Jakob Christoph Heer
An heiligen Wassern
Jakob Christoph Heer

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V.

Die Wasser rauschten und die Merkhämmer schlugen.

Mit herzlicher Teilnahme wurde Seppi Blatter bestattet. Vom Morgen an stand der Sarg neben der Thüre des Häuschens, wo der Verunglückte mit den Seinen friedlich gewohnt hatte. Auf dem Totenbaum lag der Federhut, das Schwert und die Binde des Garden. Ein silberner Becher stand auf dem Sarg. Als die Leidtragenden kamen, hob ihn jeder, trank einen kräftigen Schluck und sprach: »Lebe wohl, Seppi Blatter, möge es dir wohl thun in der Ewigkeit!« Und wenn zwei oder drei aus dem Becher getrunken hatten, so füllte ihn der Weibel wieder mit goldenem Hospeler nach.

O, man durfte sich den Hospeler schon mit andächtigen Sinnen zu Gemüte führen. Die Begierde nach eigenem Wein hatte St. Peter in die Fron der heligen Wasser gebracht. Im Feuer des Trunkes kreiste das Blut der Gestürzten.

Als der Presi erschien und zum Becher griff, schielten alle mit verhaltener Neugier nach ihm. Sie meinten, es müßte sich etwas Besonderes begeben. Aber der stolze, kraftvolle Mann hob den Becher mit Würde und fester Hand und trat mit ruhiger Gelassenheit in ihren Kreis. Der Garde war viel bewegter; die nervige eiserne Hand bebte, als er Seppi Blatter Lebewohl sagte. Ihm war, er müsse sich die grauen Haare zerraufen, weil er ihn nicht von seinem plötzlichen Entschluß zurückgehalten hatte.

Man brachte die Gedenktafel, die Kaplan Johannes im Auftrag der Gemeinde gemalt hatte, und legte sie auch auf den Totenbaum. In frischen Farben leuchtete die Inschrift:

»An den heligen Wassern ist bei Reparatur erfahlen und wohl versehen mit den hl. Sakramenten gleich tot gewesen der ehrsame Seppi Blatter von St. Peter. Gewählt worden zum Garden. Hat aber nicht angetretten. Sein Lebenslauf ist 40 Jahr und 7 Tag. R.I.P.

Mein lieber Freund, ich bitte dich,
Geh nicht vorbei und bett' für mich.«

Jetzt trug man Seppi Blatter zu Grabe. Als sich die Gemeinde vom Kirchhof verlief, gingen nur wenige, die an der Beerdigung teilgenommen hatten, in den Bären. Dem Presi war's recht. Er wollte noch nach Hospel hinausreiten und sattelte eben das Maultier. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, Frau Cresenz recht bald als Hausfrau in den Bären zu führen. Mit der alten Susi war's nicht mehr gethan, ihr Kropf wurde ihr je länger je hinderlicher bei der Arbeit, sie pfiff daraus wie eine ungeschmierte Säge und ob sie fast nicht zu Atem kam, keifte sie gleichwohl an einem Stück.

Er wollte mit Cresenz über den Hochzeitstag reden.

»Susi, wo steckt denn Bini wieder?« rief der Presi.

»Sie hat sich wieder irgendwo versteckt. Verhext ist das Kind – verhext!« jammerte Susi, »und sie war sonst ein so liebes, artiges Vögelchen, das den ganzen Tag gehüpft ist. Wer hat es ihm nur angethan?«

»Ihr seid ein Kalb; Susi, bringt mir Binia nicht mit dem Hexenzeug ins Geschwätz, sonst seid Ihr den letzten Tag im Haus!«

Damit ritt der Presi davon, Susi heulte: »Nichts mehr sagen darf man, nichts! Wie ein Schuhlumpen ist man geachtet. Gewiß bleib' ich nur wegen des Kindes.«

Schon ein paar Tage aber versteht sie Binia nicht mehr. Seit der Wassertröstung sitzt das Mädchen irgendwo in einem Winkel des Hauses, immer da, wo man sie nicht sucht, zerrt mit den Fingern der einen Hand an den Fingern der anderen, beißt in die Fingerspitzen und starrt mit den großen dunklen Augen ins Leere, wie wenn sie etwas sehen würde, was nicht ist, etwas Grauenhaftes, Entsetzliches! Susi hatte sie mit der Wallfahrt zur Lieben Frau an der Brücke geschickt, aber am Mittag kam das Kind in der warmen Sonne schlotternd zurückgelaufen, nicht in die Stube, nein, es rannte die Treppen hinauf bis unter das Dach. Als Susi es suchen ging, da saß es mitten unter altem Gerümpel des Estrichs, einen zerlumpten Rock seiner Mutter selig um das eigene Kleid gelegt. Es wimmerte leise, leise. Nur etwas verstand Susi, was das Kind immer wieder vor sich her stammelte:

»Die Hand wird ihm aus dem Grab wachsen!«

»Sage, Vögelchen, du unglückliches, wem wird die Hand aus dem Grab wachsen. Wer sagt es?«

Da warf die Kleine das Köpfchen mit dem ganzen Jähzorn zurück, den sie vom Presi geerbt hat: »Susi, das ist schlecht von dir, daß du horchst, was ich rede.«

Sie fürchtete sich vor dem Kind; es war, als wolle es wie ein wildes Tier aufspringen und sie zerreißen.

Binia, die nicht schlief, hörte am Abend spät noch auf dem Flur von dem schrecklichen Ausgang des Tages reden. Im Hemd kam sie in die Küche gelaufen, klammerte sich an Susi und schrie: »Verzeih mir, Susi, – bleibe bei mir – ich fürchte mich – ich fürchte mich gräßlich.«

Da wachte die Magd am Bett der Kleinen. Als Vinia die Augen schon einige Zeit geschlossen hatte, schlug sie sie wieder auf und flüsterte: »Wenn mich der Seppi Blatter schon ›Schlechthundekind‹ gerufen hat, so muß ich, wenn ich groß bin, Josi Blatter doch heiraten.«

Die entsetzte Susi schmeichelte: »Schlafe, schlafe, Schäfchen; wenn du groß und ein schönes Mädchen sein wirst, kommen um dich viele Burschen fragen.«

Drauf Vinia: »Ich liebe aber nur Josi! Weil der Vater Franzi nicht genommen hat, muß ich halt den Josi nehmen.«

Seither war Susi überzeugt, das Kind sei besprochen und verhext.

Dem wollte sie schon auf den Grund kommen. Als der Presi fortgeritten und die letzten Gäste gegangen waren, suchte sie das Kind. In seinem Kämmerchen kniete es am Bett.

Sie war wohlwollend zu ihm. Es aber stellte sehr sonderbare Fragen: »Du, Susi, hat mein Vater meine Mutter stark lieb gehabt?« – Wie kam es auf diese Frage? Seit drei Jahren war die selige Beth tot. Als das Kind in sie drang, antwortete Susi: »Natürlich, du Närrchen, hat der Vater die Mutter lieb gehabt.«

Das Kind fuhr mit dem Köpfchen aus dem Kissen, richtete mit unaussprechlicher Verachtung die Augen auf sie: »Du lügst, Susi, er hat sie gar nicht geliebt. Ich frage dich nichts mehr!«

Susi ging im Bewußtsein, daß sie gelogen habe, schamrot aus dem Kämmerlein.

Aber die Neugier trieb sie zu Binia zurück. Sie fuhr das Kind barsch an: »Binia, wer hat dich besprochen – du bist besessen.

»Laß mich,« schreit Binia, »ich bin krank – geh!«

Susi läßt sich nicht abweisen: »Der Kaplan Johannes schlarpt eben mit dem Bettelsack durchs Dorf, der soll dich heilen. Ich rufe ihn!«

»Nein, – nein« – kreischt die Kleine und zittert am ganzen Leib, und wie Susi eine Bewegung gegen die Thüre macht, fällt sie ihr um die Kniee.

»Ums Himmels willen rufe den Kaplan nicht.«

Susi drauf: »Gelt, der ist's, der dich besprochen hat! Jetzt haben wir's schon – dich und Josi. Ist Josi bei dir gewesen?«

»Ja, wir sind auf der Brücke gekniet – das war aber nur Scherz. – – Nein, dir erzähl' ich's nicht, du lügst und bist so dumm.«

Und das Kind hat wieder den Trotzkopf aufgesetzt.

Da bekreuzt sich die abergläubische Magd und geht: »Aber dem Presi darf man nichts sagen – nichts!«

Wie sie fort ist, schluchzt und röchelt Binia. Niemand hat ihr etwas zu leide gethan, sie hat nur gehört, was Fränzi und der Vater geredet, sie hat nur gehört, was Kaplan Johannes zu den anderen Männern sagte: »Die Hand wird ihm aus dem Grabe wachsen.« Alles das ist aber so schrecklich für ihr kleines, feuriges Herz. Sie hat gemeint, einen so trefflichen Mann wie ihren Vater gebe es nicht mehr. Ob er sie schon manchmal anschnauzte, war sie stolz gewesen auf ihn, sie hatte ihn so unendlich lieb und wenn er nur einmal ein wenig freundlich mit ihr redete, – o, dann hätte sie am liebsten die kleinen Arme um seinen Hals geschlungen und ihn vor Freude und Seligkeit in die Wange gebissen. Und jetzt weiß sie so Entsetzliches von ihm. Er hat die tote Mutter nicht geliebt, er hat Fränzi einen Kuß geben wollen, der Schämdichnicht.

Dann das Gräßliche, wie die Unterschrift Seppi Blatters entstanden ist, die Unterschrift, wegen der dem Vater die Hand aus dem Grab wachsen soll!

Das ist zu viel für ihr Köpfchen, es hämmert darin, als sollte es zerspringen. Ja, ja, die Fränzi hat recht, es ist ein Unsegen auf sie gekommen. Darüber möchte sie mit jemand reden, aber nicht mit Susi, die lügt, weil sie ihr alles ausreden will. An eine liebe Brust möchte sie sich lehnen und weinen. Sie denkt an Fränzi, die mit ihrer Mutter gut befreundet gewesen ist, Fränzi hat auch sie lieb, Fränzi lügt nicht. Ja, mit Fränzi will sie reden.

Aber sie darf nicht zu Fränzi gehen! Warum nicht? Sie weiß es im Wirrwarr ihrer Gedanken nicht, es ist ihr aber, wie wenn Blut und Feuer zwischen ihr und Fränzi, zwischen ihr, Vroni und Josi lägen.

Und aus dem Gefühl tiefer Hilflosigkeit schreit sie: »Mutter – Mutter – liebe tote Mutter!« – –

Mit einigem Herzklopfen ritt der Presi auf seinem Wege nach Hospel über die Unglücksstätte, sein kluger Verstand sagte ihm wohl, die Kaufbriefgeschichte sei damit, daß an den Weißen Brettern der Hammer wieder töne, noch nicht erledigt. War er mit Blindheit geschlagen gewesen, daß er die tolle Angelegenheit nicht sofort am anderen Morgen geordnet hatte?

Nun zuckte und wühlte sie im Dorf, er hatte es aus den verlegenen Mienen der Männer gelesen, die an der Beerdigung Seppi Blatters teilnahmen.

Er schwitzte – er sehnte sich nach Hospel, die Welt schien ihm dort freier – hier legte sich etwas wie Zentnerlast auf die Brust – es war zum Ersticken. Gut, daß er jetzt die Weißen Bretter, den Teufelsgarten mit den zertretenen Blumen, das Schmelzwerk und die Kapelle hinter sich hatte.

Der hundertstimmige Schrei beim Sturz Seppi Blatters gellte ihm noch in den Ohren.

»Ta-ta-ta. Ich bin der Presi!« denkt er.

Er kommt in das Kreuz nach Hospel, aber Frau Cresenz zeigt sich gar nicht und der stolze Kreuzwirt, der behäbigste Gastwirt am Weg von der Stadt bis zum Hochpaß, sein zukünftiger Schwager, empfängt ihn frostig.

»Was hast, Kreuzwirt, warum magst mir nicht recht die Ehre geben?«

»Von dir läuft ja die Schande auf allen Straßen. Und Seppi Blatter ist so ein braver Mann gewesen. Ist's wahr, daß du ihm, wie er betrunken gewesen ist und geschlafen hat, die Feder geführt hast?«

Da schlägt der Presi die Faust auf den Tisch, springt auf: »Vor Gericht müssen mir die räudigen Hunde – Wer hat's gesagt?«

»Von rechtschaffenen Leuten ist's hier im Kreuz verhandelt worden, aber, daß ich dir die Namen nenne, giebt's nicht.«

»Es ist eine elende Verleumdung. Horch, Joch, wie's zugegangen ist. Man hat einen Mann haben müssen, mit dem Losen ist's gar eine mißliche Sache.« Der Presi erzählte und schloß mit der Frage: »Was sprichst jetzt?«

»Ich sage, daß die Geschichte nicht sauber ist! Geplagt hast du Seppi, das giebst ja selber zu. Wo hast du dir das Herz hergenommen, ihn grad an dem Tag, wo du dich mit der Cresenz verlobt hast, mit dem Kaufbrief zu kreuzigen? Das gefällt uns nicht. Wenn du Seppi Blatter die hundertachtzig Franken aus Anlaß deiner Verlobung geschenkt hättest, so hätte es mich und die Cresenz gefreut. Man hätte dann aus dir etwas Glück gespürt. Jetzt aber kränkt sich Cresenz.«

Der Presi wurde ganz klein – das traf. Er wußte wohl, daß er sonst der Gescheitere war als der vornehme hohle Kreuzwirt. Aber jetzt hatte der recht! Und er murrte verlegen und stoßweise.

Der Kreuzwirt fuhr fort: »Warum fragst du nicht, wo sie bleibt? Weil du dich schämst, weil du weißt: es ist ein Schandfleck auf deiner Ehre!«

»Ein Schandfleck auf meiner Ehre!« wiederholte der Presi. Sein Gesicht war blutleer und seine Hand langte mechanisch nach dem Zündhölzchenstein.

»Laß den Stein liegen,« sagte der Kreuzwirt ruhig, »es ist jetzt genug an Gewaltthätigkeit. Cresenz aber will sich besinnen, ob sie Bärenwirtin von St. Peter werden will. Sie schreibt dir darüber in den nächsten Tagen.« Als der Presi heimritt, kam er sich vor wie ein vom Hagelwetter erschlagener Baum. Die Wut über die Verleumdung tötete ihn fast. »Die schlechten Hunde – die elenden Tröpfe – – Ist die Wahrheit nicht genug?« stammelte er vor sich hin.

Er sah die blauen, großen, vorwurfsvollen Augen Fränzis, die schönen und guten Augen. O, wie er sie jetzt haßte!

Schweißgebadet ritt er durch die Dämmerung. Jetzt sah er Seppi Blatter, aber nicht den geringen Wildheuer, der gequält am Wirtstisch saß. Nein, den Wasserstreiter, der freiwillig an die Bretter gestiegen war. Der schaute ihn herausfordernd an, immer als hätte er die Frage auf den Lippen: »Presi, wollen mir zusammen einen Hosenlupf machen?«

»Ich Hab's nicht durchgezwungen – das weißt – bist ja selber gegangen,« schnauzte der Presi.

Und als ob er mit einem anderen im Zwiegespräch wäre, sagte er nach einer Weile: »Ja, das gebe ich zu – ich habe dich geplagt – es ist dumm gegangen an jenem Abend.«

Bei der Kapelle stieg er nicht ab, um ein Gebet zu verrichten, wie es die fromme Sitte heischt; er sah die frische Tafel Seppis, die während seines Aufenthaltes zu Hospel in das kleine Gotteshaus gestellt worden war, ihre Goldfarbe glänzte frisch – frech, dachte der Presi und im Vorbeireiten rief er: »Daß du mich nicht gar zu stark klemmst, Seppi Blatter, sonst –! Weißt, ein wenig leid' ich's schon, hab's auch verdient – aber wenn du mich zu stark schuhriegelst – du weißt, Fränzi, Vroni und Jost sind noch nicht in der Ewigkeit.«

»Halt 's Maul, räudiger Pfaff!« schrie er, als er am Schmelzwerk vorüberjagte und den Kaplan Johannes singen hörte. Unaufhaltsam vorwärts, den Stutz hinauf drängte er das arme Tier mit seinen Flüchen und kam früher, als ihn jemand erwartet hatte, nach Haus.

Im Bären saß tiefbekümmert der Garde. Er wartete nicht lang mit seinem Bericht. Das Amt war auf ihn zurückgefallen – für einstweilen, hatte man im Gemeinderat gesagt – das bedeutete aber in St. Peter für Lebzeiten.

»Presi, ich hab's zum Guten leiten wollen, aber die Sache steht bös. Die Geschichte der Unterschrift Seppis geht vertrüdelt und verdreht durchs Dorf. Es sind darum auch keine Leute im Bären.«

»Die Gemeinde wird nicht die ganze Zeit saufen müssen, ich verlange es gar nicht,« höhnte der Presi, »wenn sie wildeln und wüst thun wollen über mich, so ist es mir schon lieber, sie erledigen es draußen, als mir unter der Nase. Das könnte unlustig werden.«

»Möchtet Ihr in diesen Tagen nicht einmal die Franzi aufsuchen und mit ihr im guten reden?«

»Damit die Leute mit den Fingern auf mich weisen und sagen: »Den hat das Gewissen gedrückt!««

»Wir haben jetzt gewiß allen Anlaß, gegen den Haushalt rücksichtsvoll zu sein.«

»Aber ich nicht – ich nicht! Lieber werde ich ein brünniger Mann.«Brünniger Mann, in der Volksvorstellung ein Mann, der nach seinem Tod des Nachts brennend umherwandelt. Der Presi wischte sich den Schweiß, der immer noch auf seiner Stirn perlte, er war so müde wie lange nicht mehr: »Ueber diese Geschichte wird schon Gras wachsen!«

»Lange keines,« knurrte der Garde, stand auf und ging. –

»Endlich Ruhe.« – Auf der Straße verlor sich der schwere Schritt des Garden und der Presi stützte den Kopf in beide Hände und ließ nachdenklich die Lider auf die Augen fallen.

Aber er brachte das Bild nicht weg. »O, es ist entsetzlich, einen Mann einen ganzen Tag kämpfen zu sehen – das geht nicht fort. – Du bist ein schlechter Hund, Seppi Blatter, daß du mir das angethan hast und, wie du schon fertig warst, noch herunterflogst.«

Der Presi ging in seine Kammer. – –

Ueber den Unglücksfall an den heligen Wassern und die ihn begleitenden Umstände wuchs lange kein Gras. Durch alle Gespräche zitterte der Nachhall, weniger die Klage um Seppi Blatter selbst, als die Neugier, wie er veranlaßt worden sei, an die Weißen Bretter zu steigen. Allein nachdem es einige Wochen bös über den Presi gegangen war, so daß er es für gut fand, mit den Leuten so herzbeweglich artig zu reden, wie nur er es verstand, schlug die Stimmung um. Die Geschichte sei vielleicht doch nicht so schlimm. Bälzi habe sie im Anfang nur aus Wut so ehrenrührig für den Presi erzählt, und er sei ja ein ganz unzuverlässiger Mensch, der Presi aber sei, wenn er die Laune habe, ganz gutherzig und habe schon manchem, der sich nicht mehr zu raten und sich zu retten wußte, aus der Klemme geholfen. »Und,« gaben die Leute zu, »er ist halt doch der Gescheiteste unter uns allen.«

Am meisten Beruhigung fanden die von Sankt Peter in der Sommerarbeit, die sie schwer ins Joch schlug und sie auf Aecker, Alpen und in die Weinberge zerstreute.

Der Stimmungsumschlag erstreckte sich bis nach Hospel. Von Frau Cresenz kam eines Tages ein Briefchen und am folgenden Tag ritt sie, vom Kreuzwirt begleitet, den Silberschild der Hospelertracht vor der Brust, das kokette Filzhütchen auf dem Haupt, vor den Bären.

Der Presi empfing den Kreuzwirt und seine Schwester nicht zu freundlich, denn die Beleidigung vom letzten Besuch saß ihm noch wie ein Dorn im Fleisch, aber mit einem Scherzwort zog Frau Cresenz den Stachel heraus, und gegen liebenswürdige Frauen war der sonst unbeugsame Mann nachgiebig.

Und Frau Cresenz war hübsch. Aus ihrem vom Ritt leichtgeröteten Gesicht schauten muntere graue Augen, sie hatte kluge und angenehme Züge, eine kühle Sprechweise und war in ihren Bewegungen, obgleich ihr Körper fast zu stattlich war, von unleugbarer Anmut.

»Die steht dem Bären wohl an,« schmunzelte der Presi in sich hinein und zeigte den beiden das Haus.

»Ja, da muß vieles anders und ordentlicher werden, da gehört wirklich wieder eine Hausmutter hin.« Und die hübsche Frau Cresenz lächelt dem Presi gutmütig verständnisvoll zu.

Etwas beschämt sagt er: »Wir haben bis jetzt halt nur ein Bauernwirtshaus geführt. Das muß natürlich für die Fremden alles anders eingerichtet sein!«

Als die drei die Treppe aufwärts in den zweiten Stock stiegen, trat die alte Susi, die Röstpfanne, aus der der Kaffeeduft aufstieg, in den runzeligen Händen, neugierig unter die Küchenthüre und sah ihnen nach. Da machte Frau Cresenz am Geländer der Treppe einen Fingerstrich und zeigte den Staub hinter dem Rücken des Presi dem Kreuzwirt.

Nun war die Alte teufelswild und faustete hinter der kleinen Gesellschaft her: »Nein, bei der bleibe ich nicht.«

Der Presi hatte mit seinen Gästen den Estrich erreicht. Plötzlich ertönte schallendes Gelächter der Frau Cresenz. Aus einem von allerlei Gerümpel gebildeten Winkel starren sie zwei große Kinderaugen an, ein ängstliches Gesicht schaut aus einem alten zerrissenen Tuch, das malerisch über den Kopf geworfen ist.

»Ist das Binia? Ach, das Kind habe ich ganz vergessen. – Komm, du artiger Fratz.« – Die Kleine sieht die Augen des Vaters aufmunternd auf sich gerichtet und kriecht hervor. Da reißt ihr Frau Cresenz lachend das Tuch ab: »So, jetzt siehst du menschenähnlich aus, nun gieb mir die Hand.«

Sie sagt es mit kühler Freundlichkeit, aber der erschrockene scheue Wildling rennt an ihr vorbei und wirbelt die Treppe hinunter. Die alte Susi ruft ihr zu: »Hast die neue Mutter gesehen, die hochmütige?«

»Die neue Mutter!« Nun muß sie auch darüber denken. Und das kleine Köpfchen brennt doch schon von allem anderen, worüber ihm niemand Auskunft giebt. Der Vater hat mit der Frau so lieb geredet. Nie, nie hat er so mit der seligen Mutter gesprochen und auch nicht mit ihr. Doch, aber es ist schon so lange her. Sie schleicht sich auf den Zehenspitzen in ihr Kämmerchen empor. Denken – denken will sie.

Gegen Abend hört sie die Fremden fortreiten, das fröhliche Lebewohl, das der Vater Frau Cresenz zugerufen hat, tönt ihr in die Ohren. Ihr aber thut der Kopf so weh, ihre Zähne klappern, sie kriecht ins Bett.

Da hört sie die Tritte des Vaters. Gewiß kommt er sie zu züchtigen.

Sie mochte seine Absicht erraten haben, aber in den Zorn mengte sich die Vatersorge. Binia war zwar immer ein eigenartiges Kind gewesen, oft nachdenklich, oft ausgelassen lustig, aber seit einiger Zeit war sie so blaß und scheu und allen ein Rätsel.

Wäre er abergläubisch gewesen, er hätte geglaubt, die Drohung der Fränzi sei schon in Erfüllung gegangen, Unsegen sei auf dem Kinde.

Wie er sie nun am hellen Tag mit gläsernen Augen im Bette liegen sah, entwaffnete die Sorge den letzten Zorn.

Er setzte sich ans Lager, nahm die fiebernde Hand der Kleinen ganz vorsichtig in seine Pratze und als sie, sich von ihm abwendend, leis wimmerte, legte er ihr die andere Hand auf das seidenweiche dunkle Haar. Das Kind zuckte zusammen.

»Was machst du für Streiche, liebe Maus? Du hast eine heiße Stirn, bist ja ganz krank. – Binia – Gemslein – liebes Gemslein, schau mich einmal an.«

Sorge und Bangigkeit sprachen aus seinem Ton.

Als das Kind die sanften und lieben Worte des rauhen Vaters hörte, die es wie ein Klang aus fernem schönem Traum umwarben, überließ es ihm das heiße Händchen, das es ihm hatte entziehen wollen, und halb freudig, halb ängstlich blinzelte es mit den großen Augen nach ihm.

»Hast du mich nicht mehr lieb, Bini?«

»O doch – doch – Vater,« klang das seine Stimmchen, »aber – –« Sie schauerte.

»Rede nur. Maus!«

»Ich habe dich so viel zu fragen. Thust du mir nichts, wenn ich etwas frage?« Der zarte Körper zitterte.

»Nein, frage nur – bist ja meine Maus!«

»Warum bist du auch so lieb und gut jetzt, Vater?« Das tönte so fein und scheu und ein bleiches Lächeln flog über die Lippen des Kindes.

»Ich habe dich ja immer lieb gehabt, Gemslein. Weißt nicht mehr, wie ich dich auf dem Arm getragen habe? Und weißt noch, wie ich dir manchen Kram von Hospel mitgebracht habe?«

An diesen Gedanken spann das Kind weiter.

»Ja, die Mutter und ich haben jedesmal auf dich gewartet, bis du am Abend heimkamst. Und dann hast du mich noch ein wenig auf die Knie« genommen und ich habe darauf reiten dürfen. Die Mutter hat mich dann zu Bett gebracht und hat meine Hand genommen wie du jetzt und wir haben gebetet: »Lieber Gott, lieber Herr Jesus Christus! Erhalte den lieben Vater gesund.« Und dann hat sie die Kissen an mein Köpfchen gedrückt: »Schlaf, schlaf, du liebes Engelchen« Und manchmal ist eine Thräne auf meine Wange gefallen, aber am Morgen, wenn ich sie gesucht habe, war sie fort.«

Rührend, als ob das fiebernde Kind gegen das Weinen kämpfte, klang das Stimmchen, der Presi hatte den Kopf gesenkt, und als er nichts antwortete, fuhr das Kind fort:

»Seit die Mutter tot ist, besucht sie mich jede Nacht. O, sie ist so schön, sie ist ganz weiß und hat Flügel an den Schultern. Und wenn sie sieht, daß ich ihr altes Sonntagsbrusttuch bei mir im Bett habe, so lächelt sie wunderschön. Nur das Tuch muß ich haben, dann kommt sie. – Aber, Vater, warum hat die Mutter auch so viel geweint, als sie lebte?«

Der Presi war unruhig geworden, die Zärtlichkeit des Fiebergeplauders regte ihn auf.

Das Mündchen aber lief und lief: »Wie ist es schön gewesen, als ich noch klein war. Josi und Vroni sind immer gekommen, er hat mich dann auf dem Rücken getragen, und dafür hast du ihnen Kirschen vom Baum gerissen.«

»Was hast vorhin fragen wollen, Bini?« unterbrach der Vater barsch das plaudernde Kind.

»Thust du mir nichts?«

»Dumme Maus, du!« Sein Ton war wieder freundlich.

Die Augen des Kindes öffneten sich – es richtete sich im Bettchen halb auf und zitternd, traumhaft kam's:

»Du, Vater, wenn ich groß bin, darf ich dann die Frau Josi Blatters werden?«

Da verzerrte sich das Gesicht des Presi. – Der Zug hoffnungsvollen Zutrauens auf dem fiebergeröteten Kindergesicht erlosch, es stopfte den Mund mit dem gekrümmten Finger, die Augen wurden schreckhaft groß, und seine Gedanken taumelten nach einem Rettungsanker – es schlang das Aermchen um den Vater, es schrie:

»Ich hab' nicht das sagen wollen, Vater – nein – ich habe fragen wollen: Ist es wahr, daß dir die Hand aus dem Grab wachsen wird?«

Da verglasen sich auch die Blicke des Presi, er ächzt – und ächzt. Plötzlich brüllt er: »Wer sagt das? – Sagt es Fränzi?«

Vor Furcht weiß das Kind nicht mehr, was es sprechen soll, was es spricht.

»Fränzi – Vroni – nein – Josi – oder nein –« Es will weiter reden.

Aber der Presi schlägt ein so schauerliches Lachen an, wie wenn etwas in ihm risse. Das Kind schweigt.

»Und den willst du heiraten! – Da also packst du mich, toter Seppi Blatter. Deinem Buben will ich's eintränken.«

Er faustet sinnlos gegen die Wände: »Jetzt wollen wir sehen, ob ein lebendiger Presi nicht über einen toten Wildheuer Meister wird.« Er will sein krankes Kind schlagen, aber es hat sich tief unter die Decke verkrochen und hält sie mit krampfhaften Händen fest.

Unter der Thür steht Susi, die irgend etwas berichten will; und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

Der Presi schwankt aus der Kammer.

Ein Riß war von dieser Stunde zwischen Vater und Kind. Binia lag einige Tage krank, der Presi kümmerte sich nicht um sie; als sie mit blassen Wänglein wieder in der Stube erschien, übersah er sie und vermied lange Wochen sie anzureden, als er es endlich wieder that, da war es nur in Gegenwart Dritter und seine Worte beschränkten sich auf kurze Befehle und gleichgültige Dinge.

Daran änderte auch die Hochzeit mit Frau Cresenz, die im Herbst stattfand, wenig.


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