Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Die Wildleutlaue ist gegangen!

In der Nacht schon standen die Leute in Gruppen vor den Häusern des Bergdorfes, redeten miteinander, und als der Morgen kam, dachte niemand ans Tagewerk.

Im Bären saßen schon Gäste. Ihre Zahl wuchs, als die, welche an den Stutz hinausgegangen waren, um die Größe der Verwüstung zu sehen, zurückkehrten. Sie brachten den Bericht, den man erwartete: die Lawine hatte die Leitung der heligen Wasser von den Weißen Brettern hinuntergefegt und den Abgrund der Glotter mit Eis und Schnee gefüllt.

Also ist heute Wassertröstung! Die Bauern erzählten sich die Schrecken der Nacht: Die Scheiben klirrten, die Luft sprengte die Thüren auf, die Betten wackelten, die Kinder schrieen, die Frauen riefen zu den Heiligen.

Die alten Sagen von den heiligen Wassern hatten freien Lauf. Binia, die der Lärm aus dem Bett geschreckt hatte und wie ein aufgescheuchter Vogel verwirrt und übernächtig von einem Gemach des Hauses zum anderen flatterte und überall fortgeschickt wurde, hätte in der großen Wirtsstube nur zu horchen brauchen, um den Rest der Geschichte zu vernehmen, den ihr Vroni schuldig geblieben war.

Nachdem die Venediger den Wildleutewald geschlagen hatten, kam an der Stelle, wo die große Arve gestürzt war, ein weißer Fleck, der Felsen, zum Vorschein und glänzte, als ob dort ein Stück Schnee nicht weggegangen wäre. Mit jedem Gewitter und jeder Schneeschmelze wurde der unheimliche Fleck größer, die Weißen Bretter wuchsen gespenstisch aus dem dunklen Erdreich, die Wasser wühlten die Furren, schlechte Jahre machten die Gletscher groß und eines Tages wischte ein Gletscherbruch die Kännel der heligen Wasser, deren Befestigung immer schmieriger wurde, in die Glotter hinab.

Man sah darin die Strafe der Wildleute und nannte den Eisbruch – die Wildleutlawine!

Als die Wasser gebrochen waren, kehrte in Hospel und in den Dörfern wieder Dürre und Mangel ein. Der Zorn der Bewohner des großen Thales wandte sich gegen die Venediger und die Leute von St. Peter, da sie schuld an dem Unglück seien. Die Dörfer forderten sie durch Boten auf, daß sie die Leitung wieder herstellen, doch wagte es niemand, an die senkrechten Weißen Bretter hinaufzusteigen, Kännel darüber hinzuführen und sie zu befestigen. Da stellten die Hospeler und die Dörfer im Thal bei Tremis Wachen auf, sie ließen niemand weder nach St. Peter hinein, noch von dort nach Hospel hinaus. »Unglück über uns!« klagten die von St. Peter, aus Mangel zogen die Venediger über die Schneelücke ab, das Bergwerk zerfiel und die Füchse wohnten in den Stollen. Die Not wurde immer größer, denn die kleinen Aeckerchen, welche die Leute um das Dorf hin anlegten, gaben nicht genug Brot, es fehlte das Holz und viele Bewohner erfroren im Winter. Der Pfarrer erlag der Seuche, die im Dorfe herrschte, niemand verkündete mehr das Wort Gottes. Da sagten die von St. Peter: »Ehe wir gottlos werden wie die wilden Tiere, ehe unsere Kinder ins Leben treten ohne Taufe, die Söhne und Töchter heiraten ohne Trauung, die Greise sterben ohne Beichte und Sakrament, wollen wir uns mit Gewalt den Thalweg erzwingen.« Mit Sensen und Gabeln fielen die Männer und Frauen von St. Peter über die Wachen bei Tremis und töteten sie, aber in der zweiten größeren Schlacht, die beim Bildhaus an der Gemeindegrenze von St. Peter und Tremis geschlagen wurde, erlagen sie. Die Krieger aus dem großen Thal drangen bis ins Dorf vor, raubten und plünderten und die Bewohner mußten sich ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben.

Da kam ein großes Versprechen zu stande, das für ewige Zeiten ins Landrecht aufgenommen wurde. Die von St. Peter sollen die heligen Wasser an den Weißen Brettern vorüberführen und sie vom Gletscher an bis zum Bildhaus bei Tremis unterhalten, wie es das gemeinsame Wohl forderte, dafür sollen sie ungehindert aus dem Thale verkehren können und ihre Weinberge zurückerhalten, die vorderen Dörfer aber sollen die Leitung von der Brücke an besorgen und Friede immerdar währen.

Jetzt wußten die von St. Peter, daß ihnen nichts anderes übrig blieb, als die heligen Wasser, sollte es auch alle Bürger kosten, an den Weißen Brettern vorüberzuleiten. Sie bestimmten, daß das Los unter ihnen entscheide, wer von ihnen die großen Eisenringe, in die man die Kännel hängen wollte, hoch an den gräßlichen Felsen befestigen müsse. Des Losens war kein Ende, einer nach dem andern stieg hinauf, schon waren sieben gefallen, das Wehklagen des Dorfes füllte das Thal, und viele, die das Los noch verschont hatte, wanderten heimlich mit ihren Haushaltungen über die Schneeberge aus. Da war ein Ehrloser, Matthys Jul mit Namen, der zu Hospel an einer Kette im Gefängnis lag, weil er einen andern Mann im Zorn erschlagen hatte. Er anerbot sich, die Leitung herzustellen, wenn er dadurch seine Freiheit und Ehre wiedererlange. Man führte ihn an die Weißen Bretter und siehe da – ihm gelang es, die Reifen festzumachen und die Kännel zu legen. Die Merkhämmer klopften, das Wasser floß nach langem Unterbruch wieder fröhlich durchs Thal; da wurde beschworen, daß jede Blutschuld gesühnt sei, wenn der Thäter die heligen Wasser an den Weißen Brettern aus dem Verderben rette.

Alle zweimal sieben Jahre, bald ein paar Sommer früher, bald ein paar Sommer später, saust die Wildleutlaue über die Weißen Bretter herunter und zerstört die Wasserfuhre, immer muß dann ein Mann auf Leben und Sterben an die Felsen emporsteigen, daß er die Kännel wieder füge, und geheimnisvoll waltet, wenn sich kein Freiwilliger meldet, darüber das Los.

Als vielhundertjährige, durch Brauch und Sitte, ja sogar durch die kirchlichen Anschauungen geweihte unablösbare Fron liegt die Instandhaltung der heligen Wasser auf dem Dorf, der milde Segenspender von Hospel ist der Drache von St. Peter, der die blühende Mannschaft des Dorfes verschlingt. Dunkle Sagen melden von manchem Opfer, das unfreiwillig an die Weißen Bretter emporgezwungen worden ist; mit den Ueberlieferungen, die von den Unglücksfällen berichteten, welche an den schrecklichen Wänden geschehen sind, könnte man ein Buch füllen.

Auf einer der vielen Gedenktafeln im grauen Kirchlein an der Brücke, das einst den fröhlichen Bergknappen als Gotteshaus diente, sagt eine Inschrift, die auch schon halb verblaßt ist, kurz und schwer: »Welche Trauer! Der Totfäll' ist kein End'!«

Sollen die Opfer überhaupt nie enden? – Die Sage tröstete, einst würde ein Liebespaar St. Peter von der Blutfron an den heligen Wassern erlösen, aber eine Jungfrau müsse darüber sterben. Wann? – Ja, wohl erst, wenn sich die andere Sage erfüllte, daß auf den Bergen, auf denen jetzt die großen Gletscher liegen, Rosengärten blühen, der kreisende Adler sich des fallenden Zickleins erbarmt und es der Mutter bringt.

Heute ist Wassertröstung – Losgemeinde. Nur scheu und verstohlen wagt sich die Frage, die auf allen Herzen brennt, hervor: Wer wird an die Weißen Bretter steigen müssen? – Das Los – das blinde Los, wen trifft's? – Sie liegt wie ein Alpdruck auf den Gemütern, denn keiner weiß, ob nicht er aus der alten silbergetriebenen Urne des Dorfes, die noch an die Bergwerksherrlichkeit erinnert, sich die Verdammnis ziehen wird, als Bürger von St. Peter den Gang auf Leben und Sterben zu wagen. Er – oder wenn nicht er, sein Vater, sein Sohn oder sein Bruder. Auf jedem Herzen liegt die Furcht und gräßliche Spannung. Da ist kein Unterschied zwischen arm und reich, wer zwischen zwanzig und sechzig Jahren und im Besitze der bürgerlichen Ehren steht, der muß dem Rufe folgen, wenn er aus der Losurne an ihn ergeht.

Auf die erste Nachmittagsstunde, nachdem die heligen Wasser gebrochen waren, sollten die Bürger zur Losgemeinde einberufen werden. So forderten es die alten Satzungen. Vom Fall der Lawine an bis zur Loswahl standen in St. Peter alle Rechtshandlungen, die sich nicht auf die heligen Wasser bezogen, Kauf, Verkauf, Taufe, Hochzeit und Begräbnis still. Beim Ehrenverlust durfte niemand das Thal verlassen, alle hatten dem Klang der Glocken zu folgen, die vom Mittag an eine Stunde lang zur Wassertröstung läuteten. Die Satzungen drängten auf rasches Handeln, und das war gewiß besser als die lange Ungewißheit; um so furchtbarer aber lasteten die kurzen Morgenstunden auf dem Dorfe, denn noch war die Abmachung zwischen dem Presi und Seppi Blatter nur wenigen bekannt, und die schwiegen.

Die einen, die im Bären saßen, stierten trübsinnig in das Glas und der Wein mundete ihnen nicht, die anderen tranken und johlten dazu.

St. Peter, das stille Dorf, wo die Leute kaum zu lachen und zu reden wagten, war heute laut und lebendig, der Hälfte der Bewohner hatte die Furcht und Spannung die Zunge gelöst.

»Hört! – hört!« Alle drängten sich um den Tisch, wo der bocksbärtige Bälzi beim Schnaps hockte und prahlerisch wiederholte: »Ich weiß, was ich weiß – es kommt nicht zum Losen. Es meldet sich einer.« Allein er blieb bei dunklen Andeutungen – enttäuscht wandten sich die anderen von ihm ab: »Er ist ein unzuverlässiger Lump. Gebt nichts auf den!« Doch hatte sich's schon einigemal zugetragen, daß sich unverhofft und in den bittersten Nöten ein Freiwilliger für die gefahrvolle Arbeit meldete. Im Anfang des Jahrhunderts ein armer, braver Knecht, der umsonst beim harten Vater um die Hand der Meisterstochter gebeten hatte. Er legte die Kännel, und die Gemeinde trat für ihn als Freiwerber ein. Im Jahre 1819 fiel ein Freiwilliger, der geglaubt hatte, seinem toten Vater, der wandeln mußte, die Ruhe zu verschaffen. Und nachdem zweimal das Los gewählt, hatte sich vor vierzehn Jahren Hans Zuensteinen freiwillig als Helfer gestellt; sein Gang war die Lösung eines Gelübdes, das er für die glückliche Errettung seines Weibes aus dreitägigen Nöten bei der Geburt Eusebis gethan hatte.

Darauf hatte man ihm das Ehrenamt des Garden verliehen, das er musterhaft verwaltete.

Wunderbar wäre also nicht, wenn auch jetzt wieder einer, von den geheimen Mächten des Lebens getrieben, aufstehen und den Bann von der Gemeinde nehmen würde.

Susi, die alte Trottel von Haushälterin, und Mägde aus dem Dorf besorgten die Wirtschaft, der Presi ließ sich seit einer halben Stunde nicht blicken, aber wenn die Gäste gehorcht hätten, so hätten sie seine schweren Schritte durch die Decke über sich gehört.

»Gott's Maria und Sankt Peter – Räusche haben wir alle gehabt.« – Jetzt stand er im Selbstgespräch still und stützte sich auf den Tisch. »Ich muß hinter sich machen.« Er nahm ein beschriebenes Blatt Papier, er that, als wolle er es zerreißen. Er legte es aber wieder hin. »Was angefangen ist, muß man vollenden.« Er lief und wiederholte: »Dumm« – »dumm« – »dumm.« Der Mann kämpfte gegen sich selbst, daß ihm die hellen Schweißtropfen auf der Stirne standen. Er hatte nichts Großes gegen Seppi Blatter; der war ein geplagter Mann, der mit seinem Fleiß ein besseres Fortkommen verdient hätte, und der Verkauf des Rindes war nicht von Wichtigkeit. Man durfte als Presi nicht kleinlich sein. Der ganze Handel war ein Streich des Uebermutes gewesen, in seiner Anheiterung hatte er, gereizt von Seppis Widerstand, prüfen wollen, ob er ihn nicht doch herumbringe. Ja, wenn die Sache zwischen ihm und Seppi geblieben wäre, dann hätte er schon rückwärts krebsen können, aber der Bäliälpler wußte davon, Bälzi – und der Garde. Ohne den offenen oder heimlichen Spott dieser herauszufordern, ging's nicht ab. Nun – und ob! Wieder griff er nach dem Papier.

Da klopfte es. Der krummmäulige, bogennasige Bäliälpler, der vorher ein rechter Mann gewesen war, aber seit dem Tod seiner zwei schönen Kinder den Halt verloren hatte, trat ein. Er zog den Hut: »Presi, mich drückt's – in die Geschichte will ich nicht gesponnen sein. Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Ich habe einen Rausch gehabt.«

»Das war doch nur ein zu weit getriebener Scherz!« erwiderte der Presi heiter; »natürlich kann Seppi nicht behaftet werden, wir müssen halt losen!«

Er hatte sich im Augenblick entschieden, der Bäliälpler schien ihm wie ein Helfer der Vernunft und er begleitete ihn wie aus Dankbarkeit zur Thüre. Da hörte er Binias glockenhelle Stimme:

»Nein, nein, alte Susi, zu Fränzi lasse ich mich nicht schicken, Seppi Blatter ist ein wüster Mann, der hat mir »Schlechthundekind« zugerufen und mich fortgejagt.«

Der Presi traute seinen Sinnen nicht – horchte – schnob: »Binia, daher!« und zog das Kind, das, nichts Gutes ahnend, flüchten wollte, in sein Zimmer.

»Wie hat dich Seppi Blatter genannt?« – Die Kleine schwieg. Da rüttelte er sie zornrot und wiederholte keuchend die Frage.

»Schlechthundekind,« weinte die Kleine leis.

»Schlechthundekind! Schlechthundekind! Schlechthundekind! Seppi, du mußt ans Brett!«

Wie ein wildes Tier lief der Presi hin und her, er stampfte, daß man es in der Stube unten hörte. Binia erspähte die Gelegenheit, um aus dem Zimmer zu wischen, wagte sich aber nicht an dem tobenden Manne vorbei, kletterte die kleine Ofentreppe empor, und als der Falldeckel, der auf den Estrich führte, wohl weil er durch Gerümpel verstellt war, dem Druck ihrer kleinen Hände nicht nachgab, verkroch sie sich in ihrer Angst auf den Specksteinofen.

Da pochte es.

»Herein! – Ihr, Fränzi Blatter? Was wollt Ihr?«

Der milde Mann meisterte seinen Zorn – er schob ihr einen Stuhl hin.

Fränzi war eine arme Wildheuerin, aber die Bauern, die ihresgleichen nicht aus dem Wege gingen, wurden kleinmütig vor ihr. Schon ihre Erzählkunst, die sie an langen Winterabenden im Kreise der Dörfer übte, gaben ihr etwas Geheimnisvolles, man betrachtete sie wie eine, die mehr erlebt hat, mehr weiß, mehr denkt, mehr fühlt als die andern. Ob sie gleich die Spuren schwerer Arbeit, an sich trug, so war sie doch ein Weib, dem der Wiederschein dessen, was sie reich in der Seele lebte, in Augen und Angesicht lag und einen eigenartigen Reiz verlieh. Und vor allem war sie eine rechtschaffene Frau.

Der Presi und sie maßen sich einen Augenblick, sie den Gegner in Bescheidenheit und tiefer Trauer.

»Gebt mir das gemeine Papier zurück, Presi!« sagte sie, indem sie ihn mit ihren großen blauen Augen ruhig, fast freundlich anblickte.

»Geschrieben ist geschrieben, Fränzi!« In barschem und bedauerndem Ton sprach es der Presi.

»Ihr besteht auf einer erschlichenen Unterschrift – – du bestehst darauf, Peter!«

Der Presi zuckte zusammen und krümmte sich, als sie ihn duzte, sein Gesicht wurde fahl. Eine Welt voll schöner und peinigender Erinnerungen stand in ihm auf.

»Peter! Es sind sechzehn Jahr', da hast du in der Nacht an mein Fensterchen gepocht. Du hast in meinem Kämmerchen geweint und auf den Knieen gefleht: »Fränzi, erhöre mich, ich bin verloren, wenn du mich nicht rettest, ich bin im Streit vom Vater gegangen, ich habe keinen guten Menschen als dich!' Wir verlobten uns heimlich und sechs Wochen warst du mir gut. Dann söhntest du dich mit dem Vater aus und nahmst auf sein Drängen Beth. Du warst treulos gegen mich, treuloser gegen sie, denn du hast sie nicht geliebt.«

»Wozu das, Fränzi?« sagte der Presi dumpf und hilflos vor der Würde des Weibes, das vor ihm saß.

»Weil ich meinte, ich habe mit dem unendlichen Leid, das du mir damals zufügtest, das Recht erworben. daß du meinen Mann und mein Haus in Ehren haltest und ihnen unnötig nichts Leides anthuest.«

Der Presi schluckte: »Ihr Frauen versteht nichts von dem – und Fränzi – ich muß mein Geld und die Gemeinde einen Mann haben. Keiner ist wie Seppi für das Werk geeignet. Es geschieht ihm auch nichts dabei!«

»Ich will dir sagen, warum Seppi gehen muß. Du hast es ihm nie verziehen, daß er mein Mann geworden ist. Du wolltest mich, das arme Mädchen, nicht mehr für dich, aber du gönntest mich auch keinem anderen. Wie David den Urias in den Krieg geschickt hat, schickst du Seppi an die Weißen Bretter – nicht daß du mich, das schon fast alte Weib, mehr möchtest, aber du hassest ihn!«

So sprach Fränzi mit ihrer tiefen und schönen Stimme.

Der Presi zitterte und mußte sich halten. Zog ihm Fränzi Schleier von den Augen? – Ja! Vorgestern, wie er als Frischverlobter von Hospel gegangen war, da war auf dem langen Weg die alte Zeit an ihm vorübergezogen. Beth hatte er nicht geliebt, in Frau Cresenz war er auch nicht recht verliebt, er nahm sie, weil sie eine tüchtige Wirtin war, die sechs heimlichen Wochen mit Fränzi waren sein einziges sonniges, großes Liebesglück gewesen. Er, Tölpel, hatte das jahrzehntelange Glück, das vor ihm lag, verscherzt. Und dann hatte der Wildheuersepp, was er selbst verloren, gefunden. Aus diesem Gefühl war er Seppi aufsässig gewesen. – Seit Fränzi gesprochen, wußte er es.

»Gieb mir den Vertrag, Peter!« sagte Fränzi gütig.

Er reckte sich, zauderte, dann donnerte er: »Ich lasse mein Kind von euch nicht Schlechthundekind nennen!« Fränzi fuhr zusammen: »Peter, vergieb Seppi, er hat in seiner Qual nicht gewußt, was er sagte!«

Sie war aufgestanden, sie hatte seine Hände ergriffen, sie sank vor ihm in die Kniee, umklammerte seine Fäuste: »Peter, Peter, sei barmherzig!«

Seltsam! – In ihrer wilden Erschütterung gefiel ihm Fränzi wieder – er mißtraute aber der Empfindung – er fürchtete eine Uebereilung – darum war er hart gegen sie. Er schleuderte sie röchelnd von sich: »Das Greinen und Betteln kann ich schon gar nicht leiden. – – Und das .Schlechthundekind' muß gestraft sein!«

Als er sie von sich stieß, löste sich Fränzis prächtiges dunkles Haar, mit fliegender Brust stand sie einige Schritte entfernt vor ihm; die Leidenschaft hatte sie um zehn Jahre verjüngt, aber ihre Stimme zitterte.

»Wenn nicht um meinet- und meiner Kinder willen, so sei's um deinet- und Binias willen – sei barmherzig gegen dich selbst – und gegen dein Kind!«

Der Presi blickte das leidenschaftliche Weib begehrerisch an, wüste Züge entstellten sein Gesicht und gaben ihm einen tierischen Ausdruck; die Augen traten hervor und funkelten. Mit erstickter Stimme sagte er: »Fränzi – ich will alles wieder gut machen, Fränzi – – – –aber gieb mir einen Kuß – wie einst!«

Sie starrte ihn verständnislos an; dann fragte sie allen Ernstes: »Bist du wahnsinnig geworden, Peter,– ich habe ja einen Mann und Kinder!«

»Dann geh'!« knirschte er.

»Ich gehe, aber noch einmal: mache das Böse gut – sonst – Peter – bei der seligen Beth – die vom Himmel auf dich sieht – bei den armen Seelen, die im Eise stehen – es kommt ein Schaden über dein Kind – und Beth – das weißt du – hat auf dem Todbett gesagt, ich möchte dich mahnen, wenn Unglück für Binia im Verzuge sei. Peter, Peter, richte dich nicht selbst!«

»Seit wann bist du unter die Bußpfaffen gegangen, Fränzi?« Und mit steigender, kreischender Stimme schrie er: »Jetzt mache, daß du fortkommst, sonst –«

Er hob den Stuhl zum Schlage gegen Fränzi.

Da wich sie der Gewalt des Wütenden.

In der Aufregung des Gesprächs hatten die beiden nicht bemerkt, wie zwei dunkle, glühende Kinderaugen, wie ein blasses, schmerzentstelltes Kindergesicht in fiebernder Spannung zwischen den Vorhängen des Ofens hervor jedem ihrer Worte gefolgt waren.

Als Fränzi gegangen war, sank der Presi auf einen Stuhl, hielt den Kopf mit der Hand und stöhnte: »Daß ich nie gelernt habe, rückwärts zu krebsen – daß ich diesen harten Kopf nicht brechen kann. Fränzi, du hast mehr als recht, – mit sehenden Augen renne ich ins Unglück.« – Seine Lippen zuckten im Selbstgespräch.

Da kam Susi: »Presi, die Gemeinderäte sind da – es ist alles für die Sitzung bereit.«

Er warf einen Blick ins Freie.

Rings von den Bergen herab stiegen die Sennen auf ihren Maultieren, sie trugen das sonntägliche Gewand, viele waren von ihren Angehörigen begleitet, die ebenfalls ritten, so daß jede Familie eine schöne Gruppe bildete. Aber zur vollen Wirkung des Bildes fehlte die Farbenpracht der Trachten, die an weltlich festlichen Tagen dem Glotterthaler Völklein eigen ist. Man sah nur das schlichte Kirchenkleid, die Männer trugen die dunklen Kittel ohne den Schmuck der Seidenstickereien, den schwarzen Filz ohne Blumen, die Frauen hatten über die Büste dunkle Brusttücher gekreuzt und an den Hüten flatterten die Bänder in gedämpften Farben. Manche drehten im Reiten den Rosenkranz, kein Juchschrei tönte durch die Berge; von weitem sah man, daß die Leute nicht lachen mochten und das Wort im Herzen verschlossen. Wozu reden? Jeder und jede wußte, was die Gedanken des anderen bewegte; wer einmal im Scherz gesagt hatte, er würde den Gang an die Weißen Bretter wagen, trug heute ein doppelt bekümmertes Sündergesicht zur Schau. In feierlicher Ruhe strömte das Volk von allen Seiten ins Dorf und an den Häusern standen einzelne Maultiere angebunden, besonders viele an der langen Stange vor dem Bären.

Im letzten Augenblick sah der Presi den Garden mit Seppi Blatter kommen, beide waren sehr ernst und feierlich. Der Garde schien größer als sonst, er trug seine Amtstracht, einen Hut mit wallenden blauschillernden Hahnenfedern, das Schwert am Gurt, die Binde am Arm.

Da ging der Presi, mit sich selbst noch in Streit, wie er das Zünglein der Wage schwenken wolle, aus seiner Stube in die schwere Sitzung.

Früh am Morgen war der Garde in die Wohnung Seppi Blatters gekommen und hatte ihn in all seinem Kleinmut gefunden. »Begleitet mich zur Schau, wie die Lawine gegangen ist, und ob nicht noch Nachbrüche zu fürchten sind,« redete er ihm zu. Seppi that es wohl, daß sich in dieser Stunde jemand um ihn kümmerte. Der Garde drang auf dem Weg in den Wildheuer, daß er erzähle, wie der Vertrag mit dem Presi zu stande gekommen sei. Als er den Verlauf gehört hatte, zog er ein paar Banknoten aus der Brieftasche: »Da, Seppi, noch vor der Losgemeinde gehst du zum Presi und tilgst den Brief. Ich werde dir kein harter Gläubiger sein. Wenn er Haken macht, bin ich da! Die Geschichte ist nichts!«

Seppi, der gemeint hatte, kein Mensch auf der Welt sei ihm mehr gut, glaubte an ein Wunder. Alle Zerschlagenheit, die er zu Hause am Leib gespült, war in Lebenslust verwandelt. Schon das Kommen des Garden hatte ihn aufgerichtet, das Angebot stimmte ihn fröhlich. »Darf ich es auch annehmen?« fragte er glückselig, dann jubelte es in ihm: »Frei – frei!« Seine Zunge war gelöst, der sonst stille Mann sprudelte die Worte nur so heraus: »O, Garde, glaubt nicht, daß es mir an Mut fehlt, an die Weißen Bretter zu steigen, ich bin ja als Wildheuer häufig genug am Seil gehangen und weiß wohl, daß mein Leben Tag um Tag an einem Faden hängt, aber ich habe es nicht verwinden können, daß ich auf eine so mißliche Art in die Pflicht gekommen bin, grad wie die Maus in die Falle – und ich habe es der Fränzi nicht sagen dürfen – gekrümmt und geklemmt hat es mich – sie ist ein so himmelgutes Weib.«

Die Männer waren auf die Unglücksstelle gekommen, mit dem Fernrohr musterte der Garde die Zerstörungen an der Leitung, die Abbruchstelle des Gletschers, und wohl eine Stunde lang tauschten die beiden ihre Beobachtungen. »Es ist wie vor vierzehn Jahren, die Kännel sind alle weg, ein weiterer Abbruch aber nicht zu fürchten.« Der Garde begann behaglich aus seinen großen Erinnerungen zu erzählen, was jede Stelle an den Weißen Brettern und in den Wildleutfurren für besondere Schwierigkeiten habe und mit welchen Vorteilen man sie am besten überwinde. Da wurde Seppi ganz still, sein braunes Gesicht rot und röter. »Garde!« schrie er plötzlich, als sprengte es ihm die Brust, »ich steige an die Weißen Bretter. Freiwillig gehe ich.«

Der Garde maß ihn lange mit durchdringendem Blick; dann sagte er langsam und tief: »Gut, so geht! Ihr sagt's im Anblick der Gefahr, also ist's Euch ernst.«

»Weiß Gott!« bestätigte Seppi. Der Garde reichte ihm die Hand: »Fränzis und Eurer Kinder wegen sollte ich Euch zurückhalten, aber die Fron liegt einmal auf der Gemeinde, und da hat der Presi recht, es ist keiner, der das Werk eher zu stände brächte als Ihr; Gott, der es Euch eingegeben hat, hinaufzusteigen, wird Euch schützen. Es liegt ein Segen auf der freiwilligen That – ich habe es erfahren.«

Stumm gingen die Männer ins Dorf zurück, der Garde sagte: »Jetzt laßt mich mit der Fränzi sprechen, wartet.«

Sie war eben vom Presi zurückgekehrt, schweigend und mit gefalteten Händen hörte sie die Rede des Garden.

In herzzerbrechendem Ton sagte sie: »Wohl, wenn ihn Gott berufen hat, so darf ich ihm nicht in den Arm fallen. Es wird schon ein Glück darauf sein!«

Der Garde erwiderte bewegt: »Ich danke Euch, Fränzi, – ich bin amtsmüde – ich lege heute die Stelle im Gemeinderat nieder, – Seppi Blatter mag der neue Garde werden.«

»O, Garde!« Aber Hans Zuensteinen war schon gegangen. – –

Die Glocken erklangen, das Volk sammelte sich auf dem Kirchhof, der im Nelkenschmuck rot erglüht war.

Die Männer hatten die Hüte gezogen und standen in Gruppen, einzelne auch mit Weib und Kind an den Gräbern Eigener, über welchen die Blumen wogten. Wie war allen wohl, die im heiligen Boden ruhten. Aber auch in ihr Leben hatte die Wildleutlawine die bangen Tage gebracht. War eine Familie im Dorf, die in der Folge der Geschlechter nie ein Opfer der heligen Wasser zu beweinen gehabt? – Kaum eine!

Endlich verstummten die Glocken, die Männer nahmen Abschied von den Ihrigen – Seppi, der soeben gekommen war, sprach mit Fränzi und den Kindern – und wären die anderen nicht ganz im eigenen Kummer gefangen gewesen, so hätte ihnen die fahle, schmerzzerrissene Gruppe schon die Lösung eines Geheimnisses gebracht.

So blieben die Dörfler alle in dunkler Furcht und gräßlicher Spannung. Nur Bälzi, der wein- und schnapsselig unter seinen bleichen Würmern stand, hatte das Bild gesehen und lachte blöd.

Vom Bären herüber bewegte sich der Zug des Gemeinderates, vor ihm her trug der Weibel, der angedöselt war, so daß der Zweispitz auf seinem Kopfe schwankte, die silberne Losurne.

Hinter dem kleinen Zug schloß sich die Kirchenthüre.

Da warfen sich die Frauen und Kinder auf die Kniee, ins blühende Gras; das Gesicht gegen die Kirche gewendet, sandten sie die leidenschaftlichen Fürbitten für die Ihrigen zum Himmel, ihr heißes Murmeln schwoll wie Windesrauschen an und ab. Manche weinten, dicht an die Mütter drängten sich die Kinder, die noch kaum wußten, was ihre lallenden Gebete sollten.

Fränzi, Vroni und Josi lagen mitten unter den anderen auf den Knieen und ihre Thränen strömten reichlich. Nahe bei ihnen kniete Eusebi, das flammende Beten der drei bewegte ihn so, daß er seine Stotterzunge vergaß und mit Vroni im Gleichtakt seine Bitten in den Himmel hinaufschickte.

Am weißen Kirchturme, der eine etwas plumpe Nachahmung eines italienischen Campanile war, schlich der Uhrzeiger mit tödlicher Langsamkeit, so langsam, daß einmal eine Stimme schrie: »Die Uhr geht nicht!« – Aber sie ging. »Erst eine halbe Stunde tagen sie!« jammerten die Weiber.

Plötzlich schrie die Frau des Fenkenälplers auf: »Ich halt's nicht mehr aus,« sie sprang an die Kirchenthüre, sie rüttelte am Schloß, sie schlug wie besessen die Fäuste auf die Füllung der Thüre. Umsonst, die Männer hatten sich eingesperrt.

Noch eine halbe Stunde! – Drei Weiber zugleich poltern an die Thür des Gotteshauses, ein anderes liegt ohnmächtig in den Nelken, die Gebete rauschen nicht mehr, sie rasen zum Himmel.

Da knarrt das Schloß – der Weibel tritt hervor. – Tödliche Stille–»Seppi Blatter hat sich freiwillig gestellt!« – Lautes Weinen bildet die Auslösung der Spannung.

Aus der Kirche ergießt sich die dunkle Schar der Männer. Die Weiber stürzen schreiend auf sie zu und umhalsen sie: »Jetzt wollen wir wieder friedlich zusammen leben und arbeiten! – nie wollen wir zanken!« Und der Bäliälpler und sein Weib, die einander nicht mehr leiden mochten, versöhnen sich.

Bälzi schreit: »Es lebe Seppi Blatter, der neue Garde!« und schwenkt den Hut.

Jetzt kommt Seppi Blatter selber, totenblaß, doch hoch aufgerichtet.

»Vater!« – ruft Josi und hält ihn umschlungen, »ein Held will ich sein wie du – ich gehe mit dir.«

»Du bleibst bei der Mutter!« sagt Seppi bewegt. Fränzi ist an seine Brust gesunken, sie schluchzt, als drehe sich ihr das Herz in der Brust.

»Du himmelgutes Weib!« Er küßt ihr dunkles schwellendes Haar. »Kommt – kommt!«

Dicht aneinandergedrängt bewegt sich das Vierblatt von Eltern und Kindern am Bären vorbei.

Die Leute ziehen vor ihm ehrfürchtig die Hüte. Auf der Freitreppe steht der Presi. Wie er Seppi Blatter sieht, schwankt er ins Haus. Ihm ist nicht gut. Die Ueberraschung, daß das Aeckerchen bezahlt worden ist und Seppi Blatter freiwillig an die Bretter steigt, hat ihm einen großen Stoß gegeben.

Jetzt wallt das Volk in den Bären. Dem Schrecken darf ein Trunk im stillen folgen. Laut sein ist nicht schicklich, aber in gedämpftem Gespräch stoßen die Dörfler mit den Gläsern an:

»Auf Seppi Blatter, den Freiwilligen, mögen ihm Gott und die Heiligen fröhliche Wiederkehr schenken!«


 << zurück weiter >>