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17.
Der Überfall der Tanguten

Bei Tagesanbruch stand Schagdur Lama vor dem Zelte des Toten und stieß in das Schneckenhorn. Die Mönche versammelten sich um den alten Prior, der, steinhart gefroren, auf übereinandergeschlagenen Beinen dasaß, die Hände auf den Knien, den hocherhobenen Kopf mit einer bunten achtzackigen Krone geschmückt.

Eine lähmende Kälte herrschte. Die ganze Natur lag stumm in Erstarrung. Kein Lüftchen regte sich. Die pyramidenförmigen Spitzen des dreigipfligen Berges hoben sich schneeweiß von dem Hintergrund der nach Westen fliehenden Nacht ab. Leichte Rauchwolken schienen sie zu umschweben; aber niemand konnte sagen, ob es Wolken waren oder treibender Schnee.

Die Stille wirkte feierlich und beklemmend. Alle Pferde, Jake und Kamele der Karawane waren auf einen nahen, nach Süden abfallenden Hang getrieben, wo sie von bewaffneten Männern und Hunden bewacht wurden. Die Pilger waren, von den Tönen des Schneckenhorns geweckt, zum Zelte des Toten geeilt und verharrten dort in andächtigem Schweigen.

Auf den drei pyramidenförmigen Gipfeln erglomm purpurne Glut, und der neue Tag hielt seinen Einzug. Langsam drangen die Lichtstreifen die Seiten des Berges hinab über verschneite Firnbecken und Felsenkämme. Sie glitzerten wie riesige Saphire auf den schroffen, senkrechten, blauschimmernden Gletscherwänden. Am Fuß einer aus Moränenschutt und verwitternden Blöcken aufragenden schwarzen Felsspitze befand sich der Thron des Priors. Dort sollte sein toter Leib der unerbittlichen Vernichtung verfallen.

Die Sonne stieg im Osten über die Berge und sandte ihre Strahlen auf das ganze öde Land herab. Nur die Täler und die nach Westen abfallenden Hänge lagen noch in tiefem Schatten. Einen so strahlend klaren Tag wie diesen, einen so fleckenlosen Himmel hatten die Pilger seit ihrer Ankunft im tibetischen Hochland noch nicht erlebt. Offenbar empfingen die mächtigen Geister des gewaltigen Schneegebirges den nahenden Gast mit Milde und Wohlwollen.

Die Sonnenstrahlen hatten kaum das Sterbezelt erreicht, als das Trauergefolge schon aufbrach. Es bestand nur aus den vier Mönchen der Tsacharen und aus Schagdur Lama, Tundup Lama und Tsangpo Lama. Die Filzdecken am Eingang wurden beiseitegeschoben und eine einfache, aus Zeltstangen gezimmerte Bahre herausgetragen. Darauf saß der alte Prior von Jehol mit abgezehrten, eingefallenen Gesichtszügen und halbgeschlossenen Augen, in seinem kirschroten Priestergewand, die Krone auf dem Haupt.

Tsangpo Lama mußte an den edeln Glaubensfürsten denken, den er aus dem Gelben Tempel hatte heraustragen sehen, als er seine letzte Fahrt über dasselbe Gebirge nach den Klosterhöfen von Taschi-lunpo antrat. Ein deutliches Gefühl sagte ihm, daß die Grabkapelle des Priors, die ihre schneebedeckten Granitpagoden in majestätischer Höhe und Einsamkeit erhob, eine würdigere Ruhestätte war als irgendein von Menschenhänden errichteter Tempel. Wohl hatte er gehört, daß das Dach über dem Grabe des Taschi-Lama mit Goldplatten gedeckt sei. Aber diese glasklaren, durchsichtigen Eismassen, diese weißen Schneefelder, die wie Baldachine über die irdischen Überreste des Priors ausgespannt waren! Und diese feierlichen Totengesänge, die der Sturm bald vor seiner Ruhestätte anstimmen wird! Heute wird der alte Mönch seinen Einzug in einer Stadt halten, deren Grundmauern bis ans Ende der Zeiten unerschütterlich feststehen werden.

Vier von den sieben Lamas hoben die Bahre und begannen ihre Wanderung nach dem Teil des Berges, der zur Grabstätte ausersehen war. Die drei andern schritten gesenkten Hauptes hinterdrein. Bei der schneidenden Kälte waren alle in Schafpelze gehüllt. Jeder trug für den Rückweg einen Beutel Tsamba am Gürtel. Es konnte nicht weit sein. Gleich nach Mittag wurden sie zurückerwartet.

Aber die Lamas waren Mongolen. Von Kindesbeinen an waren sie gewohnt, in den Steppen des Graslands Entfernungen abzuschätzen. In den wilden Bergen mit ihrem gigantischen Bau lagen die Verhältnisse anders. An stillen wolken- und schneelosen Tagen war die Luft unendlich rein und klar, und auch wenn man mehrere Tagemärsche von einem Berg entfernt war, konnte man die fernsten Einzelheiten an ihm erkennen. Die schwindelnde Höhe wirkte auch auf die Atmung. Der Luftverdünnung ungewohnt, bekamen sie bald Atemnot und mußten immer häufiger rasten.

Einen klarem Begriff von der Länge des Wegs erhielten sie erst, als sie einen runden Bergrücken erklommen hatten und sahen, daß ein breites, von einem vereisten Fluß durchzogenes Tal sie noch von dem Fuß des dreigipfligen Berges trennte. Der Wasserlauf war einer der Quellflüsse des Jangtsekiang. Solange sie ins Tal hinabstiegen, fühlten sie es wie eine Erleichterung. Über das Eis gingen sie vorsichtig, um nicht auszugleiten. Jenseits ging es zwischen Geröll und Steinblöcken schroff bergan, und nun wurden ihre Kräfte auf eine harte Probe gestellt.

Der Tote war so hart gefroren, daß er aussah wie aus Holz geschnitzt. Aber er schwankte und kippte auf der Bahre und einmal fiel er kopfüber ins Geröll. Da nahmen zwei Brüder ihre Leibgürtel ab und schlangen sie um die Knie des Priors und die Bahre. Nun saß er still, und sie brauchten nicht mehr so vorsichtig Gleichgewicht zu halten wie bisher.

Noch hatten sie ein gutes Stück Wegs bis zum ersten Schnee. Mit schweren, kurzen Schritten stiegen sie langsam bergauf, der Reihe nach im Tragen abwechselnd. Da die Pelze sie hinderten, zogen sie sie aus und ließen sie im Geröll liegen. Immer länger wurden die Rasten. Die Zeit verging. Die Sonne hatte bereits ihre Mittagshöhe überschritten. Müde stellten sie die Bahre auf den Abhang und holten die Beutel mit Tsamba hervor. Sie sprachen kein Wort. Alle hatten sie dasselbe Ziel. Alle richteten ihre Gedanken und Blicke auf die schwarzen Felsspitzen an der Nordseite des mittleren Gletschers. Diese Stelle hatte der Prior noch am letzten Abend als seine Ruhestätte bezeichnet. Wurde sein letzter Wunsch nicht erfüllt, so schickten die Berggeister erstickenden Schneesturm auf die Ungehorsamen herab. Und welche Geister mußten nicht in diesem Berge hausen! Je müder die Mönche wurden, um so größer wurde ihre Ehrfurcht vor diesen Wesen, deren Gewalt und Macht unfaßbar sein mußte. Vor Abend konnten sie nicht zum Thron des Priors hinaufgelangen. Dann kam die Nacht und die Geisterstunde.

Wieder waren die Tsacharenlamas an der Reihe. Die drei andern gingen voraus. Als die Träger mit der Bahre weit zurückblieben, machte Tsangpo mit seinen Kameraden aus Jehol halt und wartete. Schagdur Lama warf sehnsüchtige Blicke auf das Lager zurück. Die Zelte waren nicht zu erkennen.

»Glaubst du, daß wir uns zurückfinden werden?« fragte er Tsangpo.

»Ja«, antwortete dieser. »Wir haben bloß den vereisten Fluß zu überschreiten und dann den flachen Höhenrücken.«

»Aber die Nacht wird uns bald überraschen.«

»Wir haben heute abend Vollmond. Die Nacht wird keinen Augenblick finster sein – wenn nicht etwa Schneesturm kommt.«

»Das Wetter sieht unsicher aus. Der Himmel ist im Westen rot.«

»Du kannst sicher sein,« sagte Tsangpo, »daß die andern nicht vor unserer Rückkehr aufbrechen. Wie ich meinen Verwandten, den Tsacharenhäuptling, kenne, schickt er uns jetzt schon Pferde, Proviant und Brennstoff entgegen. Die Tadschinurmongolen, die sich im Gebirge auskennen und die wir hätten um Rat fragen sollen, werden ihn darüber aufklären, daß die Entfernung größer ist, als wir geglaubt haben, und daß wir erst zurück sein können, wenn die Nacht vorüber ist.«

Sie rasteten auf ein paar flachen Steinblöcken. Keine Spur von Leben war zu entdecken, kein Moos, keine Flechte. Nur Stein, Geröll, Felsen, Moränen, Schnee und Eis.

In einiger Entfernung unter ihnen mühten sich ihre Kameraden mit dem Toten, der bei jedem Schritt auf der Bahre nickte und kippte. Die roten Mönchsgewänder hoben sich scharf von dem grauen Gestein ab. Um die Steigung zu erleichtern und sie überwinden zu können, gingen sie im Zickzack. Hier und da mußten sie um gewaltige Blöcke und hochragende Felsspitzen herum Umwege machen. Zuweilen glitten sie in dem Geröll ein paar Schritte zurück. Es war gut, daß der Prior an der Bahre festgebunden war; sonst hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre bis zum Eise hinabgerollt. Und dann hätten die Lamas in das Tal hinabgehen und ihn wieder heraufholen müssen.

Tsangpo und seine beiden Freunde aus Jehol ergaben sich in Geduld. Aber die Tsacharenlamas, die mit dem Prior erst bei Wangjefu in Ala-schan bekannt geworden waren, wurden verzagt und ärgerlich, und ihre Selbstbeherrschung nahm in dem Maße ab, wie ihre Müdigkeit sich steigerte. Als sie wieder an einer Wegbiegung haltmachten, um auszuruhen, stellten sie die Bahre rücksichtslos hin und hielten es nicht für nötig, die Leiche vor Stößen zu bewahren. Sich selber warfen sie platt zu Boden. Der Medizinlama, der Tsangpo nach seinem Abenteuer in der Wüste gepflegt hatte, erkühnte sich auszurufen:

»Es ist noch weit bis zu der Felswand dort oben. Ich kann nicht mehr.«

»Er ist schwer«, antwortete ein anderer.

»Je höher wir steigen, um so schwerer wird er. Bis wir am Ziel sind, ist er wie Blei.«

»Was kann das nützen, seine Ruhestätte so hoch oben zu wählen? Die Wallfahrt ist beschwerlich genug, auch ohne unnötige Bergbesteigungen.«

»Sei froh, daß er nicht den Gipfel von einem der drei Schneeberge zum Ruheplatz bestimmt hat. Die Absicht war wohl, so hoch hinaufzusteigen, daß er vor Raubtieren sicher ist.«

»Hast du den hellgrauen Wolf unten am Eisrand gesehen?«

»Ja, aber er lief ins Tal hinunter, vom Berge weg.«

»Er kann wiederkommen. Übrigens kann der Prior noch so hoch sitzen, die Adler kommen doch an ihn heran.«

»Das ist Geschwätz! Solange er lebte, war ihm ganz gleichgültig, welches Schicksal einmal seinen vergänglichen Körper treffen könnte. Es ist ihm gleich, ob er von Wölfen aufgefressen oder von Adlern und Geiern zerfleischt wird.«

»Sprich nicht häßlich vom Prior«, wandte der älteste der vier, ein Graukopf, ein. »Der Tote war ein Kanpo-Lama. Wäre er in seinem Tempel gestorben, so wäre sein Leib eingeäschert worden und seine Asche in einem Tschorten beigesetzt. Sein erlöster Geist sieht und hört uns. Hütet euch vor eitler Rede! Die Berggeister sind ihm gewogen. Eure Ungeduld kann uns allen ihre Rache zuziehen.«

Sie standen auf und setzten ihren Weg fort.

Aber nun weigerte sich der Medizinlama zu tragen. Er blieb liegen. Die Last wurde daher für die drei andern noch schwerer. Es dämmerte. Die Schatten des Berges wurden länger und stiegen schließlich im Osten die nach Westen gerichteten Abhänge hinauf. Die Sonne ging unter. Die Kälte nahm zu. Zuweilen ertönte in den höheren Regionen ein Knall, wenn sich eine neue Spalte in einem Gletscher bildete, oder das Gepolter eines Erdsturzes, wenn sich unter den Füßen der Wanderer Steine lockerten und im Hinabrollen andere Steine mitrissen. Heftige Stoßwinde heulten an den Felsvorsprüngen. Rotgelb ging der Vollmond auf, wurde aber weißer und weißer, je höher er sich über den Horizont erhob. Die Dämmerung war kurz gewesen. Die Beleuchtung änderte sich. Schwärzer als bisher fielen die Schatten. Nur das Tal in der Tiefe lag in so dichtem Dunkel, daß der vereiste Fluß kaum zu erkennen war.

Dsangpo, Schagdur und Tundup ergriffen die Bahre. Sie strengten ihre Muskeln an, um endlich ans Ziel zu kommen und ins Lager zurückkehren zu können. Nachdem sie den höchsten Teil des Schutthangs erreicht hatten, konnten sie den Felskamm des Höhenrückens benutzen, der sich längs der Nordseite des Gletschers erstreckte. Im Mondschein leuchtete der Schnee weißer als sonst, wüstenhaft einförmig und mörderisch kalt. An der senkrechten Eiskante aber blinkte der Widerschein der Mondstrahlen.

Noch war es weit bis zum Eis. Sie blieben stehen und verschnauften. Ihre Herzen klopften. Sie nahmen die Bahre wieder auf und kamen wieder ein Stück vorwärts. Steine lösten sich und rasselten mit allmählich verklingendem Lärm ins Tal hinab. Sonst unterbrach nichts die Stille. Der Kamm, auf dem sie gingen, schien bis an den Gletscher heranzuführen. Die Steigung wurde weniger steil. Sie blieben von neuem stehen, um die andern an die Reihe kommen zu lassen und sich zurechtzufinden. Hier oben herrschte heftiger, aber ungleicher Wind. Einige Windstöße brachten ganze Wolken feinen Schneegestöbers mit. Schagdur Lama glaubte im Osten Feuer zu sehen.

»Das ist das Lager«, sagte Tsangpo. »Nun haben wir nicht mehr weit. Wir können vor Tagesanbruch zurück sein.«

Endlich waren sie am Fuß der schwarzen Felswand angelangt, die neben dem Gletscher aus dem Geröll emporstieg. Hier setzten sie die Bahre zum letztenmal nieder. Unter der Einwirkung des Frostes waren Blöcke verschiedener Größe von der Granitwand abgesprengt und neben ihr niedergefallen. Tsangpo Lama suchte unter ihnen einen mit glatter Oberfläche aus, der für den Prior einen geeigneten Thron abgeben konnte; auf beiden Seiten war der Platz von vorspringenden Schuttkegeln geschützt. Hierher trugen sie den Toten und setzten ihn so, daß der Rücken am Felsen einen Halt machte und das Gesicht nach Osten gerichtet war, der aufgehenden Sonne und der Pilgerstraße zu. Der Mond beschien jetzt seine bleichen Gesichtszüge. Die Krone wurde ihm auf dem Haupt festgebunden und der Bronzebuddha neben ihn gestellt.

Die sechs Mönche setzten sich in einer Reihe vor ihm hin und lasen noch einmal die Totengebete. Ein heftiger Windstoß fuhr über den Platz. Als die Mantelsäume des Priors im Winde flatterten und klatschten, sah es aus, als lebe und bewege sich der Alte noch. Nicht lange dauerte der letzte Dienst, den sie ihm erweisen konnten. Fast steifgefroren von Kälte und Sturm, standen sie auf, um eiligst ins Pilgerlager zurückzukehren. Erst aber nahmen sie noch die Bahre auseinander, deren Zeltstangen sie als Stöcke benutzen konnten.

Sie waren zum Abmarsch bereit. Noch einen letzten Blick schenkten sie dem Prior. In welch furchtbarer Einsamkeit ließen sie ihn zurück! Aber er war tot. Und am nächsten Morgen sah ihn die Sonne wie einen König auf seinem Thron sitzen. Jetzt hob sich der Schatten seines Profils scharf von der Felswand ab. Der wirbelnde Schnee hüllte ihn ein und schlang ihm ein weißes Tuch um den Hals. Und wenn es erst ordentlich zu schneien anfing, erhielt er ein feines, reines Sterbekleid. Ja, schließlich wurde er so gut eingehüllt, daß die Sonne, die Raubtiere und die Adler ihn erst gewahr wurden, wenn der Frühling kam, die Schneewehen schmolz und ihn vor der öden Einsamkeit enthüllte, wie er auf seinem Thron sah, die Krone auf dem Haupte.

Als die sechs Mönche den Abstieg begannen, hörten sie im Tale Pferde wiehern. Sie blieben stehen und lauschten.

»Ich habe es ja gesagt, daß man uns Leute entgegenschicken würde«, rief Tsangpo. »Dort hört ihr ihre Pferde. Man sucht uns.«

»Aber warum zünden sie dann im Tale kein Feuer an?« fragte Tundup Lama. »Ein Feuer könnte uns den Weg zeigen.«

»Im Tale gibt's nur Schutt und Eis.«

»Sie könnten doch Jakdung aus dem Lager mitgenommen haben.«

»Vielleicht sind sie eben erst angekommen und haben noch kein Feuer machen können.«

Im selben Augenblick kam ihnen der Medizinlama entgegengelaufen. Er ging so schnell, als ihm die Atemnot erlaubte.

»Was ist geschehen?« fragte Tsangpo.

Kaum imstande, einen Laut hervorzubringen, stammelte der Lama:

»Tanguten! – Tanguten!«

»Wo?« fragten sie.

»Unten am Abhang – im Tale längs des vereisten Flusses. Als ich dort unten lag, halbtot vor Kälte und Müdigkeit, hörte ich in der Tiefe des Tals Pferdegetrappel und Menschenstimmen. Ich stand auf und versuchte mit meinen Augen das Dunkel zu durchdringen. Nichts war zu sehen. Nach einiger Zeit aber sah ich an drei verschiedenen Stellen dunkle Schatten, wie schwarze Punkte so klein, heraufsteigen.«

»Woher weißt du, daß es Tanguten sind?« warf Tsangpo ein.

»Sie haben ihre Pferde im Tal gelassen. In drei Abteilungen kommen sie hier herauf, jede Gruppe vier Mann, alle mit Flinten bewaffnet. Wären es Leute von uns, hätten sie durch Feuer, Flintenschüsse oder Rufe Signale gegeben. Zuweilen sah ich ihre Waffen im Mondschein blitzen. An die Berge gewöhnt, klettern sie schneller als wir. Der Schutthang, den wir heraufgekommen sind, ist, wie wir gesehen haben, zu beiden Seiten von schroffen Felsen eingefaßt. Für uns gibt es keinen andern Weg als den, den wir gekommen sind. Und gerade diesen Weg kommen die Tanguten herauf.«

»Om mani padme hum«, murmelte der alte Lama. Die jüngeren schlotterten vor Kälte und Furcht. Tsangpo sah sich um, ob irgendwo Möglichkeit wäre, nach einer andern Richtung zu entkommen. Aber schroffe Felsen und senkrecht eingeschnittene Schluchten versperrten jeden Ausweg.

»Wir wollen bis zur Felswand dort draußen schleichen; dort haben wir freie Aussicht über den Abhang«, schlug der Medizinlama vor.

Dort angelangt, sahen sie, daß die Tanguten schon die Hälfte des Wegs gekommen waren.

Nachdem ein ganzer Wintertag ungewohnterweise ohne Sturm und Wolken vorübergegangen war, setzte der Westwind von neuem ein. In donnernden Fällen brauste er die Schroffen hinab: Ganze Wolken wirbelnden Schnees fegte er mit, die zuweilen alles ringsum verhüllten. Der Mond verschwand von Zeit zu Zeit hinter schwarzen Wolken, die mit furchtbarer Schnelligkeit wie lange Schiffe über den Himmel segelten. Sie wurden dichter, drängten sich zusammen, häuften sich, und bald kam nur für einzelne Augenblicke ein Schimmer des Mondes zum Vorschein. Noch etwas später war der ganze Himmel ein einziges dichtes Wolkendach, und ein schwarzer Schleier breitete sich über das Land. Ein Schauer runder Hagelkörner prasselte gegen Felsenplatten und Klippen, die seit Jahrtausenden vom Sturm gepeitscht und vom Wind zerfressen wurden. Die Mönche drängten sich unter einem riesengroßen überhängenden Block dicht zusammen. Etwas abseits hockte der Medizinlama und fragte:

»Unten im Lager gibt es Silber, Jake, Schafe, Pferde und Kamele. Was wollen sie von uns armen Lamas, die nichts anderes besitzen als die Kleider, die wir auf dem Leib tragen? Und wie ist es möglich, daß sie uns in dieser unwegsamen Öde auffinden konnten?«

»Das will ich dir sagen, Bruder«, antwortete Tsangpo Lama. »Weder dir noch den andern Mönchen wollen die Tanguten zu Leibe – nur mir, keinem sonst. Und warum? Weil ich der Sohn eines reichen Fürsten bin. Auf dem Blauen See wurde mir klar, daß sie mich fangen wollten, um später für meine Befreiung ein fürstliches Lösegeld zu verlangen. Ich überlistete sie am Strand, lockte einige auf das Eis, das nicht trug, und rettete mich auf einem ihrer Pferde. Ich sah und hörte, wie wütend sie waren, als ich sie geprellt hatte. Seit jenem Tag wußte ich, daß sie mich nicht aus den Augen lassen würden. Im Hochgebirge haben wir in der Ferne fast täglich tangutische Reiter auftauchen sehen. Auch wenn sie sich nicht zeigten, haben sie uns verfolgt und beobachtet. Geduldig haben sie ihre Zeit abgewartet. Heute nacht ist ihre Stunde gekommen. Es war leichtsinnig von uns, ohne Begleitmannschaft hier heraufzugehen.«

»Wie konnten sie wissen, daß wir mit der Leiche des Priors auf den Berg hinauf wollten?«

»Sie haben doch Augen! Sie haben die Sänfte gesehen, die Tag für Tag getragen wurde, und konnten sich denken, daß ein vornehmer Mann krank war. Einen gewöhnlichen Pilger trägt man nicht in einer Sänfte, selbst wenn er todkrank ist; er wird auf seinem Kamel festgebunden. Ich behaupte, sie haben ermittelt, daß der Kranke ein Lama war – das merkten sie an den Posaunen und Schneckenhörnern, und vor allem gestern nacht an dem Gemurmel der Totengebete. Da wußten die Tanguten, daß der verstorbene vornehme Lama an einen geschützten Platz getragen werden würde und daß alle Mönche, die im Zuge waren, ihm das Geleit geben würden. Und sie wußten auch, daß ich darunter war.«

Der Hagelschauer ließ nach. Nun sah man die schleichenden schwarzen Schatten auf der weißen Decke über dem Geröll ganz in der Nähe. Tsangpo Lama flüsterte:

»Wäre ich allein, würde ich zu fliehen versuchen, am Thron des Priors vorüber, die Schneefelder und Gletscher des unwegsamen Gebirges hinauf. Da aber niemand von euch mich zu begleiten vermag, ist es meine Pflicht, hier zu bleiben und mich gefangen zu geben. Euch lassen sie laufen, wenn sie nur mich bekommen. Sagt dem Häuptling, meinem Stammverwandten, daß meinetwegen der Pilgerzug nicht einen Tag aufgehalten werden darf.«

Kaum hatte Tsangpo geendet, als ein Mann, die Flinte auf dem Rücken, den Säbel in der Faust, an der untern Ecke des Blocks zum Vorschein kam. Tsangpo stand auf und ging ihm ruhig einen Schritt entgegen. Der Mann war so verdutzt, daß er beinahe hintenüber gefallen wäre und den Säbel hoch riß. Er hatte vier andere bei sich, die einer nach dem andern zwischen den Blöcken auftauchten. Sie stimmten das übliche wilde Kampfgeheul an.

»Wen sucht ihr?« fragte Tsangpo Lama auf tibetisch.

Als sie sahen, daß die sechs Mönche, die immer noch zusammengekauert unter dem Blocke saßen, halbtot vor Schrecken und obendrein unbewaffnet waren, faßten sie Mut und berieten sich flüsternd. Dann antwortete der erste Tangute:

»Wir suchen Tsangpo Lama.«

»Der bin ich. Ich ergebe mich euch. Aber die andern laßt gehen.«

»Führst du hier das Kommando oder ich? Es ist nicht die Absicht, einem von euch den Hals abzuschneiden. Folgt uns ins Tal hinab, ohne zu mucken. Unterwegs könnt ihr eure Pelze mitnehmen, die ihr habt liegen lassen. Wer den geringsten Versuch macht, zu fliehen, wird auf der Stelle erschossen. Also vorwärts, ihr roten Vampire! Und beeilt euch! Unten haben wir Pferde für euch. Heute nacht habt ihr einen langen Weg vor euch. Bildet euch nicht ein, daß eure Mongolenfreunde dort unten im Lager euch Hilfe schicken können. Wir finden uns hier besser zurecht als ihr elenden Pilger. Sie werden hohes Lösegeld zu zahlen haben, besonders für Tsangpo Lama, der unsere Stammverwandten auf dem Eis des Tso-ngombo überlistet hat.«

»Om mani padme hum, om mani padme hum«, murmelte der alte grauköpfige Lama mit zitternder Stimme.

»Schweig, du alter Fuchs!« rief der erste Tangute, offenbar der Häuptling der Bande.

Der Wind steigerte sich zum üblichen heftigen Wintersturm. Es war, als würden unsichtbare Streitwagen auf eisenbeschlagenen Rädern von geflügelten Pferden in rasender Eile über Klippen und Blöcke gezogen. Ein betäubendes Getöse ging über die Erde weg. Immer dichter fiel der Schnee und wirbelte in weißen Schleiern um die Berghänge und über die Kämme. Die mongolischen Mönche und die tangutischen Wegelagerer waren dem Ersticken nahe. Sie krochen zusammen, senkten die Köpfe und hielten die Arme vors Gesicht. Inmitten des Getöses befahl die Stimme des Häuptlings:

»Feuert die vereinbarten zwei Flintenschüsse ab, damit die Unsern, wenn sie sie in diesem Wetter hören, wissen, daß wir unsere Beute in sicherer Verwahrung haben!«

Zwei Flintenschüsse knallten. Sie gingen im Brausen des Sturms unter. Der Häuptling erteilte den Seinen einen Befehl. Ein Tangute marschierte an der Spitze des Rückzugs. Hinter ihm die sechs Mönche, die zwischen den Blöcken vorwärtsgestoßen wurden, dann Tsangpo Lama, zum Schluß der Häuptling. Die übrigen Tanguten begleiteten den kleinen Zug zu beiden Seiten.

Langsam ging es zwischen den überschneiten Blöcken und auf dem tückisch gleitenden Schutt bergab. Bald trat der eine, bald der andere in ein schneegefülltes Loch zwischen den Steinen und fiel hin. Auf den schroffen Schutthängen rutschten sie abwärts und konnten sich kaum halten. Die Mönche waren schreckgelähmt und dachten nicht an Flucht. Tsangpo Lama hatte beständig wenigstens zwei Tanguten auf den Fersen und widerstand der Versuchung zu fliehen, da dies den andern teuer zu stehen gekommen wäre.

Aus dem Schneetreiben tauchten fünf neue Schatten auf, die zweite Abteilung der Wegelagerer, bald darauf die dritte. An der Stelle, wo die Gefangenen ihre Pelze zurückgelassen hatten, wurde kurze Rast gehalten. Sie durften ihre eingeschneiten Kleidungsstücke ausschütteln und anziehen. Unterdessen teilte der Häuptling neue Befehle aus. Zehn Tanguten sollten die sechs Mönche ins Tal hinabführen, wo Pferde bereitstanden. Etwa zehn Schritt höher oben am Rande des vereisten Flusses wartete ein Mann mit dem Pferd des Häuptlings und fünf andern.

Als die Schar im Talgrund angekommen war, teilte sie sich.

Der Häuptling und seine vier Begleiter führten Tsangpo Lama links talaufwärts. Die andern zogen mit ihren Gefangenen rechts talabwärts. Alle kannten die Schleichwege, auf denen sie das Lager der Pilger und ihre starke Eskorte umgehen und – mit einem Abstecher nach Norden – nach Hause zu ihren Zelten und Tälern gelangen konnten.

Als der Häuptling mit seinen Leuten bei den harrenden Pferden angekommen war, wurde Tsangpo Lama befohlen, eins zu besteigen, ein kleines, langhaariges, lebhaftes, sehniges Gebirgspferd. Tsangpo bemerkte, daß sie den Sattelgurt mit aller Kraft anzogen, die Zügel vom Zaum losmachten und eine ziemlich lange Leine an der Halfter festknüpften. Sein Pferd sollte also von einem tangutischen Reiter geführt werden. Sobald er in den Sattel gekommen war, wurden seine Füße unter dem Bauch des Pferdes mit feinen, weichen, zähen Lederriemen zusammengebunden. Damit wurde er der Möglichkeit beraubt, in einem unbewachten Augenblick sich aus dem Sattel zu werfen und im Schutz des Schneetreibens die Flucht zu versuchen. Obendrein wurden ihm die Hände auf den Rücken gebunden und das Messer, das er im Gürtel trug, abgenommen. Die Reiter hinter ihm waren dafür verantwortlich, daß er sich nicht losmachte.

»In die Sättel!« rief der Häuptling, »und vorwärts!«

Es waren fünf Tanguten. Denn der Mann, der die Pferde gehalten hatte, schloß sich der größeren Abteilung an, die etwas weiter unten sich marschbereit machte. Der Häuptling ergriff selbst die Leine, um stets sicher zu sein, daß der kostbare Gefangene in seiner Gewalt war. Die andern vier sollten neben und hinter ihm reiten.

In dichten Wolken fegte der Schnee durch das Tal, dessen Seiten die Stärke des Windes dämpften.

Eben wollte die Schar aufbrechen. Da knallten jenseits des Eisbettes drei Flintenschüsse. Einer von den fünf Tanguten warf den Kopf zurück, streckte die Arme in die Höhe und fiel mit einem Schrei zu Boden. Im selben Augenblick hallten mehrere Schüsse weiter unten im Tal wider, wo sich die größere Reiterabteilung befand. Neue Schüsse knallten. Wildes Kampfgeheul erklang. Einige Beipferde der Tanguten kamen auf dem vereisten Fluß dahergesprengt, daß die Eissplitter spritzten. Tsangpo erfaßte sofort den Zusammenhang. Die Begleitmannschaft der Mongolen war angelangt. Einen Augenblick zu spät!

Was aber die Achtsamkeit der Mongolen erklärte, erfuhr er erst mehrere Jahre später. Ein paar Pferde der Pilger hatten sich in der Einöde verirrt. Ein Hirt, der ihren Spuren nachging, hatte zufällig in weiter Entfernung eine Schar von etwa zwanzig Männern gesehen, die mit verschiedenen Last- und Reservepferden langsam die Talsenkung hinabritten, durch die der vereiste Fluß ging. Von dem Gelände verdeckt, hatte er bemerkt, daß sie sich an den Fuß des Abhangs begaben, in dessen oberen Regionen der Thron des Priors stand. Diesen Platz kannten alle Mongolen.

Es war ja eine ihnen allen heilige Grabstätte, unterhalb welcher in Zukunft die Pilger in Andacht niederzuknien hatten. Er hatte auch gesehen, daß die Tanguten in einer Talwindung haltgemacht hatten, die ein Felsvorsprung den Augen der Mönche verbarg. Die Sonne war eben untergegangen, und in der Dämmerung hatte der Hirt die Reiterschar nicht mehr unterscheiden können.

So schnell ihn seine Füße tragen konnten, war er ins Lager geeilt und geradewegs in das Zelt des Häuptlings der Tsacharen gestürzt, um zu erzählen, was er gesehen hatte. Es gab große Aufregung. Die wegkundigen Tadschinurmongolen wurden herbeigerufen und die ganze Begleitmannschaft alarmiert, bis auf eine kleine Anzahl, die zum Schutze des Lagers zurückbleiben mußte. Der Sturm brach los mit Hagel und Schneetreiben. Es brauchte daher nicht zu offenem Kampf zu kommen. Die Mongolen, die seit den Tagen der Großchane an Tapferkeit verloren hatten, konnten die Tanguten aus dem Hinterhalt überfallen. Sie ließen ihre Pferde zurück, deren Wiehern sie hätte verraten können, und schlichen bis an den Rand des Taleinschnitts und dann an den vereisten Fluß hinunter. Sie hörten die Pferde der Tanguten ganz in der Nähe. Sie hörten Rufe und Stimmen, als der Häuptling und seine Leute mit den Gefangenen den Abhang herabkamen. Aber sehen konnten sie in dem dichten Schneetreiben nichts.

Daher kam es, daß bloß drei von den Mongolen unversehens auf die kleine Abteilung stießen, die Tsangpo Lama bewachte. Hinter einem Uferblock verborgen, sahen sie, wie ein Mann auf einem Pferde festgebunden wurde – ein Gefangener also, einer von den Ihren. Die Tanguten waren an ihren Flinten leicht zu erkennen. Die Mongolen feuerten.

Nur ein Schutz traf, ein Tangute fiel tot aus dem Sattel. Da begriffen die andern Mongolen, daß der Kampf begonnen hatte, und schossen auf die Tanguten. In der Meinung, einer beträchtlichen Übermacht gegenüberzustehen, und außerstande, die Lage zu beurteilen, hielten die Wegelagerer es für das klügste, sich aus dem Staube zu machen. Sie schwangen sich blitzschnell in die Sättel und ritten spornstreichs das Tal hinab.

Als der Häuptling in seiner unmittelbaren Nähe Schüsse hörte und einen seiner Männer fallen sah, als auch Schüsse bei der andern Abteilung erklangen, begriff er, daß er mit seinen Reitern in eine ähnliche Falle geraten war, wie er sie den Mönchen gestellt hatte. Widerstand zu leisten, wo man von der Stärke des Feindes keine Ahnung hatte und die Mongolen gegen hundert Bewaffnete sein konnten, wäre allzu gefährlich gewesen. Er schwankte keinen Augenblick, was er zu tun hatte. Wenn er mit seinen drei Reitern und dem Gefangenen entkommen konnte, so hatte er doch den Zweck seines gewagten Unternehmens erreicht. Er wollte schon mit der Zeit auf Schleichwegen nach Osten in seine Heimat gelangen, wo für die Mongolen der Versuch einer Verfolgung aussichtslos war. Was machte es aus, daß einer oder vielleicht mehrere von seinen Leuten gefallen waren! Die Überlebenden fanden den Weg nach Hause.

Deshalb rief er gerade, als der Getroffene aus dem Sattel stürzte: »Vorwärts, was das Zeug hält!«, stemmte seinem Pferde die Hacken in die Weichen und sprengte das Tal hinauf, Tsangpo Lamas Pferd an der Leine neben ihm; hinter ihm seine drei Reiter, die auf das Pferd des Gefangenen die Reitpeitsche niedersausen ließen.

Der Schneesturm, der eben noch den Tanguten einen so schlimmen Streich gespielt hatte, bot ihnen nun Vorteil und Schutz. Kaum halten die Pferde bei ihrem wahnsinnigen Galopp die Beine gehoben, so waren auch schon ihre Spuren mit Schnee ausgefüllt oder verwischt. Dazu kam das Dunkel der Mitternacht, das der Mondschein bei dem dichten Gewölk nur ganz wenig zu erhellen vermochte.

Was aber taten unterdessen die Mongolen? Sie fragten ihre sechs Mönche aus, die die Tanguten zurückgelassen hatten und die vor Schreck immer noch mehr tot als lebendig waren, trotzdem sie sich allmählich beruhigten, als sie sahen, daß die Gefahr vorüber war. Die Mönche erzählten, wie sie der Räuberbande in die Hände gefallen waren, und daß offenbar der Überfall besonders Tsangpo Lama gegolten hatte. Sie erinnerten sich auch, daß dieser allein zu den Pferden geschleppt worden war, die weiter oben im Tale bereitstanden. Da wurde den Mongolen klar, daß er sich bei der kleinen Abteilung befunden hatte, die talaufwärts geflohen war, als die ersten Schüsse fielen.

Nach kurzer Beratung, und nachdem es geglückt war, einige der tangutischen Beipferde einzufangen, die sich während des Tumults losgemacht hatten, und einige von ihren eignen herbeizuschaffen, wurde beschlossen, daß fünfzehn Mann unter Führung der Tadschinurmongolen das Tal hinaufreiten sollten.

Sie ritten. Sie ritten schnell. Sie ritten die ganze Nacht. Eine Spur war nicht zu sehen. Der Schnee wirbelte und fegte. Der Weststurm schlug ihnen mit seiner ganzen Gewalt ins Gesicht. Sie ritten an senkrechten Erosionsterrassen entlang, von denen der Sturm den pfeifenden Schnee herabblies, daß sie glauben mochten, unter einem Zeltdach zu reiten.

Dann gelangten sie an eine Talkreuzung. Das eine Tal kam von Westen, das andere von Nordwesten. Die Tadschinur hielten ihre Pferde an und gaben den andern Zeichen, stehenzubleiben. Sie saßen ab, um den Boden genau zu untersuchen. In dem westlichen Tal war kein Schimmer einer Spur zu sehen. In dem nördlichen bemerkte ein Mongole an einer Stelle, die von einer fast überhängenden Terrasse geschützt war, im Schnee drei oder vier parallel verlaufende Vertiefungen.

»Hier sind sie hinaufgeritten«, sagte der Mongole. Der Tsacharenhäuptling, der selbst mit geritten war, gab den Befehl, in diesem Tal weiterzureiten. Sie saßen auf. Ihre Pferde liefen in Wolken von Dampf. Hier und da verengte sich das Tal, und der ganze Grund war vereist. Auf dem Eis war keine Spur zu sehen. Der Schnee lag tief und stob um die Pferdebeine wie schäumende Wellen. Später erweiterte sich das Tal wieder. Sie ritten und ritten. Kein Pferdewiehern war zu hören, nur das Tosen des Sturms und das dumpfe Getrappel der eignen Pferde, wenn die Hufe auf den Schnee oder auf reingefegte Schuttbetten trafen.

Der Schneenebel verhüllte jede Aussicht. Es wurde Tag und damit leichter, nach Spuren zu suchen. Rechter Hand liefern sie ein kleines Nebental liegen, das nicht vereist war. Sie zogen im Haupttal weiter. Wieder ritten sie durch einen engen Hohlweg auf festem Eisboden zwischen senkrechten Felsufern. Hier wurde der Wind zu verdoppelter Stärke zusammengepreßt, und die Eisschollen waren daher von Schnee ganz reingefegt. Ein paar Pferde stolperten und fielen.

»Halt!«, rief ein Tadschinurmongole und saß ab. Er untersuchte das Eis in seiner ganzen Breite. Es war nun ganz hell geworden.

»Hier sind keine Reiter durchgekommen«, sagte er. »Das Eis zeigt nicht eine einzige Ritze.«

»Dann müssen sie das von Norden kommende Nebental hinaufgeflohen sein«, meinte der Häuptling und fand bei den Wegkundigen Zustimmung.

Die Schar kehrte um und konnte jetzt beobachten, wie schnell die Spur der eignen Pferde verschwunden war. An der Mündung des Nebentals bogen sie links ab und ritten nach Norden hinauf. Nach ein paar Stunden mußten sie haltmachen und die Pferde verschnaufen lassen. Sie waren von Frost und Sturm ganz durchfroren und halten Schneestaub in den Pelzen.

In abermaliger Beratung erklärten die Tadschinur, die Tanguten, die an den Quellen des Gelben Flusses zu Hause seien, die weit im Osten lägen, müßten früher oder später dorthin zurückkehren. Und da sie die Täler nach Westen und Nordwesten hinaufgeritten wären, so müßten sie in einem Bogen nach Norden. Nordosten und Osten ausbiegen, um in sicherm Abstand an den Patrouillen der Pilger vorüberzukommen. Die Tadschinur glaubten daher, die Fliehenden seien gerade in dieser Gegend abgebogen und die Verfolger seien auf der richtigen Spur.

Wie es den Mongolen weiter erging bei ihrem aussichtslosen Suchen in einem Labyrinth von Tälern und Nebentälern, zwischen Hügeln und Bergen im heulenden Schneesturm? Wie sie und ihre Pferde Tage und Nächte ohne Proviant und ohne Weide aushalten konnten in dieser mörderischen Kälte? Ob sie, nachdem alles Suchen sich als vergeblich erwiesen und ihre eignen Spuren verweht waren, jemals zu dem Lager zurückfanden, in dem der Prior gestorben war? Unter welchen Verhältnissen die Pilger nach vielen Gefahren und Prüfungen ihre Fahrt fortsetzen konnten? Das ist eine lange Geschichte!

Wir aber dürfen Tsangpo Lamas Spur nicht verlieren.

Es wäre von den Mongolen, Kindern der endlosen Ebenen, zu viel verlangt gewesen, daß sie den Tanguten, einem Gebirgsvolk, an List hätten überlegen sein sollen. Bei den Vertiefungen im Schnee unter der Terrasse waren sie noch auf dem richtigen Weg. Dort waren die vier Tanguten mit ihren Gefangenen geritten. Dann aber? Woraus hätten die Mongolen schließen sollen, daß die Flüchtlinge etwas weiter oben im Tale, wo die Terrasse von Wind und Wetter abgerundet war, auf diese hinaufritten und dann auf einem Umweg wieder nach dem von Westen kommenden Tal abbogen? Der Tangutenhäuptling sah voraus, daß die Mongolen, wenn der Schneesturm aufgehört hatte und die Pferdespuren wieder sichtbar geworden waren, alle ihre bewaffneten Reiter aufbieten würden, um tage- und wochenlang die Gegend nach allen Richtungen zu durchsuchen. Er war überzeugt, daß die nicht wehrfähigen Männer samt den Frauen mit genügender Bedeckung die Reise nach den Wallfahrtsorten fortsetzen, alle andern aber bleiben würden, bis Tsangpo Lama wieder bei ihnen war. Deshalb beschloß er, mehrere Tagereisen nach Westen weiterzuziehen, dann nach Norden und Osten in seine Heimat abzubiegen und von dort aus durch zuverlässige Gesandte von Erke Norvo Chan das Lösegeld zu erpressen, das Tsangpo Lama wohl wert war.

So ritt er denn mit seinen Leuten weiter nach Westen, bis das Tal immer kleiner wurde und sich schließlich in eine Menge kleiner Schluchten auflöste.

Die Nacht verging, der neue Tag brach an. Tsangpo Lama fühlte sich am ganzen Leib wie zerschlagen. Gegen Abend hörte der Schneesturm auf. Bei Sonnenuntergang führten die Tanguten ihren Gefangenen über einen Paß. So weit der Blick nach Westen schweifte, waren nur verschneite Flächen und Gebirgskämme zu sehen.

Die Reiter hielten ihre Pferde an. Nach Osten ausspähend, rief der Häuptling höhnisch:

»Unsere List ist geglückt! Sicherlich haben sie schon vor Tagesanbruch unsere Spur verloren. Wir können ruhig einen geeigneten Lagerplatz aufsuchen. Die Hauptsache ist Feuer. Dörrfleisch haben wir in den Ranzen. Bei Tagesanbruch geht es weiter. Wir müssen so weit nach Westen reiten, daß unsere Verfolger gar keine Möglichkeit haben, unsern Weg ausfindig zu machen.«

In langsamem Schritt begaben sich die Tanguten auf die Suche nach einem geschützten Nachtlager.

Tsangpo saß auf seinem Pferde halb betäubt. Die Lederriemen hatten Spanne und Handwurzel wundgerieben. In den Händen und Füßen hatte er alles Gefühl verloren. Der Gedanke, der ihn beherrschte, war das Lager. Mochten sie ihn jetzt behandeln, wie sie wollten – wenn er nur seine Glieder bewegen, sich auf dem Boden ausstrecken und schlafen konnte! Er war halbtot vor Schlaf und Ermattung.

»Aber wartet nur!«, dachte er bei sich selber. »Nach der Rast gewinne ich meine Kräfte wieder! Ihr glaubt, daß ich geduldig in eurer Gewalt bleiben werde! Ihr glaubt, ich werde mich wie irgendein Sklave verkaufen lassen! In Gedanken seht ihr schon die Reihen von Silberbarren, die euer Gewinn sein werden. Zählt lieber die Stunden, die wir noch zusammen verbringen werden! Wegelagerer, die fromme Pilger anfallen und plündern, sind nicht mehr als Raubtiere. Und Raubtiere ausrotten heißt nicht gegen Buddhas Gesetz verstoßen.«

Er dachte an die letzten Worte des Priors von den Nomaden und dem Roten Tempel, von der einen Monat langen Reise nach Westen und von der ebenso langen nach Südwesten.

»Ich werde seinem Winke folgen. Einstweilen bin ich auf dem rechten Weg. Ich werde meine Wächter in Sicherheit wiegen. Sobald wir aber den Punkt erreichen, an dem sie nach Nordosten und Osten abbiegen, ist meine Stunde gekommen!«

Noch ahnte er nichts von den wilden Abenteuern und Drangsalen, die seiner in dem weiten wüsten Tibet warteten.

In den Ländern Innerasiens, die den Schauplatz von Tsangpo Lamas Wallfahrt bilden, lebt eine uralte Kunst, deren Formensprache sich unter dem Schutz und im Dienste der Religion des Lamaismus erhalten hat. Als streng kirchlich dient sie der Ausschmückung der Tempel und Klöster, und sie formt die Gegenstände des Gottesdienstes. Maler Curt Eduard Beck in Leipzig hat im Sinne dieser lamaistischen Kunst den Buchschmuck des vorliegenden Werkes einschließlich des Einbandes und des Vorsatzpapiers nach tibetischen, mongolischen und chinesischen Motiven gezeichnet. Stoff dazu boten in reichem Maße die eigenen Reiseberichte Hedins, namentlich die drei Bände des »Transhimalaja«, ferner Grünwedel, »Mythologie des Buddhismus« und Emil Schlagintweit, »Buddhism in Tibet«; auch aus Consten, »Weideplätze der Mongolen« wurden Anregungen entnommen.

Dem Werdegang des Helden der Erzählung entsprechend sind eine Anzahl von Kultusgeräten des Lamaismus dargestellt, die der Geistliche beim täglichen Gottesdienst zur Hand nimmt und die den Altar im Tempel und unterwegs auf der Reise schmücken. Wir sehen (S. 274) die Klingel, den Zauberdolch und den Donnerkeil (Dortsche), der auf S. 72 wiederkehrt; auf S. 137 das kunstvoll geschnitzte Schneckenhorn und die Klarinette, mit denen die Lamas zum Gottesdienst rufen. Zum Schmuck des Altars gehören die auf den S. 62, 313 und 314 dargestellten Gegenstände. Ein wichtiges Kultusgerät sind die Gebetmühlen S. 290, die außen auf der Gehäusewand und im Innern auf einem langen aufgerollten Streifen die heiligen sechs Silben Om mani padme hum (O, das Juwel ist in der Lotosblume) tragen. Dieser Segensspruch, der von den Gläubigen nicht oft genug wiederholt werden kann, wird überall und in allen möglichen Formen angebracht. Er flattert von den flachen Dächern der Klöster (S. 291), er ist mit dem Riesenbild Buddhas in gewaltigen Zügen in Granit gemeißelt (S. 343), er erscheint in Radform (S. 6), und er wird, wie das Einbandbild zeigt, in Gestalt eines Anagramms wiedergegeben, durch welche Form die Kraft des wundertätigen Spruchs erhöht wird.

In die gestaltenreiche Welt der Götterdarstellung führen die Leisten S. 7, 180, 240, 275. Die letztere entstammt einer Holzschnitzerei, die Hedin in der uralten, von Sandstürmen verschütteten Stadt Lou-lan entdeckt hat; in ihr sind Anklänge an die nach Innerasien gedrungene griechisch-römische Kunst zu finden. S. 92 ist ein Burchan, ein Schutzgott, dargestellt, wie er in den Amuletten der Tibeter und Mongolen enthalten ist. S. 189 stellt den schlangenvertilgenden Riesenvogel Garuda dar, und S. 179 gibt ein Bildnis des Reformators Tsongkapa nach einem alten mongolischen Buch wieder. Einer jahrhunderte alten tibetischen Karte sind die Bilder S. 93 und 106 entnommen, die dem Wanderleben der Lamas gewidmet sind. Die Bekrönung der Klostergebäude und Tempel ist durch die Ornamente S. 171 und 344 gekennzeichnet, die Grabkapelle eines Taschi-Lama in Taschilunpo ist durch das Ornament S. 29 ausgezeichnet. Monumentale Grabdenkmäler (Tschorten) erheben sich (S. 170) vor einem Kloster, in kleinerer Ausführung sind sie S. 215 in eine Hauswand eingelassen. Die reiche Ornamentierung der Portale eines Tempels zeigt S. 250. Dem Hausrat eines vornehmen Lamas ist S. 190 entnommen: die beiden Schriftzeichen in der oberen Leiste der Zeichnung, das lange und das runde Schau, bedeuten Glück und Glückwunsch; sie kehren vielfach auch auf den Gewändern der Mongolen wieder. Zum Silberschmuck reicher Mongolinnen gehören die Spangen S. 5 und 45 und die über den einzelnen Textseiten angebrachte Verzierung. Das geheimnisvolle Kleinod Cintamani erscheint auf den S. 249, 61 und 73 in verschiedenen Formen: es gehört zu den sieben Kostbarkeiten der lamaistischen Mythologie. Eine Votivgabe für Dolma, eine Gattin des tibetischen Gesetzeskönigs, der im 7. Jahrhundert n. Chr. lebte, ist S. 239 die Schale Äpfel, in deren Hintergrund sich der heilige Berg Kailas in zweifacher Darstellung erhebt.

Die Umrahmungen der Kapitelüberschriften entstammen den Bänden des Kandjur, der Heiligen Bücher der Tibeter, von denen ein 36 Bände umfassendes, aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts stammendes Exemplar zu den größten Kostbarkeiten der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin gehört.

Das Hakenkreuzornament des Vorsatzpapiers bedeutet in der chinesischen Kunst bei der Zusammenstellung zu einem fortlaufenden Muster Glück ohne Ende.

Druck von F.A.Brockhaus, Leipzig

 


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