abend noch zu ihm kommen!« wagte Vroni schüchtern zu melden.

Da schnob Seppi Blatter: »Hole der, welcher hinkt, den Garden mit dem Presi!«

Weinend lief Vroni davon. Mutter und Kinder verstanden den Vater nicht mehr. Den ganzen Tag war er einsilbig gewesen und hatte gebrütet. Und jetzt war er so sinnlos wild, er, der Mann, der sonst immer von stiller Gemütsheiterkeit war und gern einen Scherz machte, wenn ihn die Sorgen nicht zu stark drückten.

Etwas mußte gestern abend im Bären vorgefallen sein.

Aber was? – Wenn er es nicht freiwillig sagte, erfuhren es Mutter und Kinder nicht. Das wußten sie schon.

Als die Haushaltung in der kleinen Stube beim Abendbrot, bei Wegwartekaffee, schwarzem hartem Roggenbrot und Käse, um den Tisch saß, wollte Josi das Gespräch auf die Wildleutlaue bringen, aber da donnerte ihn der Vater mit einem »Halt 's Maul!« an.

Und als Fränzi sanft mahnte, er möchte doch zum Garden gehen, sagte er ganz traurig: »Ich bin todmüde – gute Nacht, alle zusammen.«

Beklommen ging der Haushalt zur Ruhe und die harte Tagesarbeit brachte Josi wenigstens bald den Schlaf.

Er wurde furchtbar daraus geweckt. Ihm war im Traum, als rüttelte der Wind am Haus, als knackte das Schindeldach – er wurde munter – das Getöse dauerte fort, die Balken knarrten, die Ziegen im Stall begannen zu meckern. Im Dorf bellten die Hunde und von weit her hörte er das Vieh plärren. Er schlich sich erschrocken zur Luke, die von seinem Dachgemach ins Freie ging. Der Himmel über den Bergen war sternklar, aber vom Stutz herauf schwebte es wie ein grauer Nebel und die Luft wogte. Feiner Schneestaub begann zu rieseln, die Gegend verfinsterte sich.

Da wußte er es: Die Wildleutlaue an den Weißen Brettern ist gegangen.

Jetzt fingen die Glocken zu läuten an, wie es Brauch ist in St. Peter, wenn eine Lawine, ein Gewitter oder ein Brand im Thale wütet. »Betet, betet!« läuteten sie.

Halb angekleidet stieg Josi in die Stube hinunter.

Welch ein Anblick! Die Mutter saß totenblaß auf einem Stuhl, vor ihr auf dem Boden kniete, barfuß und nur halb bekleidet, der Vater, das Haupt in ihren Schoß geneigt, seine sehnigen Hände um die ihrigen geschlungen.

Der gewaltige Mann stöhnte, schluchzte und rang nach Worten, daß es einen Stein hätte erbarmen müssen. Vroni saß am Tisch vorgelehnt, durch die Hände, mit denen sie das Gesicht bedeckt hielt, drangen die Thränen, ihre junge Brust bebte vor Leid.

»Was giebt's?« fragte Josi; als er aber von keiner Seite Antwort erhielt, fingen vor Angst auch ihm die Glieder an zu zittern, die Zähne zu klappern.

Da kam's aus der Brust des Vaters, als würde ihm das Herz abgedreht und sich im Leib auch eine Lawine lösen:

»O Fränzi – liebe Fränzi – ich habe es versprochen – ich muß an die Weißen Bretter steigen.«

Ein Schrei drang aus der Hütte in die Nacht, er kam von Vroni. Die Mutter saß entgeistert, sie hatte willenlos ihre Hände aus denen des Vaters gelöst und strich ihm über den Scheitel. Sie flüsterte immer nur: »Mein armer Seppi – mein armer Seppi! Das also ist's, warum du nicht hast reden können. Gott! Gott!«

Ihr Streicheln und ihre Worte beruhigten den Knieenden, so daß er, wenn auch nur stoßweise, sprechen konnte.

»Ich habe dem Presi die drei Zinslein für das Aeckerchen bringen wollen. Der Bäliälpler mit der krummen Nase hockte da – der Wildheuer Bälzi mit den wässerigen Augen und dem schwarzen Bocksbart. – Wir haben um eine MaßDie Maß ist das ehemalige schweizerische Einheitsmaß für Flüssigkeiten. Sie faßt anderthalb Liter. gehäkelt. – Ich habe beide über den Tisch gezogen. – Da fingen sie an zu necken und zu hänseln. – Ich sei wohl stark, aber doch ein Hasenherz und wage mich nicht, wie sie, auf die Kronenplanken. Ich höre eine Weile zu und sage nichts. Da kommt endlich der Presi und redet von der Wildleutlaue. Er lacht, er spricht so drum her, es könnte einer ein schönes Stück Geld verdienen, wenn er die Gemeinde nicht zum Los kommen lasse. Ich meine, es geht auf Bälzi. ›Hast ja acht Kinder, laß dich auf den Handel nicht ein!‹ sage ich.

»›He, es wird einer an die Bretter steigen müssen,‹ machte der Presi unwirsch, ›er braucht ja nicht grad in die Ewigkeit zu fallen.‹ Ein Wort giebt das andere. Plötzlich sagt er zu mir: ›Wenn einer noch drei Zinslein schuldig ist, braucht er den Mund nicht so weit aufzumachen, wie du, Seppi; gescheiter wär's, du stiegst an die Weißen Bretter.‹

»Ich bin wie vom Donner getroffen, ich rolle das Geld aus dem Sack auf den Tisch, da höhnt er: ›Eben, eben, hast die Loba verkauft. Wenn ich's schon nicht hätte erfahren sollen, so weiß ich's. Hättest mir wohl vorher einen Deut thun können.‹ Ich darauf: ›Es darf doch noch einer sein Rind verkaufen, ohne daß so und so viel Franken in den Fingern des Presi bleiben.‹

»Da schlägt er auf den Tisch, brüllt, es sei traurig, wenn einer an der Zahlung von vierhundert Franken sechs Jahre herumzerre. Und er kündigt mir den Brief auf Martini.

»Ich habe immer gehofft, er werde wieder gut zu mir, er ist sonst nicht ungrad und wir sind alte Schul- und Militärkameraden, drum bin ich in der Stube sitzen geblieben. Er ist auch wieder artig geworden, man redet, man trinkt, da lacht er auf einmal: ›Wage den Streich, Seppi, steige an die Weißen Bretter. Auf deinem Aeckerchen, das für vierhundert Franken verschrieben ist, steht noch eine Schuld von hundertachtzig Franken. Ich will nicht der Presi sein, wenn die Gemeinde dir nicht den Brief abnimmt, sofern du die heligen Wasser wieder herstellst; sage ja, und ich übernehm's auf meine Verantwortung, ich gebe dir gleich den Vertrag. Die Genehmigung durch die Gemeinde bleibt vorbehalten. Soll ich schreiben?'

»›Nein, nein,‹ schreie ich und kann fast nicht reden, ›kennst du das Vaterunser: Und führe mich nicht in Versuchung!‹

»›Ho,‹ meint er, ›es ist ein schöner Verdienst, du kannst an einem Tag nicht mehr gewinnen. Du verdienst nicht so viel in einem Jahr. Und wenn ich das Briefchen kündige, kommst du auch in Verlegenheit.‹«

»›Ein dummer Teufel bist,‹ sagte Bälzi.«

»Ich trinke, die anderen lachen: ›Den Schlotter hast, aber keinen Mut!‹ Da habe ich den Wein im Kopf gespürt, ich habe auf einmal den Acker deutlich vor mir gesehen, wie er schuldenfrei voll Aehren steht. – Hin und her hat es mich gezerrt, daß mir ganz taumelig geworden ist. – Der Presi schreibt, die anderen zwei schwatzen auf mich ein, ich sehe nichts, ich höre nichts. – Da liegen die Scheine vor mir, der Presi sagt: ›Du mußt unterschreiben, – entweder den Empfang der Kündigung oder den Vertrag, daß du an die Bretter gehst.‹

»Ich nehme die Kündigung, da schreit Bälzi: ›Du Großhans, wo willst du zu Martini hundertachtzig Franken hernehmen? Da hast den anderen Schein!‹

»Mir ist schwarz worden vor den Augen – ich habe nicht mehr gesehen, was ich unterschrieb – als der Presi den einen Vertrag eingesteckt hat, habe ich es gewußt, was ich gethan.

»Da ist die Sünde!« Der bleiche Mann zog aus der offenen Weste ein zerknittertes Papier hervor und warf es auf den Tisch. Dann neigte er sein Haupt in den Schoß seines Weibes.

Lautes Weinen erfüllte die Hütte; mit dem rauchenden Kienspanlicht, das seinen flackernden Schein über die Gruppe des Elends warf, kämpfte das Morgenrot.


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