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9.
Tsongkapa und der tote Taschi-Lama

Die Pilger waren nun am Ende der Wüste angekommen und zogen durch ein Tal, das langsam zu den Höhen des Nan-schan anstieg. Die bunten Karawanen bewegten sich schwerfällig, bald durch enge Hohlwege, bald über breite Weitungen, und wenn das Läuten der Kamelglocken von den Felswänden widerhallte, glaubten die Mongolen in ihrer Einfalt, die Berggeister antworteten aus ihren verborgenen Wohnungen. Das ganze Tal klang, und den Pilgern war, als atmeten sie singende Luft.

Die Stimmung hob sich und wurde feierlich. Das heilige Tibet rückte ja nun ernstlich immer näher. An den Lagerfeuern konnten die Wallfahrer nicht genug hören von den berühmten Tempeln und von dem großen Tage, an dem die frommen Scharen vom Dalai-Lama gesegnet würden.

Inmitten des andächtig lauschenden Kreises sah immer ein Mönch oder irgendein erfahrener Mann, der nicht zum erstenmal an einer Wallfahrt teilnahm.

»Versetzt euch«, begann etwa der Erzähler, »in die Gefühle der ungezählten Tausende von Pilgern, die die felsigen Wege überwunden haben und zum ersten Male in ihrem Leben vom letzten Patz aus die goldenen Tempeldächer von Lhasa, dem Wohnsitz der Götter, erblicken! Da schwingen die Wallfahrer ihre Gebetmühlen eifriger als sonst. Wenn sie ihr ewiges Om mani murmeln, steigt ein Summen himmelan, wie wenn Bienen blühende Linden umschwärmen.

»Sie reiten in die Stadt hinein. Sie wimmelt von Mönchen. Heilige Hunde, stattlich und wild wie die Tiger der Märchen, durchstreifen die Klosterstraßen. Wenn der große Tag gekommen ist. schreiten die Frommen in Prozession gewaltige Treppen hinauf und durch dunkle Galerien auf die höchsten Altanen von Potala, der Tempelburg auf dem Roten Berge. Unter ihnen schimmern im Tal des Kitschu zahllose Tempel, in stille Haine gebettet, in der Ferne von schneebedeckten Bergen umgeben. Durch Arkaden, Lichthöfe und dunkle Säle wandert der Zug der Gläubigen langsam und schweigend nach dem heiligsten Raum auf Erden.

»Die Stunde ist da! Mit klopfendem Herzen überschreiten sie die Schwelle einer Halle, deren in der Mitte offenes Dach zwölf rote Säulen tragen. Ihre Wände verschwinden hinter prachtvollen Malereien, auf den Altären brennen vor den Götterbildern Flammen in Schalen aus gediegenem Gold. Unter einem Baldachin mit goldbestickten Tuchvorhängen steht ein mit Edelsteinen übersäter, von Löwen getragener, golden schimmernder Thron, Auf ihm sitzt der Dalai-Lama und streckt segnend seine Hände über die Häupter der von weither gekommenen Pilger.«

Bei solchen Schilderungen erbebten die mongolischen Pilger vor Verlangen, all diese Herrlichkeiten selbst zu schauen.

Über neue Berge und durch neue Täler gelangte der Zug in das an Erinnerungen reiche Land Amdo, in dem es Klöster gibt, die an Ruhm mit den angesehensten von Tibet wetteifern.

Man schlug die Zelte im Ta-tung-Tal auf; die Lagerfeuer nahmen sich aus der Ferne wie die Schlangenwindungen eines Fackelzugs aus, in dessen Schein die blanken Felswände sich rötlich färbten. Und eines Tages sah man auf einer Ebene zwischen den Bergen die gewaltige Stadtmauer von Siningfu sich erheben.

Hier wurde mehrere Tage gerastet. Keiner der Pilger wollte es versäumen, Kumbum zu besuchen, den »Tempel der hunderttausend Bilder«. Auch der Prior mit seinen Mönchen und Tsangpo Lama statteten ihm einen Besuch ab.

Der Alte von Jehol war den Klosterbrüdern ein guter Bekannter. Vor sieben Jahren hatte er einen ganzen Winter unter ihrem Dach verweilt in Gesellschaft des Taschi-Lama, der damals nach Peking unterwegs war. Er hatte die göttliche Verehrung miterlebt, die dem Heiligen dargebracht wurde, und vor der die in Kumbum lebenden Inkarnationen verblichen.

Ein geheimer Neid hatte sich um des Taschi-Lama Thron erhoben. Je länger er verweilte, um so matter wurde die Verehrung, die ihm dargebracht wurde, und als er endlich seine verhängnisvolle Reise fortsetzte, war unter der hohen Geistlichkeit niemand, der ihn vermißte.

Anderthalb Jahre später war der Taschi-Lama als Toter nach Kumbum zurückgekehrt. Und nun wollte der Prior von Jehol erfahren, wie der Tote empfangen worden sei.

Eines Abends berichtete der Kanpo-Lama, der der Prior des Klosters war, vom Einzug des Toten. Reitende Boten unterrichteten die Mönche genau über die Reise des Leichenzugs; jeden Tag wußte man, wie weit er gekommen war. Scharen von Priestern in roten Gewändern mit gelben Mützen, Angehörige der von Tsongkapa gegründeten Brüderschaft der Gelugpas oder »Tugendhaften«, ritten dem Gast entgegen. Prozessionen von andern Mönchen zogen auf einen hohen Berg vor Kumbum, wo sie kleine, aus dünnem Papier geschnittene, auf beiden Seiten mit Schriftzeichen bedeckte galoppierende Pferde dem Winde anvertrauten. Wenn müde Pilger diese Papierfiguren fanden, verwandelte Buddhas Allmacht sie in lebende Pferde, die die Wanderer ans Ziel ihrer Reise trugen. Und nun wollte man auch dem Toten die Reise durch Schwärme von Pferden erleichtern, die der Wind forttrug.

»Beim Einzug in die Klosterstadt«, fuhr der Prior von Kumbum fort, »erklangen von allen Tempeldächern herab die Töne der Schneckenhörner und Posaunen so schrill, daß der Abgeschiedene aus seinem Schlaf hätte geweckt werden können. Dichte Scharen von Lamas der verschiedenen Rangklassen begleiteten die Bahre, die Hunderte von Trägem den ganzen langen Weg von Peking aus trugen.

Auf seinem Katafalk stand der goldene Sarkophag, in dem der Leichnam des Taschi-Lama mit übereinandergeschlagenen Beinen saß. In den Ecken klingelten goldene Glöckchen, und die Edelsteine blitzten in der Sonne. Feierlich stieg der Zug zum Sirkang-Tempel hinauf und schritt durch das mächtige Portal. In der Tempelhalle des Tsongkapa wurde der Sarkophag gegenüber dem Riesenbild des Reformators niedergesetzt.

»Bruder,« fuhr der Prior fort, »meine Seele hat das Bedürfnis, dir, dem Freunde des Taschi-Lama, zu bekennen, daß mir und den andern hohen Mönchen schauerlich zumute war, solange der Leichnam des Heiligen bei uns war. Wir empfanden Gewissensbisse, daß wir ihn um seine Macht über die Menschen beneidet hatten, solange er im Leben unser Gast war. Ja, auch jetzt sehnten wir den Tag herbei, an dem er uns verlassen und seine Todesfahrt über das Gebirge fortsetzen würde.

Und wohl hatten wir Grund, uns zu fürchten. Über die Steine der Straßen von Kumbum, die die Sohlen von zahllosen Pilgern seit vier Jahrhunderten blank gescheuert haben, ist noch kein Gast so wunderbar geschritten wie dieser Taschi-Lama.

In der Halle des Tsongkapa, in der die Pilger anbetend aufs Gesicht fallen und wo sie im Verlauf der Jahrhunderte mit ihren flachen Händen tiefe Rinnen in die Dielen gehöhlt haben, saßen Tag und Nacht so viele Lamas auf dem Boden, als Platz finden konnten, und verrichteten Totengebete. Sie saßen in zwei Gruppen einander so gegenüber, daß keine dem goldenen Bild des Tsongkapa oder dem Sarkophag den Rücken zukehrte. Diese standen einander gegenüber, und zwischen beiden war ein zwei Fuß breiter Raum freigelassen. Auf dem Altar brannten Lampen, die das rote Gold der Tempelhalle matt beleuchteten.

Nachts spukte es in der Halle. Du weißt, daß Tsongkapa, die spitze Mitra auf dem Haupte, zwischen zwei Lotosblumen sitzt, von denen die eine ein Schwert, die andere ein Buch trägt. Eines Nachts sahen ein paar Mönche, wie das Bild seine Hände nach dem Sarkophag ausstreckte, dessen goldene Glocken zu läuten anfingen. Es bestand ja eine mächtige Verbindung zwischen ihnen! Ist doch der Taschi-Lama eine Inkarnation von Tsongkapas Geist.

Das Merkwürdigste aber war, daß jede Nacht sich ein schwerer Schlaf auf die Lamas herabsenkte, die gerade die Totenwache hielten und die Totengebete verrichteten. Sie selbst wußten nichts davon. Wer aber an der Tür lauschte, konnte hören, wie tief sie schliefen. Ein Lama hat mir unter Eid versichert, daß er um die Mitternachtsstunde einmal wunderliche Dinge gesehen und gehört habe, als er im Sternenschein auf das Dach hinaufgeschlichen sei und sich am Rand der Dachöffnung niedergelegt habe.

Die Halle war wie gewöhnlich matt erleuchtet, und beim Schein der Lampen saßen die Mönche und murmelten ihre eintönigen Gebete. Jeder hielt einige vergilbte Pergamentblätter, von denen er ablas. Von den Räucherkerzen stiegen betäubende Dünste auf, die die roten Gewänder und die rhythmisch sich wiegenden Köpfe einhüllten. Allmählich wurde das Gemurmel der Betenden matter und hörte ganz auf. Die Lamas sanken zusammen und fielen in tiefsten Schlaf.

Plötzlich hörte man seitwärts ein Rauschen. Das vergoldete Bronzebild Tsongkapas schien lebendig zu werden.

Es streckte die Arme, streifte mit den goldschimmernden Händen die Massen von Kadachs oder Votivtüchern, Gaben frommer Pilger, ab, die an ihnen hingen, ließ den gelben Seidenmantel fallen und stieg vom Kelch der Lotosblume und dem Altar herab, um sich mit lautlosen Schritten dem Sarkophag zu nähern. Von seiner Hand leicht berührt, öffnete sich die Vorderseite der Pyramide wie eine Tür auf das Klopfen eines Gastes. Der darin sitzende Tote schlug die Augen auf, seine Wangen färbten sich.

Tsongkapa reichte ihm die Hand und geleitete ihn nach dem Altar. Ein Schleier von Weihrauchdämpfen hüllte sie ein. Als er sich aber zerstreute, saß das Götterbild, die Kadachs an den Armen, wieder auf seinem Platze.

In dem Saal aber stand der Tote in königlicher Haltung und streckte seine Hände zum Bilde Tsongkapas empor. Auch er trug eine Mitra auf dem Kopf, und von den Schultern fiel der gelbe Seidenmantel in schimmernden Falten herab. Die Öllampen, die vor ihm brannten, wurden durch das Licht verdunkelt, das von ihm selbst ausging. Nachdem er lange unbeweglich dagestanden hatte wie das Bronzebild, erklang aus der Ferne eine himmlische Musik von Flöten und Becken. Der Tote wandte sich um, betrachtete die schlafenden Mönche und streckte seine Hände aus, sie zu segnen.

Wieder umschwebten ihn Rauchwolken. Es wurde dunkel; nur die Lampen auf dem Altar brannten. Die Gestalt im gelben Mantel war verschwunden. Die Mönche erwachten und begannen wieder den Murmelgesang der Totenlieder, in dem sie unterbrochen worden waren. Keiner schien erstaunt, niemand warf Seitenblicke auf seine Nachbarn. Jeder glaubte, nur eine Zeitlang geschlummert zu haben. In dem Dunkel zwischen den Säulen stand der geschlossene Sarkophag, und über dem Altar thronte Tsongkapa in seinem geheimnisvollen Nirwana. Ein paar Ratten jagten über den Fußboden, aber die Leichenwache ließ sich von ihren Sprüngen nicht stören. Das summende Singen hatte den Lama auf dem Dach eingeschläfert. Als er von der Kälte des frühen Morgens erwachte, stand das Gesicht ihm klar vor Augen, und er beeilte sich, es einigen Klosterbrüdern und mir zu berichten.«


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