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10.
Der blaue See

Die Ruhezeit in Tsongkapas Klosterstadt war zu Ende. Wieder erging an alle Stämme und Lager der Pilgerkarawane der Befehl, in zwei Tagen in dem Augenblick, da die ausgehende Sonne die Zinnen des Goldenen Tempels wie Feuer aufflammen lasse, sich marschbereit zu halten, um über Tenkar nach dem Koko-nor, dem Blauen See, zu ziehen.

Der Tag kam; die Tempelzinnen flammten im Morgenlicht. Die Posaunen ertönten, und die Karawanenglocken begannen wieder ihren Gesang zwischen den Bergen. An der Spitze ritt, wie gewöhnlich, Terge Ritschen, den roten Wimpel an der Gewehrstütze.

Eines Abends erweiterte sich das Tal trompetenförmig und mündete auf eine gewaltige Hochebene, auf der hier und da Nomaden ihre Herden weideten. Im Westen war's, als blinkte im Steppengras eine riesige, blauschimmernde Säbelklinge.

Das war der Blaue See, dessen Nordstrand sich die Pilger näherten, bis die gewaltige Wasserfläche den ganzen Gesichtskreis der Steppe im Süden ausfüllte. Rundherum aber erhoben sich, so weit der Blick reichte, schneebedeckte Berge.

»Ein wunderliches Land!« dachten die fremden Wanderer. »Hier leuchtet kein Berggipfel in der Sonne, der nicht auf Scharen von Wanderern herabgeblickt und dem Echo von Sagen und Märchen gelauscht hat. Hier rollt keine Welle ans Ufer, die nicht Botschaft bringt von den luftigen Gemeinden der Wildgänse, der Fischadler und von den Wohnungen heiliger Einsiedler!«

Als die Mongolen über die weiten Steppen am See wandelten, war ihnen, als sähen sie ein Stück ihres Heimatlandes. Sie begegneten Nomaden mit Ziegen- und Schafherden, Menschen, die ihr Leben lebten und ihre Sprache sprachen. Ihre Heimatgefühle störte nur einigermaßen die Beobachtung, daß hier die Hirten mit Lanzen, Flinten und Säbeln bewaffnet waren und ihre Herden beständig zu Pferd bewachten.

Es hieß, an den Ufern des Blauen Sees sei man nie vor Überfällen sicher. Die im Süden wohnenden Tanguten pflegten von Zeit zu Zeit in kleinen, stark bewaffneten Banden Raubzüge gegen die Nomaden zu unternehmen. Gewöhnlich begnügten sie sich damit, Jaks, Pferde und Schafe zu stehlen, doch konnten auch Zelte ihres Inhalts beraubt werden. Und stießen sie auf Widerstand, so kam es zu blutigen Kämpfen, in denen mancher sein Leben ließ. Deshalb waren die Nomaden beständig unterwegs und nicht leicht aufzuspüren. Nach Einbruch der Dunkelheit zündeten sie auf freiem Feld niemals Feuer an.

Schließlich gelangten die Pilger ans Westufer des Sees, wo der Bokain-gol, der Strom der Jakstiere in einem flachen Delta einmündet. Hier wollten sie eine Zeitlang rasten, um die Tiere ausruhen, werden und Kräfte sammeln zu lassen, ehe sie die Wanderung über das, Hochgebirge begannen, auf dem kein Grashalm wächst.

Die Tsacharen und der Prior von Jehol schlugen ihre Zelte am See auf, am Ufer eines Deltaarms, wo dichtes Gebüsch Brennstoff für die Abendfeuer lieferte.

In der Nachbarschaft hatte der Häuptling eines Banners der Koko-nor-Mongolen sein Lager, das größte im Umkreis, denn auch seine Söhne mit ihren Familien, Verwandten und Dienern gehörten zur Gemeinde, und alle besaßen rings über die Steppe verstreute große Herden.

Das ganze Jahr war bei dem Häuptling ein Mönch aus Kumbum zu Gast. Der dienende Bruder hatte zwei Aufgaben zu erfüllen. Er sollte die Verbindung zwischen dem Festland und den Einsiedlern auf der Insel Kuisu im Blauen See aufrechterhalten, und er sollte sich um die religiösen Angelegenheiten des Banners bekümmern, den Kindern Namen geben, die Kranken heilen, aus dem Stand der Sterne die geeignete Zeit für verschiedene Unternehmungen erforschen, wie Pilgerfahrten, Einkaufsbesuche in Städten und Wanderungen zu neuen Weideplätzen. Und endlich sollte er die Toten bestatten.

Der Mönch, der jetzt am Koko-nor wohnte, trug den Namen Karma Lama und war Tibeter von Geburt. Mit ihm und dem Häuptling vom Bokain-gol kamen der Prior und Tsangpo Lama in vertrauten Verkehr, und gern lauschten sie ihren Erzählungen vom Leben in der Steppe und von den Eremiten auf der Insel. Die Mongolen nannten den See Koko-nor, die Tibeter Tso-ngombo; beide Namen hatten dieselbe Bedeutung und bezogen sich auf die tiefblaue Farbe des Seewassers.

An einem der ersten Abende stand der Vollmond silberblank über dem See. Der Winter hatte begonnen, und die Nächte waren bitter kalt. Der Koko-nor hatte nur in geschützten Lagunen und Buchten angefangen zuzufrieren. Über die Arme des Bokain-gol hatte der Winter bereits seine Eisdecke geschlagen. Das Land lag lautlos still. Nur hier und da erschallten Rufe aus den verschiedenen Lagern, Hundegebell und Pferdegewieher.

Nachdem der Prior im Tempelzelt den Abendgottesdienst verrichtet hatte, gesellte er sich zu seinen Freunden am Feuer, wo die Teekanne in der Glut brodelte und die Tsamba in Holzschalen von schwieligen Händen geknetet wurde.

Tsangpo Lama hatte eines seiner besten Fettschwanzschafe als Opfer für die Seegeister schlachten lassen. Die Stimmung stieg, als Tsangpos Diener neben das Feuer eine gewaltige Zinnschüssel stellte, in der dampfendes Schaffleisch und Fett in saftiger Brühe schwammen. Bei flackerndem Feuer speiste man zu Ehren der Geister und zerschlug schließlich mit dem Messerrücken die Röhrenknochen des Schafes, um zum Mark zu gelangen. Nach beendeter Mahlzeit wurden die Trinkschalen mit siedendem Tee gefüllt, und in jede ein Klümpchen Butter geworfen.

Das Spiegelbild des Mondes schaukelte langsam auf den flachen glänzenden Wellen des Sees, und die Schneefelder auf den Bergen sahen aus wie leichte weiße Wolken.

»Niemals habe ich einen so großen See wie diesen gesehen«, rief Tsangpo Lama. »Er erinnert an das Meer bei Schang-hai-kuan. Wenn selbst der kleinste Tümpel in der Mongolei und Tibet von einem Geiste bewohnt wird, dann muß ein ganzes Heer von mächtigen Wesen in diesem gewaltigen Wasser hausen.«

»Ja,« antwortete Karma Lama, »und bei stürmischem Wetter treiben sie die Wogen mit furchtbarem Getöse gegen den Strand. Wenn die Kälte streng ist, singt und knallt der glasklare Spiegel, und im Eise öffnen sich gewaltige Risse und Spalten. Dann, sagen die Nomaden, drücken, stoßen und schlagen die Geister des Koko-nor von unten, um die Fessel zu sprengen, die sie im See gefangenhält.«

»Wie weit ist es wohl bis zur Insel?« fragte Tsangpo.

»Weiter, als du glaubst«, antwortete der Häuptling vom Strom der Jakstiere. »Hirten, die bei Tagesanbruch über das Eis wandern, kommen erst um die Mittagszeit ans Ziel.«

»Aber weshalb gehen denn die Hirten im Winter dorthin?«

»Sie nehmen Butter und Tsamba mit, die sie aus Frömmigkeit den Einsiedlern auf der Insel verehren.«

»Was! Auf dieser kleinen Klippe, die wie ein verankertes Märchenschiff im See schwimmt, gibt es Menschen? Ich habe immer Mitleid gefühlt mit Eremiten, die einsam in Gebirgshöhlen wohnen. Doch die können mit andern Menschen in Berührung kommen. Wie einsam müssen aber die leben, die durch tiefes, salziges Wasser vom Land abgeschnitten sind!«

»Ganz abgeschnitten sind sie ja nicht, wie du gehört hast. Wenn das Eis trägt, gehen beherzte Hirten an ruhigen, klaren Wintertagen nach der Insel hinüber. Es ist eine gefährliche Wanderung. In der Tiefe wohnen nicht nur Seegeister, sondern haust auch ein böser Drache, der den Eremiten zürnt, weil er ihnen nicht beikommen kann. Aber es steht in seiner Macht, diejenigen, die sich aufs Eis hinauswagen, zu ertränken oder ihnen, wenn sie die Insel erreicht haben, den Rückweg abzuschneiden.«

»Seit wann gibt es Einsiedler auf der Insel?«

»Solange ich zurückdenken kann. Mein Vater, der starb, als ich noch klein war, hat mir erzählt, daß Zeit seines Lebens heilige Männer auf der Insel gewohnt haben.«

»Wie viele pflegen es zu sein?«

»Das ist verschieden. Auf dem höchsten Punkt der Insel steht ein alter Tempel mit Burchanen und einer brennenden Lampe. Ich erinnere mich, daß eine Zeitlang zehn Einsiedler dort Dienst taten. Zuweilen haben nur zwei dort gewohnt.«

»Und Boote sind nicht vorhanden?«

»Nein, und sind auch nie vorhanden gewesen.«

»Sind die Einsiedler nicht zuweilen auch im Winter abgeschnitten und der Gefahr des Hungertodes ausgesetzt?«

»Jawohl. Wenn der Winter nicht kalt genug ist, oder wenn das Wetter so stürmisch ist, daß das Eis nicht fest wird. Der See ist heimtückisch. Die Stürme kommen plötzlich. Die Wellen erheben sich zu dunkelgrünen, rollenden Hügeln. Eine ganz feste Eisdecke kann unter einem heftigen Sturm bersten. Es ist gefährlich, auf diesem Eis zu gehen.«

»Da müssen ja die Einsiedler Hungers sterben?«

»Nein. Selbst wenn zwei Jahre zwischen den Besuchen der Nomaden vergehen sollten, können sie sich helfen. Auf der Insel weiden eine Anzahl Ziegen und Schafe. Die Eremiten melken sie und bereiten Butter und Käse. Tsamba und Tee können sie entbehren. Quellen fehlen, aber sie graben in den Boden Vertiefungen, in denen sich das Regenwasser sammelt.«

»Wie hausen sie, was tun sie?«

»Sie wohnen in Höhlen am Strande. In die größte treiben sie am Abend ihre Herde, die den ganzen Tag im Freien weidet. Schafmist ist der einzige Brennstoff, mit dem sie das Feuer unterhalten können. In zwei kleineren Höhlen arbeiten und schlafen sie. Wenn das Weiter schlecht ist, sitzen sie mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ihren Schaffellen und schreiben heilige Schriften auf Pergamentblätter ab. Bei gutem Wetter kneten sie aus zähem Lehm kleine Tsatsa-Pyramiden, die bei Mongolengräbern aufgestellt und den Nomaden zum Entgelt für ihre Besuche und Gaben geschenkt werden. Bei jedem Wetter, auch beim heftigsten Schneesturm, müssen die Gottesmänner ihren Tempeldienst versehen und auf dem Altar eine Lampe brennend erhalten.«

Je mehr der Häuptling erzählte, um so eifriger lauschte Tsangpo Lama. Er bewunderte die Seelenstärke und Geduld der Eremiten und richtete immer neue Fragen an den Häuptling und an Karma Lama, die geduldig sitzenblieben, nachdem der Prior und seine Mönche zur Ruhe gegangen waren.

»Wie lange kann wohl ein Eremit auf der Insel bleiben?« fragte er.

»Sie bleiben bis zu ihrem Tode. Einer nach dem andern stirbt dort und wird in einem einfachen Grab beigesetzt, das mit ganzen Reihen von Tsatsa-Pyramiden geschmückt ist. Und wenn ein Eremit gestorben ist, nimmt seinen Platz ein anderer ein, der vielleicht jung ist, wenn er der Welt entsagt und sein ganzes Leben der Betrachtung weiht. Unbewohnt ist die Insel seit Menschengedenken nicht gewesen.«

Trotz des Mondscheins versuchte Tsangpo vergebens das blauschwarze Dunkel zu durchdringen und die Insel zu erkennen.

»Seltsam,« sagte er. »daß in diesem Augenblick Menschen dort in ihren Höhlen schlafen, ohne die Möglichkeit zu haben, ihresgleichen zu treffen und Hilfe zu erhalten, wenn sie erkranken! Du sagst, daß ihre Anzahl wechselt, Häuptling. Wie viele sind es jetzt?«

Der alte Mongole runzelte die Augenbrauen und ließ einen fragenden traurigen Blick über den See schweifen. Dann sagte er mit ernster Stimme:

»Niemand weiß, wie viele es dort sind. Vorigen Winter, als die letzten Hirten sie besuchten, waren es ihrer vier. Als die Kälte nachzulassen anfing, ereignete sich auf der Insel ein Unglück, und wir wissen nur, daß einer von den Eremiten am Leben geblieben ist. Die Nachricht von dem, was geschehen ist, erweckte rings um den Blauen See das Mitgefühl der Stämme. Das ist nun schon volle acht Monate her.

»Leicht vergessen die Menschen das Unglück anderer.

Jetzt spricht man kaum noch von den Eremiten und ihrem Schicksal. Aber einer von ihnen, Namgjal Dortsche, ein Tangute aus Labrang, der auf wunderbare Weise gerettet wurde, kann erzählen, wie es zugegangen ist.«

»Was ist denn geschehen? Ein Erdbeben, eine Sturmflut, ein Überfall?«

»Nein, nichts dergleichen. Räuber wagen nicht, die Heiligen zu stören. Was könnten sie auch auf der Insel stehlen? Die Schafe und die Ziegen? Die sind auf dem Festland bequemer zu haben.«

»Erzähle! Erzähle doch!« rief Tsangpo Lama ungeduldig.


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