Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

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XI.

»Josi Blatter bleibt ein verkehrter und geheimnisvoller Kerl bis ans Ende,« sagten die zu St. Peter, als sie sahen, daß er mit seinem Engländer das Glotterthal nicht auf dem Weg über Tremis, Fegunden und Hospel verließ, den doch alle ordentlichen Menschen gingen, sondern sich mit ihm vom Haus des Garden über die unwegsame Schneelücke wandte.

An der Grenze zwischen Weltland und Weißland erhebt sich ein altes verwittertes Holzkreuz, bei dem die Hirten sommers über ihren Sonntagsdienst halten. Bis dorthin, wo man eben noch die Kirche in der tiefen Thalspalte sieht, begleitete Vroni ihren Bruder, bei dem Kreuz knieten die Geschwister nieder und verrichteten zum Abschied eine gemeinsame Andacht.

Mit Thränen in den Augen blickte Vroni Josi nach. Als sie aber immer noch ihr Tüchlein schwenkte, da stapfte er schon unentwegt mit seinem Herrn in die große wilde Gebirgseinsamkeit hinein.

Ernst, doch unverzagt hatte er die letzten Tage verlebt. Sie aber war vor Schmerzen vergangen: den Vater, die Mutter hatte sie schon verloren – und nun verlor sie auch den Bruder. Sie konnte nicht glauben, daß er je wieder nach St. Peter komme. In ihrem Kopf und in ihrem Herzen summte das Kirchhoflied:

»Und als er stand an blauer See,
Da schrie sein Herz nach Berg und Schnee.«

Sterben wird er vor Heimweh!

Während seine sanfte Schwester mit den großen Blauaugen in Thränen träumte, was doch so ein lieber Bruder für ein böser Mensch sei, schritt Josi tapfer in die Zukunft und mit seinem Herrn quer über Gletscher und Hochgebirge. Drüben in einer kleinen Stadt wollten sie Felix Indergand, der in einigen Tagen nachzukommen versprochen hatte, erwarten und dann von Genua aus die große Reise nach Indien antreten.

Ein herrliches Wandern. Die Luft war blau und herbstlich still. Aus der Höhe ertönte der Ruf der Zugvögel. Die vom Sommer ausgelaugten und ausgewitterten Gletscher lagen wie riesige Leichen da. Wenn es wahr wäre, was die Sage behauptet, wenn die Venediger wirklich bei ihrer Säumerei über die Schneelücke in Stürmen und Wettern Ladungen Silbers verloren hatten, so würde man sie jetzt wohl finden können.

Doch Josi dachte an etwas anderes. Konnte er nach Indien gehen, ohne zu Binia, die er für ewig verloren hatte, lebewohl gesagt zu haben?

Unter einem überhängenden Felsen, bei den Resten alter Jägerfeuer übernachteten sie. »Brigante, solche Nächte unter freiem Himmel wird es auch bei unserer Arbeit in Indien genug geben, nur ist es dann nicht so still wie hier, sondern die wilden Tiere schreien und brüllen ringsum!«

Allein als George Lemmy nachsah, schlief Josi schon. Am Morgen standen sie auf einem mächtigen Firngrat, einem wunderherrlichen silbernen Wall, wo der Himmel so nahe schien, als könnte man den dunkelblauen Teppich mit der Hand streicheln. »Boy, wo ist jetzt das Glotterthal?«

Im gewaltigen Eisland, das sich gegen Norden dehnte, war ein kleiner dunkler Streifen wie ein Nebelchen sichtbar. Da konnte es Josi kaum fassen, daß er sein ganzes bisheriges Leben in der schwarzen Spalte zugebracht habe.

Dort saß Vroni.

Wie sonnig lag die Erde! Weithin dehnte sich im Süden unter ihnen, wo die Berge ausgingen, geheimnisvolle Bläue. Ist das wohl das Meer? dachte Josi. Da wies ihn George Lemmy auf weiße Flecken, die in der Bläue schwammen, und sagte: »Das sind die italienischen Städte.«

Am folgenden Tag wanderten sie einem lebendigen klaren Wasser entlang durch eine grüne Berglandschaft und kamen auf die schöne Straße, die vom Hochpaß herniederführt.

George Lemmy aber hinkte, er war beim Abstieg durch den Wald über eine Wurzel gestrauchelt und hatte den Fuß leicht verstaucht.

Im ersten Dorf nahmen sie ein Wägelchen und fuhren durch den goldenen Abend.

Kirchen, Klöster und Schlösser hoben ihre Türme aus Kastanienhainen und in der Ferne schimmerte eine Stadt. Fröhliches Volk in bunten Trachten kam ihnen entgegen, Landleute, die vom Markt heimzogen, riefen ihnen den Gruß in einer fremden Sprache zu.

Der Kutscher, der wohl an Fremde gewöhnt war, wies mit der Peitsche nach allen Sehenswürdigkeiten und erklärte den beiden in mangelhaftem Deutsch ihre Namen und Bedeutung.

Jetzt blitzte ihnen ein blauer See entgegen.

Auf einem felsigen Vorsprung erhob sich ein Kloster aus mächtigen Bäumen, unter denen ein Zickzackweg zu dem großen alten Bau hinaufführte. An weißen Kapellen vorbei, die den Weg schmückten, sah man das von Epheu umrankte Thor und durch die Bäume, die reichlich Frucht trugen, blitzte neben dem Kloster der See.

»Das sehr berühmte Kloster Santa Maria del Lago mit den dreihundertjährigen Pinien,« erklärte der Fuhrmann.

Da überzwirbelte dem starken Josi das Herz.

Gleich hinter dem Hügel, auf dem das Kloster steht, lag die Stadt, und vor einem kleinen netten Gasthof hielt nach der Weisung George Lemmys das Fuhrwerk an. Da übernachteten sie.

Als Josi am Morgen nach George Lemmy sah, lachte dieser: »Josi, Brigante! Ich bin also zum Ruhen verdonnert, der Fuß ist elend geschwollen. Ich fürchte aber, daß du ein schlechter Krankenwärter bist, darum bleibe mir ein gutes Stück, mehr als dieses Zimmer lang ist, vom Leib. Die Wirtin wird dich unten füttern, doch strecke alle Tage den Kopf einmal herein. Da hast du etwas Klingendes in die leere Weste und hörst du: Wein, Wurst und Brot bestellt man hier zu Lande mit den Worten: Preg' un po' de vin u e un cu de gin com pan!

Und nun versuche einmal, wie sich's auf eigenen Füßen geht.«

Josi war glücklich. Einige Tage frei. Und er war jetzt so nah bei Binia! Aber die Welt war ihm so fremd, daß er kaum wagte, sich zu rühren. Durfte er zu dem Kloster hingehen und nach Binia fragen? Nein, nein! Der Knecht hatte es schon thun dürfen, denn er war ein alter stoppelbärtiger Mann ohne alles Verdächtige. Ihm aber würde alle Welt es ansehen, daß ihn die Liebe zu Binia hingetrieben.

Lange schaute er den Handwerkern zu, die unter den Bögen der Häuser das Kupfer schmiedeten, das Leder klopften und das Holz bearbeiteten. Ein Schneider, der die Brille tief auf die Nase gerückt hatte, sang beim Flicken alter Kleider. Da fiel Josi das Kirchhoflied ein, das er mit der Mutter, mit Vroni und Binia gesungen, aber freilich, wenn er an den Presi dachte, war ihm nicht ums Singen.

Eine Weile später strich er doch um das Klostergut und sang:

»Das Steingenelk, die Königskerzen
Erblühn voll Pracht im heil'gen Rund,
Sie steigen aus gebrochnen Herzen
Und jede Blume ist ein Mund!«

Da horch! Wie er gegen den See hinkommt, antwortet jenseits der epheuumsponnenen Klostermauer eine silberne Stimme mit der gleichen Melodie.

»O wie das weint, o wie das lacht,
Dem Flüstern horcht die Sommernacht!«

Nur einige Takte, dann bricht das Lied ab. – Er hört eine keifende Frauenstimme, dann helles Lachen von jungen Mädchen.

Er rennt davon.

Binia hat ihm geantwortet. Wer sollte sonst Worte und Melodie kennen? In der fremden Welt hat er ihre Stimme gehört. Es wird ihm feierlich zu Mut. Gewiß wird er sie auch sehen.

Aber, wie er so überlegte, wurde er ganz traurig. Was nützte es, sie zusehen? Er wußte ja jetzt bestimmt und fest, daß sie nie zusammenkommen würden. Ihm war, der gräßliche Wunsch im Mund des Presi, Binia möge eher durch eine fremde Hand fallen, als daß sie mit ihm durchs Leben gehe, habe allen Segen, der auf seiner Liebe zu Binia ruhen könnte, hinweggenommen!

Und doch war, seit er ihre Stimme gehört, sein ganzes Wesen in einem Aufruhr der Hoffnung. – Binia sehen! sie sehen!

Am Abend wandte er sich an den Wirt, der einen großen weißen Schurz über seine leutselige Seele und seinen dicken Bauch gespannt hatte und vom Viehhändlerverkehr her etwas Deutsch radebrechte. Er fragte ihn, ob die Klosterschülerinnen in die Stadt zur Kirche kämen.

Nein, antwortete der Gastwirt, sie hätten eine eigene Kirche, die Klosterfrauen kämen nur an hohen Festen in die Stadt, aber sie besuchen mit den naschhaften Mädchen oft den Markt. Morgen sei es Donnerstag, ja, da kämen sie wahrscheinlich. Er möge um acht Uhr dort sein, wenn er die Verwandte sehen wolle, aber ansprechen dürfe er sie nicht, dazu müsse er sich schon im Kloster selbst anmelden.

»Die Verwandte!« Josi lächelte ein wenig über die Vorstellung des Wirtes.

Am Morgen war er früh auf dem Markt. Als es acht Uhr schlug, entdeckte er die kleine Klosterschule, einige Nonnen führten die Schar Mädchen, die mit braunen und blonden Zöpfen einherwandelten und ihre Blicke neugierig über die Menge der auf dem Markt gehäuften Früchte warfen.

Binia war die Zierlichste und Schönste unter ihnen – so schön, daß er sie kaum ansehen durfte. Sie errötete, sie fuhr ein wenig zusammen, als sie ihn bemerkte, dann schaute sie auf die andere Seite und hielt sich dicht an die Schar der übrigen. Sie sandte keinen Blick zurück.

»Jetzt sieht sie mich nicht einmal an,« dachte Josi, und schämte sich, daß er sich so fest eingebildet hatte, Binia liebe ihn sterblich.

Er war enttäuscht, er wagte es nicht, der dutzendköpfigen Gesellschaft, die sich in eine Gasse verlor, zu folgen. Unruhig und verlegen schaute er in das bunte fremde Gewühl der Käufer und Verkäufer. Sollte er bleiben, sollte er gehen? Eine Viertelstunde, da drückte ihm ein blasser Junge, der einen Bündel Schuhe über die Schultern gehängt hatte, einen Papierstreifen in die Hand. Der Knabe erwartete ein Trinkgeld und ging erbost über Josi, der vor lauter Neugier das Geben vergaß, mit einem »Brutto Tedesco« davon.

»Um elf Uhr vor der kleinen Pforte am See. Binia.« Josi hatte genug Arbeit, die paar Worte zu entziffern, das Blatt zitterte in seinen Händen. »Wohl, wohl sie liebt mich,« jauchzte es in ihm.

Wie lange es nicht elf Uhr wurde!

Pochenden Herzens stand er vor dem Pförtchen unter einem Kastanienbaum, der seine Aeste in die Flut senkte. Da bimmelte das Glöcklein im Kloster; während es noch tönte, ging die kleine Thür in der Epheumauer auf.

Im hellen Sommergewand, im Bergerehut, gerade so leicht und flüchtig wie einst, huschte Binia hervor, eine Gärtnerin hob warnend den Finger auf und rief ihr etwas wie eine Mahnung nach, dann schloß sich das Pförtchen wieder.

Man sah, wie Binia das Herzchen flog, »Josi, wie kommst du auch da her?« rief sie.

Eine ziemlich verlegene Begegnung. Ihm glüht der Kopf, er weiß nichts zu sagen.

Binia ist so schön, daß er es kaum wagt, ihr die Hand zu geben, und wie er die weichen Finger in den seinen hält, da ist ihm, er halte einen jungen Vogel, dessen Brust er schlagen fühlt.

Auch Binia ist verlegen. Sie verdeckt es, indem sie hastig erzählt, sie sei vom Markt, ehe es eine Aufseherin bemerkte, unter dem, Vorwand, sie bedürfe neuer Schuhe, in eine Werkstätte geschlüpft, habe dort die Zeile geschrieben und nach der Heimkehr die Gärtnerin bestochen.

Nun lachte sie schelmisch auf, faßte Josi bei der Hand und zog den Willenlosen von der Klostermauer hinweg unter den Bäumen hindurch, bis sie an eine kleine stille Bucht kamen, wo eine Quelle in den See lief. Dort stand sie mit ihm still.

»Gelt, das ist schön hier, Josi,« sagte sie, »der See und die weißen Segel und der Duft um die Berge, aber im Kloster ist's häßlich!«

Traurig erwiderte Josi: »O Binia, ich gehe jetzt in die weite Welt – ich gehe nach Indien. Noch einmal aber habe ich dich sehen wollen. – Grad wie ein Engel bist du ja gegen mich gewesen im Teufelsgarten und weißt nicht, wie du mir dort in meiner unsäglichen Schmach wohlgethan hast! – Also lebe wohl, Bineli – ich wünsche dir tausendmal Glück und alles Gute!«

Er streckte ihr die Hand entgegen.

Binia machte ein sehr betrübtes und rührendes Schmollmündchen, das bebte, als wollte es weinen:

»Aber Josi.«

Da hörten sie aus der Ferne nach ihr rufen. Plötzlich blitzte es in ihren Augen auf, sie hob sich auf die Zehenspitzen, sie legte die Handmuschel an den Mund, als wollte sie laut Antwort geben, sie lächelte aber nur: »Ich komme nicht!«

Josi war ganz verwundert: »Binia!«

»O, Euphemia, die alte Gärtnerin, wird sich schon herauslügen, daß ihr nichts geschieht. Du glaubst gar nicht, Josi, wie hinter diesen Mauern alle gut lügen können. Ich allein kann's nicht – ich bin zu ungeschickt dazu.«

Binia machte ein halb lustiges, halb verzweifeltes Gesicht, hielt den Fingerknöchel an die weißen Zähne und schaute den Burschen mit ihren dunklen Lichtern ganz komisch an. – »Josi,« schmeichelte sie, »weil du da bist, mag ich nicht stillsitzen, mir zappeln die Füße, heute wollen mir zusammen durch Luft und Sonne laufen, bis das Abendrot scheint. Ich dürste nach ein bißchen Freiheit. Ich habe einen Brief vom Vater bekommen, daß mich morgen der Kreuzwirt von Hospel abholt, und ich wieder nach St. Peter zurückkehren kann. Da können mir, wenn ich ihnen auswische, die heiligen Frauen nicht mehr viel thun. O glaube mir, Josi, das sind furchtbar grausame Weiber!«

Ein Zittern lief durch Binias schlanke Gestalt.

»Komm, Josi, mir wandern, ich kann jetzt gewiß nicht grad wieder ins Kloster hinein!«

Sie zog ihn mit. – Die Liebe zu Binia und der Trotz gegen den Presi besiegten seine Vorsätze. Still wie Flüchtlinge gingen sie eine Weile durch Bäume und Gesträuch, dann dem See entlang, dann planlos bergauf. Sie entdeckten bald, daß man sie nicht verfolge, auf der Höhe stieß Binia einen Jauchzer aus und sie setzte sich.

»Josi, es ist so schön von dir, daß du gekommen bist. Niemand stört uns in dieser fremden, sonnigen Welt. Ach, wie garstig, man sieht deine Narbe immer noch!«

Mit feiner, liebkosender Hand glitt Binia darüber hin, er sah das Licht rosig durch ihr kleines Ohr schimmern, die Spitzen ihres dunklen Seidenhaares berührten sein Gesicht und der Pfirsichflaum der Wange streifte ihn.

Er verging fast vor Seligkeit, aber die jubelnden Stimmen des Glückes vermochten die Sorge nicht ganz zu übertönen. »Du, Binia,« hob er etwas beklommen wieder an, »es ist mir gar nicht recht.« –

»Was bist du für ein schöner Bursch geworden, Josi,« unterbrach sie ihn, »berichte mir von daheim – ich bin so neugierig.«

Während er erzählte, gingen die feinsten Spiele über ihr Gesicht, es wurde fröhlicher und fröhlicher – als er ihr schilderte, wie er Thöni von der Planke geholt hatte, klatschte sie in die Hände: »Josi, das ist herrlich – ich möchte dir gern etwas Liebes anthun, aber ich weiß nicht was!« Und mit demütiger Stimme: »Ich weiß nicht, warum ich dich so lieb habe, Josi.«

»Sieh, grad so geht es mir mit dir, Bini!«

»Das ist merkwürdig,« erwiderte sie träumerisch und ihre Stimme wurde wieder hoch und fein. »Am Wassertröstungsmorgen, als ich sah, wie deine Mutter wegen meines Vaters litt, da war's, als stände plötzlich in meiner Brust mit feurigen Buchstaben: ›Ich liebe Josi!‹ Und als der Vater mißverstand, was ich im Fieber redete, als er dich haßte, da wurde die Liebe nur größer; als er dich zu Bälzi als Knecht gab, da wuchs sie, als du Rebell wurdest, da starb ich fast, und als dich mein Vater schlug, da wußte ich's wohl: Jetzt rinnt das Blut Josis um mich, jetzt kann ich ihn nicht mehr lassen, selbst um meine Seligkeit nicht! Und so ist's mit mir: Würdest du sagen: ›Steige auf jenen Schneeberg‹, so würde ich steigen, bis ich vor Müdigkeit umsänke, und würdest du befehlen: ›Schwimme über diesen See‹, so würde ich mit meinen Armen rudern, bis – du ziehst so ein finsteres Gesicht, Josi – ich bin ganz unglücklich – du denkst gewiß, es sei schlecht von mir, daß ich mit dir gehe, obgleich es mein Vater nicht gern hat – aber ich habe dich halt so lieb!«

Sie senkte ihr Gesicht schalkhaft und schämig.

»O Binia,« antwortete er, »du hast recht – ich will mich mit dir an dem schönen Tag freuen – es ist vielleicht der einzige, den wir erleben.«

Sie gingen weithin über die sonnigen Hügel mit den prangenden Herbstfarben, aber eine leise jugendliche Scheu schritt noch zwischen ihnen, die manches, was sie sagen wollten, zurückhielt. Um so mehr redeten ihre Augen. Immer und immer wieder betrachtete eins verstohlen das andere.

Vor sich an einer Höhe sahen sie in die welkenden Bäume hineingespannt die Netze eines Vogelstellers. Neugierig wie Kinder liefen sie hinzu und beschauten die malerisch hängenden Garne. Ein halbes Dutzend Amseln hing mit todesbangen Blicken darin. Binia zog einen Vogel um den anderen vorsichtig heraus, betrachtete lächelnd jedes Tierchen, preßte ihm einen Kuß auf den Schnabel und gab ihm die Freiheit. Die Vögel flatterten erst ängstlich, spürten dann die Befreiung, flogen in die Höhe und freudiges Geschrei stieg aus dem reinen Blau auf die Erde zurück.

Josi staunte Binia nur an: »Du herrliches Kind! Wenn aber der Mann käme, dem diese Vögel gehören!«

»O, ich habe den Nonnen manchmal den Spaß verdorben, und sie haben die Thäterin nie erwischt. Ich hätte mich auch für ein glückliches Vogelherzchen die ganze Woche einsperren lassen. – – – Josi« – ihre Finger berührten seine Hand – »vielleicht bin ich auch einmal so ein armes Schelmchen – und dann kommt jemand Barmherziger und löst mich.«

Ein Strahl ihres dunklen Auges traf ihn, ihr Mund aber lächelte herzgewinnend.

»Bini, ich habe mir schon fast den Kopf zerbrochen, wie wir trotz dem großen Zorn deines Vaters zusammenkommen könnten,« stammelte Josi. »Und ich weiß es – es bleibt mir nichts anders übrig, als daß ich für unsere Liebe an die Weißen Bretter steige.«

Da lehnte sie ihr Köpfchen schluchzend an seine Brust: »Das willst du für mich thun, Josi! Nein – nein. – Das darfst du nicht. – Du würdest fallen, wie dein Vater gefallen ist. – Und denke an meinen Vater – ich habe ihn, wenn er auch manchmal wüst und böse ist, doch so stark lieb; ich möchte nicht, daß die Nachtbuben kämen, um dem Gemeinderat im Werben zu helfen, und die rasselnden Ketten um das Haus schleiften und riefen: ›Presi, gebt die Binia heraus!‹ Ich glaube, da würde er auch erst recht wild über dich.«

Sie sah ihn hilflos an.

»Binia, so thöricht bin ich nicht. Ich plane es anders! Kein Mensch weiß es, was ich thun will, dir aber, liebes Bineli, will ich es verraten. – In drei Jahren komme ich wieder heim, dann will ich St. Peter aus der Blutfron an den Weißen Brettern befreien. Um zu lernen, wie ich's angreifen muß, gehe ich mit George Lemmy nach Indien.«

»Josi! – Du willst St. Peter aus der Blutfron befreien.« – Ein überirdischer Glanz lag in ihren Augen und das Wort tönte wie ein Schrei. Sie schaute ihn staunend an, sie preßte seine Hände. »Josi, kannst du das? – Josi, ich glaube, das hat dir Gott eingegeben. – Ich halte dich nicht zurück – nein, lieber Josi, thu's – thu's! – Meine Gedanken sind mit dir, wenn du an den Brettern schaffen wirst.«

Weiter, weiter führte sie die Sonne unter Kastanienbäumen dahin, die ihre stachlichten Früchte auf den Boden fallen ließen. Tief unter ihnen gegen den See hin jauchzten die Winzer in den Reben.

Sie sahen aber das Leuchten der Natur nicht, sie hatten zu viel von Brust zu Brust zu tauschen.

Binia glühte für Josis Plan.

»Josi, jetzt weiß ich, warum ich dich so lieb habe. Du hast halt ein großes, mutiges Herz – und als ich es noch nicht wußte, habe ich es doch schon geahnt, denn es strahlt aus deinen Augen. Und jetzt ist mir, ein Thor habe sich vor uns aufgethan, durch das unsere Liebe hinaus in den Frühling wandern kann. Es kommt alles, alles gut! Sieh, nur ein festes Vertrauen braucht es, dann werden zuletzt alle Träume und Wunder wahr – auch das unserer Liebe und unseres Glücks. Gewiß ist mein Vater der erste, der dich mit Freuden empfängt, wenn du die Blutfron von St. Peter nimmst. Er hat Sinn für alles Große.«

»Bini, wenn du so redest, so fange ich selber wieder zu glauben und zu hoffen an – du liebes, liebes Kind.« Er schlang den Arm um ihre Hüfte und so wanderten sie in heiligem Glück.

»Das ist ein herrlicher Tag,« jubelte Binia.

Auch Josi schwamm in stiller Seligkeit. Der Gedanke an den Fluch des Presi verschwand vor der blühenden Wirklichkeit. So schön hatte er sich das Leben nie gedacht. Wie das nur kam, daß er so allein mit Binia durch die lachende Welt wandern durfte? Womit hatte er es nur verdient? Rein wie der milde blaue Herbsthimmel erschien ihm sein Leben, es war ihm, als müßte es nun immer so bleiben und als stände nun die Zeit über ihm und Binia stille.

Wie lange ist so ein glücklicher Tag!

Unvermerkt lenkten sie ihre Schritte abwärts, und mit freundlichem Zuruf grüßte Binia das bunte Völklein der Winzer, dieses reichte ihnen dafür Trauben und Pfirsiche über Mauern und Hage und lachte dem wandernden Pärchen zu. Und wenn sie aus den Blicken der Erntenden waren, schob eines dem anderen scherzend die Beeren in den Mund.

»Ich habe gar nicht gemeint, Josi, daß du so lieb und artig sein könntest,« lachte Binia.

Als sie zu einer weinumrankten Osteria kamen, wo man die Aussicht auf den Spiegel des Sees frei genießt, setzten sie sich auf eine Bank im Garten. Die Wirtin, eine freundliche alte Frau, fragte, ob sie etwas zu essen und zu trinken wünschen.

Als aber der Wein und das Essen vor ihnen stand, da nippten sie nur an den Gläsern. Die Wirtin schaute ihnen etwas betrübt zu und versicherte sie, daß die Speisen gut seien. Da langte Binia keck zu und legte ein paar Schnitten des rötlichen Fleisches in den Teller Josis. Sie selber möge nichts. Und sie plauderte mit der Wirtin.

Josi, der von der Unterhaltung nichts verstand, sah, wie Binia plötzlich erglühte.

Als die Wirtin gegangen war, fragte er Binia, warum sie so rot geworden sei.

Sie senkte, aufs neue errötend, das Köpfchen, schlug die Augen auf und lächelte kaum merkbar: »Wenn ich's nur sagen dürfte – sie – hat gefragt – ob wir Brautleute seien.«

Da übergossen sich auch Josis Wangen mit dunklem Rot und seine Narbe trat deutlich hervor. Zögernd fragte er: »Was hast du ihr geantwortet?«

»Es hat mich halt so schön angemutet, da habe ich ›Ja‹ gesagt.« Sie flüsterte es mit seiner Stimme, sie lehnte sich zurück, daß er sie nicht sehen konnte, sie schmiegte sich so an ihn, daß ihr weiches Haar, das sich um die Schläfen wand, sein Ohr berührte und umschlang mit ihrem Arm seinen Arm.

»Hätte ich es nicht thun sollen, Josi?«

Da suchten sich ihre Hände, und als sie sich gefunden hatten, flüsterte sie: »Jetzt sind wir aber auch wirklich Brautleute.«

Josis Augen strahlten.

Da trat die Wirtin wieder zu ihnen. Von einem noch blühenden Stock schnitt sie die Rosen und gab sie Binia mit einem Glückwunsch. Binia steckte die Knospen an die Brust und nun drängte sie zum Fortgehen. Sie wollte mit Josi allein sein.

Das erste Stück Weges gingen sie schweigend. Da sagte Binia wie im Traum: »Ringe haben wir noch nicht!«

»Ich habe dir aber ein Andenken, Bineli – einen Tautropfen von der Krone. ›Tautropfen‹ habe ich dich immer genannt, wenn ich an dich dachte, Bineli.«

»Das ist lieb,« sagte sie leuchtenden Blicks. »Ich möchte gern ein Tautropfen sein, so rein, so frisch, so sonnenvoll, damit ich dir immer gefalle, Josi. Ich habe ein Kettelchen mit einer Kapsel von meiner Mutter selig, darein lege ich den Tropfen. Dann ruht er gewiß an einer treuen Brust. – Ich gebe dir diesen Mädchenreif – er ist zu klein für deinen Finger. – Aber trag ihn auf dir. – Küsse ihn jede Nacht und denke an mich.«

Sie schmiegte sich zärtlich an ihn, er küßte sie auf die Schläfe.

Da küßte sie ihn auf den Mund – er sie wieder.

Auf dem See lag ein weicher Abend und hüllte die Welt in Licht und goldigen Duft. Binia sah in süßer Träumerei vor sich hin. »In drei Jahren kommst du wieder, Josi. Und ich will dir treu warten und dann alle Tage hinaus gegen den Stutz schauen, ob du gegangen kommst.«

In der Dämmerung erreichten sie die Nähe der Stadt wieder. Binia war still. Die lange Wanderung hatte sie müde gemacht und ihre tolle Entweichung aus dem Kloster lag nun doch schwer auf ihren Gedanken.

»Was wird man dir anthun, arme Bini?«

Sie zwang sich zu einem Lächeln: »Auf einem kantigen Scheit werde ich neben der Nonne knieen müssen, welche die Nachtwache hat, und beten.«

»O, du armes Kind,« erwiderte Josi voll tiefen Mitleides.

»Nein, ich bin reich, ich denke dann immer an dich und an den langen schönen Tag.«

Wie mild und innig das von ihren Lippen floß. Josi wußte nicht, sollte er jauchzen vor Glück oder weinen, daß sie seinetwegen in so grausame Strafe kam.

Am mondbeglänzten See betrachteten sie die kleinen Heiligtümer noch einmal.

»Jetzt sind wir verlobt,« hauchte Binia, »jetzt bin ich deine Braut.«

Sie umarmten sich. Binia weinte vor Ergriffenheit, aber sie waren nun in die Nähe des Klosteraufganges gekommen und plötzlich drückte sie Josi heftig die Hand und küßte ihn leidenschaftlich: »Lebewohl, lieber, lieber Josi, wir sehen uns gewiß wieder und es kommt alles gut.«

Dann riß sie sich los, kam nach ein paar Schritten noch einmal zurück: »Josi!« Ein schmerzlicher Schrei aus blassem Gesicht, und dann verschwand die flüchtige Gestalt im dunklen Laubengang. Josi stand und starrte in die Dunkelheit, dann hörte er den schrillen Anschlag der Klosterglocke. Als Binia nach einiger Zeit nicht wiederkam, da riß auch er sich von der Stelle los.

Wachte er oder träumte er? Er küßte das Ringlein Binias, er dachte so innig, so heiß an sie, die jetzt um ihn litt. Aber auch der Fluch des Presi peinigte ihn wieder.

Als er am anderen Tag den Kopf ins Zimmer George Lemmys steckte, rief dieser lustig: »Boy, der Fuß ist schon fast besser – Felix Indergand ist da – morgen reisen wir!«

Da trat Indergand, der starke, kräftige Mann mit dem offenen Gesicht, unter die Thüre: »Blatter, eben ist der Kreuzwirt von Hospel mit seiner Nichte aus der Stadt gefahren.«

Mit nassen Augen ging Josi in einen Winkel und faltete die Hände: »An die Weißen Bretter für Binia!« dachte er. »Was man im Namen der heiigen Wasser thut, das muß unabwendbar geschehen. Ich will's glauben wie die zu St. Peter und dem Himmel mit einer That für den schönen Tag danken.«


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