Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

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VII.

»Das Dörfchen unter dem Donner der Lawinen.« – »Das unberührte Idyll, aus dem noch keine Kellnerserviette die Poesie gestäubt hat.« – »Das Thal des altertümlichen Volkslebens und der originellen Sitten.«

Die Schlagwörter flogen nur so. Wie aus einem Taubenschlag flatterten aus dem Bären mit jedem Morgen Gäste und Gästinnen durch das Dorf auf die Maiensässen und die Alpweiden und mit Blumen beladen am Abend zurück. Jeder kam sich wie ein kleiner Columbus vor, jede wie eine Columbussin, die Glücklichen vergaßen ganz, daß sie der Kreuzwirt von Hospel nach St. Peter gewiesen hatte, und genossen unbeeinträchtigte Entdeckerfreuden. Wie hatte man die Krone, diesen kühnen und gewaltigen Hochbau des Gebirges, so lang übersehen können? Und die schlanke, zierliche Nadel des Bockje, auf dessen Spitze eine Tiergestalt zu ruhen schien, nach der Volkssage ein Steinbock, der auf der Flucht vor dem Jäger auf die Spitze geraten und, als er nicht weiter konnte, versteinert war. Und dann das Dorf St. Peter mit den geheimnisvollen alten Zeichen und Runen an den Holzhäusern, mit den Scheunen und Stadeln, die auf gemauerten Steinsäulen ruhten, so daß es beinahe wie ein aus alter Zeit übriggebliebener Pfahlbau aussah.

Nicht zuletzt liebten die Gäste den Bären, das Urbild eines alten schönen Bergwirtshauses, befreundeten sie sich mit der immer liebenswürdigen Bärenwirtin, bewunderten sie den Bärenwirt, die hünenhafte Prachterscheinung eines Bergbewohners, einen Mann, der, wie eng sein Gesichtskreis sein mochte, von fast bedrückender Gewalt des Wesens war. Wer eines Führers bedurfte, nahm den lustigen Thöni mit, der, gefällig und kurzweilig, sich an das Wesen eines jeden anschmiegte und als ein fröhlicher Junge von einer gewissen Bildung auch das Wohlwollen der Frauen genoß.

»Hier ist es schön, entzückend schön,« schwärmten die Sommerfrischler und flüsterten sich zu: »Nur nicht ausbringen, was für ein Dorado wir gefunden haben, kennt erst die Welt St. Peter, dann seht nach, was im Bären die Forellen kosten.«

Weniger zufrieden waren die Dörfler.

Zuerst staunte man billig über die Weltleute, dann sagte man: »Wozu die Fremden? Zwar sind die Firnen und Gletscher der Krone noch nicht gefallen. Aber was noch kommen wird, weiß man nicht. Und man hat, seit die Welt steht, im Glotterthal zu essen gehabt, ohne ungebetene Gäste.«

Ueberall streckten die Sommerfrischler die Köpfe durch Fenster und Thüren, sie erkundigten sich nach Dingen, die niemand etwas angingen als die von St. Peter selbst. Die fremden aufgeputzten Weiber glaubten den Frauen des Dorfes gute Ratschläge über Wohnungslüftung und Kinderpflege geben zu sollen, sie zuckten zu manchen Dingen, die sie sahen, die Schultern und liefen durch die Aecker und Maiensässen, als ob das Land im Glotterthal herrenlos wäre.

Ein rotwangiger Springinsfeld, der sich kleidete wie ein Bajazz bei den Buden, die man an den Märkten zu Hospel sieht, stellte sich mit seinem Eisbeil vor ein paar Frauen, die auf dem Acker arbeiteten, und fragte: »Na, sagen's 'mal, wo sind denn die schönen Sennen und Sennerinnen, die vom Morgen bis zum Abend auf den Bergen stehen, die Hüte schwenken, jauchzen und jodeln, und ihre Schweizerlieder singen?«

»Meint Ihr, wir seien solche Narren!« antworteten die Weiber, »werken müssen wir, daß die Rippen auseinanderbrechen möchten. Aber hudlig sind wir nicht.«

»Ja, die Fremden sind ein verrücktes Volk,« meinte der Fenkenälpler, die dicke Bäliälplerin aber jammerte und zürnte: »Was mir geschehen ist! Kommt, wie ich an nichts denke und meiner Wege gehe, so eine Nichtsnutzin auf mich zu und sagt: ›Frau, Ihr raucht einen bösen Knaster, Ihr verderbt die reine Alpenluft – legt doch lieber die Pfeife weg – es schickt sich an uns Frauen ja gar nicht, daß wir Pfeifen rauchen.‹ Da habe ich aber – reine Alpenluft hin und reine Alpenluft her – ihr zu leid so genebelt, als ob die Hasen backen»Die Hasen backen«, sagt das Volk, wenn nach langem starkem Regen die Nebel aus den Wäldern steigen. würden.«

»Tausendmal recht habt Ihr gehabt,« erwiderte der Fenkenälpler. »In St. Peter sind wir noch Meister – und wir lassen die Fremden ja im Frieden herumkalbern!«

Schlimmer noch. Die Weiber von St. Peter wollten nicht mehr in den Leinenhosen, die sie sonst sommers über zur Arbeit trugen, durchs Dorf auf Alpe und Feld gehen. Die Fremden schauen sie so neugierig an und lachen über das Kleid, klagten sie.

»Wenn ich einmal einen lachen sehe, bekommt er Ohrfeigen,« quiekte der Glottermüller.

Der Presi aber rieb sich im Herbst die Hände: »Ta-ta-ta, das Fremdenwesen geht gut. – Schwager Kreuzwirt, ich danke Euch.«

Die Dörfler mochten schimpfen, er war hellauf, wie seit Jahren nicht mehr; er schlang den Arm um die Hüfte der stattlichen Frau Cresenz: »Gut ging's!« Sie streifte seinen Arm ab und lachte: »Ihr seid doch kein Jüngling mehr, Präsident.«

Das Ehepaar redete sich mit »Ihr« an, die Frau nannte ihren Eheherrn auch nie »Presi«, sondern »Präsident« und die Gäste waren noch höflicher. Sie riefen ihn »Herr Präsident«. Das klang ihm freilich schöner in die Ohren als das dörfliche »Presi«.

Manchmal ärgerte er sich, wenn Frau Cresenz wie heute so kühl war, manchmal aber schmeichelte er ihr erst recht.

»Etwas Klügeres als Euch zu heiraten, hätte ich nicht thun können. Ihr seid die Wirtin, wie sie im Buche steht. Ihr seid freundlich mit allen Gästen, doch mit keinem zu viel. Ihr führt ein gutes Hausregiment. Aber wißt, ein bißchen zärtlicher hätte ich Euch schon gern. Habt Ihr denn gar nichts vom Thöni, hinter dem muß man ja immer mit dem Donnerwetter her sein, daß er nicht beständig an den Schürzen der Mägde hängt.«

»Nein, ich mag das Scharwenzeln und Thörichtthun nicht leiden. Das habe ich schon meinem seligen Ersten immer gesagt.«

»Mir aber geht's merkwürdig!« erwiderte der Presi fast ernst. »Die Beth selig hat mich manchmal mit ihren braunen Augen so barmherzig angeschaut und still gebettelt, ich möchte ihr etwas Liebes sagen oder mit der Hand übers Haar fahren, oder sie nur ein bißchen schlimm ansehen. Ich aber habe es nicht übers Herz gebracht. Doch jetzt möchte ich gern – und jetzt wollt Ihr nicht.«

Frau Cresenz, der kühlen Frau, wurde es bei solchen Gesprächen unbehaglich zu Mute, etwas hilflos sagte sie: »Ich schaue doch immer zum Frieden.«

»Ihr seid recht. Ihr seid mehr als recht, Präsidentin. Wenn ich nur denke, wie Ihr Bini gezogen habt, den verlotterten Wildfang.«

»Sagt, Präsident, das bleibt aber eine sonderbare Geschichte, wie das Kind sich plötzlich bekehrt hat. Wißt Ihr noch, es war in der Nacht kurz vor Neujahr, als ich immer behauptet habe, es habe gegeistert im Haus. Da kam am Morgen die Wildkatze geschlichen. ›Ich will Euch jetzt Mutter nennen und ganz artig sein.‹ Und sie schmeichelte um mich wie ein Kätzchen. ›Hast dein Trotzherz gebrochen?‹ fragte ich. Da wird sie rot und sagt: ›Ja – die selige Mutter hat halt mit mir geredet und gewünscht, daß ich Euch folge.‹«

»Ja, wenn die Beth selig dem Kind gute Gedanken giebt, so laßt sie nur durchs Haus wandeln,« lachte der Presi.

»Ich glaube selber, Bini sei enthext.«

Das Gesicht des Presi verfinsterte sich: »Präsidentin, redet nicht so dumm.«

»He,« sagte Frau Cresenz verlegen, »die alte Susi lag mir, ehe sie zu ihren Verwandten nach Tremis zog, immer im Ohr, Bini sei vom Kaplan Johannes besprochen – ich solle sie von einem Kapuziner entzaubern lassen. Und ich habe es selber geglaubt, weil sie die erste Zeit gar so bösartig gewesen ist.«

Der gute Humor des Presi war verdorben.

»Aber Ihr mögt ihr ja selber nicht recht ein gutes Wort gönnen,« warf Frau Cresenz beklommen ein.

»Das ist etwas anderes,« schnauzte der Presi, »aber ich leide es nicht, daß man Bini zu einem Hexlein stempelt.« Er stand auf und machte einen Gang durchs Haus von zu unterst bis zu oberst.

Seine Gedanken waren beim letzköpfigen Pfaffen, der Binia besprochen haben sollte. Er mochte den Halbnarren trotz dem thörichten Gerede nicht übel leiden.

Kaplan Johannes, der in St. Peter nur so zugelaufen war, wie in einem Hause sich etwa ein herrenloser Hund oder eine Katze einnistet, war schlauer als die Dörfler allesamt. Er hatte sich die durch die Fremden veränderten Verhältnisse rasch zu nutze gemacht. Er lief etwas weniger den Bauern- und Alpweibern nach, er tauschte für seinen Kräuterthee, der gegen das Doggeli schützen, Kreuzschmerzen vertreiben und das Lungenfieber heben solle, etwas seltener Brot, Käse und Speck ein, dafür begann er am Wege beim Schmelzwerk einen kleinen Mineralienhandel und verkaufte den Gästen die glitzernden Siebensachen von Krystallen und Erzen, die man im Gebirge um St. Peter findet, zu ansehnlichen Preisen.

»Woher er sie nur hat?« fragte sich der Press. Und dann sagte er sich: »Gelegentlich muß man ihn doch fortschaffen. Am Abend gröhlt und plärrt der Narr im Schmelzwerk, daß nach Einbruch der Nacht kein Mensch mehr den ohnehin verrufenen Weg zu gehen wagt. Auch laufen von ihm immer erfundene oder wahre Geschichten, daß er an die Weiber ungebührliche Zumutungen stelle. Ein widriger, unheimlicher Geselle ist er schon, und die häufigen Anfälle von Fallsucht, die er hat, machen ihn nicht angenehmer. Es ist übrigens, als könne er sie selbst künstlich hervorrufen, sie pflegen ihn zu überfallen, wenn ihm jemand eine Gabe verweigert, und bloß um das schreckliche Bild nicht in der Stube zu haben, schenken ihm manche Leute, was er begehrt. Der Bäliälpler hat freilich ein besseres Mittel erfunden. Er hatte den letzköpfigen Pfaffen, als er schäumte und zappelte, mit kaltem Wasser überschüttet. Da war der Narr heulend davongelaufen und nie wieder gekommen.

»Ba! Warum den schriftenlosen Vagabunden forttreiben. Die Gemeinde hängt daran, daß jemand bei der Lieben Frau an der Brücke die üblichen Glockenzeichen giebt, dazu ist Johannes gut genug. Und der Pfarrer, der gegen den Fremdenverkehr gepredigt hat, muß auch seinen Pfahl im Fleische haben, das ist lustig!«

So dachte der Presi. Wie er vom Keller auf den Estrich gelangt war, kam ihm Binia nachgelaufen: »Vater, der Garde ist da.« Nun ging ein Zug der Ueberraschung und ehrlicher Freude über seine eherne Stirne und um seinen willensstarken Mund. Er hatte sich schon lange heimlich gekränkt, daß der Garde, seit Sommerfrischler kamen, den Bären mied. Ohne den Garden aber, den einzigen Mann im Dorfe, den er aus Herzensgrund achtete, konnte er fast nicht leben.

Nun grüßte er ihn in der großen Stube rasch und herzlich.

»Ich mag mich halt im Sommer nicht unter die Fremden setzen,« knurrte der breite, schwerfällige Freund, »und in das neumodische geringe Stübchen ebener Erde müßtet Ihr mich schon erst später einmal tot hineintragen, lebendig gehe ich nicht über seine Schwelle.«

»Wir wollen wieder einmal anstoßen wie früher, nehmt die Welt, wie sie ist,« lachte der Presi. »Zum Wohl, Garde!«

»Presi,« und der Garde blinzelte belustigt, »Ihr versteht es, gutes Wetter zu machen.«

Nun waren die beiden Männer im Zug. Als das Gespräch eine Weile gegangen, murrte der Garde:

»Ich geb's ja gern zu, daß unter den Fremden viele ehrbare und rechtschaffene Leute sind, es wäre traurig, wenn's anders wäre, aber es bleibt halt dabei, die Fremden verstehen uns nicht, wir sie nicht. Seit sie kommen, ist eine verborgene Unruhe im Dorf, niemand weiß, wo hinaus es will.«

»Ta-ta-ta. Wo hinaus?« eiferte der Bärenwirt. »Daß sich die Leute an sie gewöhnen – in Grenseln und Serbig haben sie auch zuerst die Hände hinter den Gästen geballt, jetzt aber stehen sie an allen Straßen, verkaufen ihnen Edelweiß, tuten auf dem Alphorn und juheien sie an.«

»Eben, eben,« zürnte der Garde, »sie sind hudlig geworden. Presi – ich habe ruhiges Blut, aber das erste Mädchen in St. Peter, das sich an den Weg stellt und die Fremden ansingt, nehme ich bei den Zöpfen, führe es zu seiner Mutter, und der sage ich alle Schande. So lang ich lebe, darf unsere Gemeinde nicht hudlig werden.«

Er schlug mit seiner Faust auf den Tisch.

»Aber, Garde, ich will ja das auch nicht,« besänftigte der Bärenwirt.

»Es kommt halt von selbst, ob Ihr wollt oder nicht – aber das glaube ich auch,« der alte eiserne Sprecher lachte grimmig, »ehe das Dorf hudlig wird« – eine Flamme schoß aus seinen Augen – »ehe das Dorf hudlig wird, geschehen böse Dinge – giebt es Aufruhr und Unglück.«

»Seid doch kein Rabenvogel! Die Leute finden ja mit der Zeit durch die Fremden einen schönen Verdienst.«

Der Garde schüttelte den Kopf, langsam und feierlich sagte er: »Ihr kennt unser Völklein. Das paktiert nicht, das schweigt, das seufzt und schimpft im stillen, das ballt die Fäuste im Sack, das besinnt sich siebenmalsiebenmal, das betet, duldet und trägt, – aber wenn's ihm zuletzt aus der Seele in die Knochen fährt, – dann würde ich mich lieber vor hundert wütende Bullen stellen als vor die Gemeinde.«

Dem Presi war nicht wohl bei dieser Rede, der Garde aber fuhr in seiner feierlichen Art fort:

»Denkt Euch, es gehe einmal einer von den unseren, bestochen durchs Geld, mit einem Fremden auf die Krone. Was geschieht? In einer Nacht brennt ihm die Hütte nieder. Entweder es kommt nicht aus, wer der Brandstifter ist, dann trägt die Gemeinde die Schande. Oder er kommt aus und die Landjäger holen ihn. Dann, Presi, würde ich um den Bären Sorge tragen.« »Garde, malt den Teufel nicht an die Wand, ich ertrage es nicht.« Der Presi war hastig geworden und verwarf aufstehend die Arme. »Keiner würde dem Bären etwas zu leide thun – keiner – als etwa der Lausbub der Franzi.«

»Die gottlose Rede nehmt zurück. – Josi ist ja so ein ehrbarer Bursche. Das habe ich aber schon lange gemerkt, daß Ihr Gift auf ihn habt. Jetzt frage ich als Vogt des Buben: Was habt Ihr wider ihn?«

Der Garde stellte sich vor den Presi, aber auch diesem leuchtete es bös auf im Gesicht: »Der? – Wißt Ihr, was der über mich gesagt hat? – Die Hand müsse mir aus dem Grab wachsen! So wagt er sich an Leute von Amt und Ehre.«

»Wann? wo? zu wem hat er's gesagt?«

»Zu Binia hat er's gesagt.«

Der Garde wiegte den schweren Kopf. »Bini lügt nicht. Ich will dem Donnerhagel das Hirn säubern.«

Mit zündelrotem Kopf lief er davon. Binia, die durchs Haus strich, hatte auf das laute Wesen der Männer in der Küche das Schiebefenster gegen die Stube geöffnet, um neugierig zu hören, was denn los sei.

Jetzt war sie unglücklich, wie ein aus dem Nest gefallener Vogel: »Mutter – Mutter – selige Mutter.«

Ihre Hände verkrampften sich ineinander, ihre Augen wurden groß.

Was hatte sie in einem Augenblick der Verwirrung Josi Schreckliches angethan!

Wenn sie der Vater einmal wieder mit der vollen Lichtfülle seiner Blicke ansah, dann peitschte sie der Gedanke, sie müsse vor ihm niedersinken und sprechen: »Vater, sei doch nicht so thöricht, daß du einem Kind, was es im Fieber geredet, glaubst. Es hat gelogen, gräßlich gelogen, in seiner Verwirrung. Nicht Josi Blatter, nein, der Kaplan Johannes hat das Entsetzliche gesagt! Und ich glaube es nicht – gewiß Gott, glaube ich es nicht.«

O, sie erinnerte sich wohl, was sie damals in ihren großen Schmerzen ihrer Krankheit gefaselt hatte. Die Erinnerung daran brannte sie wie höllisches Feuer, aber jedesmal war der Entschluß zum Bekenntnis erst im Werden, wenn der Blick des Vaters schon wieder eisig und vernichtend wie sonst geworden war.

Er verzieh ihr jene Fieberbeichte nie.

Hätte sie die Erinnerung an das, was sie über Josi gesagt hatte, nicht immer gebrannt, so wäre sie beinahe ein glückliches Persönchen gewesen.

Wie anders war's jetzt als damals, da sie die Verzweiflung durch die Mitternacht und den hohen Schnee zu Fränzi gejagt hatte. Sie hatte das trotzige Köpfchen gebändigt, nur hin und wieder ging noch ihr wildes Blut mit ihr durch, erlag sie noch den Anfällen schmerzlichen Grübelns. Ihrer seligen Mutter hatte sie, wie Fränzi ihr geraten, einen Altar im Herzen errichtet, der neuen gehorchte sie, ohne tiefgründige Liebe zwar, aber doch in herzlicher Achtung.

Oft hatte sie das Heimweh nach Fränzi, ihr feuriges Herz glühte in ehrfürchtiger Liebe für sie. Die hätte sie gern zur Mutter gehabt. Aber wegen des Vaters wagte sie nie mehr einen Besuch bei ihr.

Klagen wollte sie nicht.

Die immer gemütliche kühle Frau Cresenz, der Lächeln und Lachen Lebensberuf war, die kaum mehr wußte, daß sie lächelte und lachte, war freundlich gegen sie. Sie sorgte namentlich, daß sie in Gebärde und Bewegung, in Redensart und Kleid so vor die Gäste trat, wie es sich nach ihrer Meinung für das Bärentöchterlein von St. Peter schickte.

Es kamen aber immer wieder Augenblicke, wo Frau Cresenz die Kraft versagte. Wenn Binia ihr dunkles Augenpaar groß und fragend in die Welt stellte, schalt sie: »Kind, schau doch anders, es wird einem angst und bang vor deinen sonderbaren Lichtern. Wohl, wohl, die sind dazu angethan, einmal das Mannsvolk verrückt zu machen.«

Binia war es manchmal, als möge die Stiefmutter sie wegen ihrer Augen nicht leiden, aber noch unartiger war Frau Cresenz, wenn sie über kleine Herzensangelegenheiten mit ihr reden wollte.

»Dummes Kind, sprich nicht so geheimnisvoll – es ist gar nicht nötig, daß man alles in der Welt erkennt und ergrübelt, es ist sogar ungesund – recht thun, freundlich sein mit den Leuten, hie und da auch, wenn's einem nicht drum ist, damit kommt man durchs Leben.«

Wenn die neue Mutter so redete, schnürte es Binia die Brust zusammen. »Freundlich sein, wenn's einem nicht drum ist. Das versteh' ich nicht.« Traurig schüttelte sie das Köpfchen. Diese Kunst besaß aber die Stiefmutter, gerade darum konnte sie dieselbe nicht von Herzen lieben. Sie spürte, es war nichts Tiefes, Kernhaftes in dieser glatten, liebenswürdigen Frau.

Da gefiel ihr der Vater in seiner rauhen Wildheit doch viel mehr. In ihm lag, das spürte auch sie, eine übermächtige, ungezügelte, wahre Kraft. Er schleuderte die Beleidigungen ohne Besinnen hin, es war fast niemand im Dorf, den er mit einem raschen Wort nicht schon tödlich verletzt hatte, aber ein voller freundlicher Blick aus seinen dunklen Augen, ein gutes Wort – und alle, die ihn haßten, waren entwaffnet.

Und wie die Fremden von ihm sprachen! Sie hörte immer noch den ernsten alten Doktor, der so eifrig mit seinem Nachbar plauderte, daß er nicht merkte, wie sie mit einem Gericht herzutrat:

»Eine so gewaltige Gestalt wie der Herr Präsident, glaube ich, ist fast eine Ueberlast für ein Dorf wie St. Peter. Den hätte die Geschichte brauchen können, um einen großen Bauernführer aus ihm zu schnitzen.«

Eines schnitt Binia wie ein Messer ins Herz, nämlich wenn der Vater mit den fremden Frauen und Kindern redete. Wie klang das lieb und gütig, wie war er aufmerksam gegen sie. Die Kleinen und die Backfische hingen an ihm und einmal hörte sie eine fremde schöne Tochter sagen: »Mama, der Herr Präsident ist doch der herrlichste Mann, den mir auf unseren Reisen kennen gelernt haben.«

Da entglitt ihr der Früchteteller, mit dem sie zudienend um die Tafel schritt.

Sie sah, wie der Vater höhnisch die Schulter zuckte. – Am Abend betete sie: »O Mutter – Mutter – sage ihm doch einmal im Traum, wie heiß ihn mein Herzchen liebt.«

Es lag Segen auf ihrem glühenden Wunsch. Nicht Von heute auf morgen, aber von Sommer zu Sommer.

Binia wuchs und blühte auf, die Fremden hatten die helle Freude an der feinen klugen Vierzehn-, dann Fünfzehnjährigen. Wie schön war das Leben! Sie hörte es gerne, wenn die Gäste über allerlei plauderten und urteilten. Wie weit und groß mußte die Welt über Hospel hinaus sein. Sie wunderte sich manchmal, wie artig die vornehmen und gescheiten Leute zu ihr waren, besonders junge Mädchen, die nach St. Peter kamen und ihr so lieb wurden, daß ihr das Wasser in die Augen schoß, wenn sie am Ende des Sommers wieder weggingen. Was aber schwatzten die klugen Männer Thörichtes zusammen, »Sie alpige Rose, Sie sonderbares Herzensmädchen mit dem leichten, schwebenden Gang, haben Sie eigentlich Ihre Augen grad in der Hölle und Ihr Lächeln im Himmel geholt?«

Binia fühlte es aber wohl: Wie die Gäste so freundlich zu ihr wurden, wandte sich ihr auch die Liebe des Vaters in neuer Wärme zu und er wurde heimlich stolz auf sie.

Er kniff sie manchmal in die Wange: »Bini, fröhlicher Vogel, hast du mich lieb?«

»O Vater!« – Stirn und Wangen glühten wie Pfirsiche, ein heiliger Strahl des Glücks kam aus ihren dunklen Sternen und ihre schlanken Arme umklammerten ihn, bis er mit herzgewinnendem Lächeln und glänzenden Augen sagte: »Geh, thue deine Arbeit! Bist ein Mädchen wie von den Tauben zusammengetragen.«

Jetzt hätte sie es ihm schon verraten können, daß er über Josi ganz falsch berichtet sei. Eine dunkle Gewalt hielt sie indessen zurück, die Furcht, daß sie, sobald sie den Namen des guten Jungen ausspreche, die Liebe des Vaters wieder verscherze. Er war so furchtbar heftig. Und mit angstvollem Herzen schwieg sie, die Zeit der Verstimmung war zu schmerzlich gewesen.

Sie verwunderte sich, als der Garde einmal mitten in der Fremdenzeit in den Bären gestoffelt kam, ernst und zornig, wie ihr schien.

Eine Weile saß er mit dem Vater zusammen, sie hörte aber nur die Worte: »Wenn Euch das Gewissen schlägt, so macht den bösen Schimpf rasch gut – ich glaube – ich glaube – die Fränzi lebt nicht mehr lang.«

Elend wie noch nie eilte sie fort. Sie beobachtete in den folgenden Tagen den Vater. Er war still und trübselig, und am anderen kam sie gerade dazu, wie die Mutter zu ihm sagte: »Ihr hättet die arme Frau wohl ruhig ihres Weges gehen lassen können, die ganze Gemeinde ist wild über Euch. Wozu ihr wüste Namen nachrufen?« Worauf der Vater nur dumpf erwiderte: »Sie hat mich halt auch einmal schwer beleidigt.«

Wie abscheulich er ist! Binia that das Herz weh, sie weinte im stillen, sie wußte, daß der Vater nur so böse gegen Fränzi war, weil er sich vor ihr schämte.

Ihr Frohsinn litt aber nicht nur unter dem herzlichen Erbarmen mit Fränzi, der lieben guten, unter den Selbstvorwürfen wegen Josi, sondern auch aus Aerger über Thöni, der mit allen Mägden anbändelte und Späße trieb, ihre Verachtung aber mit allerlei Zänkereien erwiderte.

Er bekam als Fremdenführer bald einen Mitbewerber. Bälzi, der Wildheuer mit dem Ziegenbart, der zuerst am meisten über die Fremden geschimpft hatte, fand, daß das Spazieren mit den Sommergästen eine weniger anstrengende und gefährliche Arbeit sei als das Mähen des herrenlosen Grases auf schwindliger Felsenplanke. Wie häufig ereignete es sich, daß ein spielendes Windchen das kaum getrocknete Heu wie eine kleine Wolke aufhob und auf Nimmerwiedersehen über alle Berge trug. Er kaufte sich ein neues Wams, ein Seil und einen Gletscherpickel. Damit stolzierte er vor dem Bären auf und ab, bot sich den Fremden als Führer an, und wenn ihn einer fragte, ob er auch schon auf der Spitze der Krone gestanden habe, sagte er im Brustton des Biedermannes: »Aber Herr, die kenne ich ja so gut wie die Westentasche, in der ich die Zündhölzchen trage.«

Es war aber ein ausdrücklicher Befehl des Presi, daß man die Fremden abhalte, auf die Krone zu steigen. Er war fast unnötig. Die Gäste sahen es dem Salonbergführer Thöni und dem schlotterigen Bälzi wohl an, daß man sich ihnen nicht für so gefahrvolle Bergbesteigungen anvertrauen durfte.

Doch tauchten in der Sommergesellschaft oft Fremde mit dem vermessenen Wunsche auf, die Krone zu erklettern.

Thöni war im Anfang mit dem ungebetenen Partner nicht zufrieden, aber schon im zweiten und namentlich im dritten Sommer zeigte es sich, daß beide Beschäftigung genug fanden, besonders da Thöni auch sonst, das eine Mal durch die Post, die während des Sommers einen lebhaften Verkehr und jetzt einen Telegraphen besaß, das andere Mal durch die Maultiertreiberei und die Lebensmittelzufuhr von Hospel nach St. Peter in Anspruch genommen war. Der Presi billigte die neue Beschäftigung Bälzis stillschweigend, er sagte den anderen: »Seht ihr's, man braucht nur zuzugreifen wie der Kaplan Johannes und Bälzi, dann hat jeder durch den Fremdenverkehr seinen angenehmen Verdienst.«

Die halsstarrigen Bauern und Aelpler waren aber nicht zu überreden, nur murrend, schwer und langsam gewöhnten sie sich daran, solange die Sommergäste da waren, die Amtsgeschäfte, den Vieh- und Käsehandel mit dem Presi im unteren Stübchen zu besorgen.

Bälzi ging es einmal schlecht. Aus Rache, daß er sich in den Dienst der Fremden gestellt, bereiteten ihm die schwärmenden Nachtburschen ein kaltes Bad in der Glotter.

Aber auch manche Vorurteile gegen die Sommerfrischler verschwanden im Laufe der drei Jahre, die sie nun schon ins Thal kamen.

Einzelnen Dörflern begann der Zustand zu behagen, es war im Bergthal entschieden kurzweiliger geworden, und unter den Gästen, die erschienen, gab es Leute, die sich ehrlich bemühten, sich mit ihnen auf einen freundlichen Fuß zu setzen und die eigenartigen Verhältnisse des Thales zu begreifen. Für solche Gäste hatten, soweit sie ihr Mißtrauen gegen die Fremden ablegen konnten, auch manche von St. Peter einiges Verständnis. Sogar der Pfarrer eiferte minder gegen sie, als er sah, daß es unter ihnen kenntnisreiche Bienenfreunde gab, die der Zeidlerei im Hochthal eine warme Wißbegier entgegen brachten, und die Damen bei ihm die Leinensäcklein voll weißen Alpenhonigs, die unter den Fenstern des Pfarrhauses hingen, kauften und mit großem Ruhm über seine Güte wiederkamen. Sommer um Sommer wuchs die Zahl der Gäste.

In der That! Wie viel bot dem das Glotterthal, der nicht nur für die Felsendome und Firnen der Krone, sondern auch für das Volksleben ein offenes Auge und Herz besaß. Da lebte ein Völkchen, das zwar nicht die Hirtenunschuld zeigte, die manche Schwärmer in den abgelegenen Alpenthälern suchen, ein Völklein, bei dem es so stark menschelte wie überall in der Welt, das aber doch einige besondere Eigenschaften hatte. Diese Bauern und Aelpler behalfen sich in allen Dingen selbst. Unter ihnen gab es keine Handwerker. Maurer, Zimmermann, Schindler und Dachdecker, Schneider und Schuster war jeder sich selbst. Den Lein und die Wolle, in die man sich kleidete, zog, bleichte, spann und wob man selbst; das Brot schmeichelte man, wenn es nicht in einem Jahr ging, in zweien den steinichten Aeckerchen ab und ob sich die hellgoldenen Roggenähren kaum recht aus dem Boden reckten, sie gaben ein schmackhaftes dunkelbraunes Brot, und ein Schluck Hospeler darauf war Gottes Wohlthat. Brot und Wein schmeckten auch den Fremden.

Der Presi lachte, arbeitete und es ging ihm gut. Bevor aber die Fremden zum viertenmal kamen, verbreitete sich im Dorfe die Nachricht, daß Fränzi todkrank sei.

Noch einmal sah Binia die mütterliche Freundin, aber sie lag schon mit spindeldürren Händen zu Bett und war blaß wie der Tod. Lieb und gut freilich war sie zu ihr wie immer: »Binia, liebes Kind, ich sterbe mit dem heißen Wunsch, daß du glücklich werdest.«

Wie entsetzlich wütete aber der Vater, als er vernahm, daß Frau Cresenz, die immer eine gewisse Teilnahme für die Witwe des zu Tode gestürzten Wildheuers bewiesen hatte, sie heimlich mit ein paar Flaschen guten Weines zu Fränzi geschickt hatte: »Gottes Donnerwetter! Daß sie mit dem Lotterbuben wieder anbändeln kann!«

Mißtrauisch beobachtete er sie.

Als Fränzi bald darauf starb, verschwamm vor den Augen Binias die Welt, sie dachten »Jetzt nehmen die Engel Gottes die Notenblätter zur Hand und singen zu ihrer Ankunft im Himmel.«

Der Tod der armen Frau versetzte den Vater in gärende Aufregung. Man spürte es: Entsetzlich neu standen die Dinge, die sich vor vier Jahren zugetragen, vor ihm – der Abend mit Seppi Blatter – die Unterredung mit Fränzi – Seppis Sturz an den Weißen Brettern – das kranke Kind mit seinen tollen Worten.

Und in der Nacht nach Fränzis Tod hatte der Presi einen furchtbaren Traum.

Mit wunderbarer Deutlichkeit sah er den jungen Josi Blatter und Binia hoch an den Weißen Brettern. Er fragte seine Tochter: »Wie kommst auch du da hinauf?« Da stand plötzlich ein Dritter vor ihm und hob das Grabscheit Seppi Blatters über den beiden zu wuchtigem Schlag. Statt der richtigen Inschrift aber lautete der Spruch auf dem Täfelchen des Scheites: »Was für die heligen Wasser verbrochen worden ist, wird an den heiligen Wassern gesühnt.« Und unter dem Schlag des Scheites blutete Binia.

Das war der Traum! Er wollte rufen: »Thut Binia nichts! Ich habe Seppi Blatter nicht hinaufgeschickt.« Da erwachte er schweißtriefend in dem Augenblick, als der Postbote, der alle Woche dreimal in der Morgenfrühe mit den Postsachen nach Hospel ritt und sie am Abend von dort zurückbrachte, an die noch geschlossene Hausthür pochte.

Nur ein einfältiges, widerwärtiges Träumlein! Der Presi war nicht abergläubisch, als nun aber Binia in der zwingenden Anmut ihrer sechzehn Jahre, frisch, mit leuchtenden Kinderaugen unter dunklen Wimpern, einen warmen »Guten Tag, Vater!« auf den Lippen, in die Stube schwebte, da riß er sie stürmisch in seine Arme, und als er unter der knospenden Mädchenfülle das rasche Pochen ihres heißen Herzens fühlte, durchrieselte ihn die Angst.

»Binia, lieber, lieber Vogel, versprich es mir, daß du nie, nie mit Josi Blatter zusammenhältst, in deinem ganzen Leben nie!«

Sie brach an seiner Brust in Thränen aus: »O Vater, ich hab' es dir schon lange bekennen wollen, Josi Blatter ist ein ehrbarer Bub. Er hat das, was Ihr meint, gar nicht gesagt. Gewiß Gott im Himmel nicht!«

Er stutzte – er starrte sie an – er riß sie mit der ganzen Gewalt seines Armes von seiner Brust hinweg, daß die leichte Gestalt an die Wand taumelte.

Und entsetzt kreischte er: »Schon so weit bist du, Seppi Blatter, daß mein Kind für deinen Buben lügt?!«


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