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13.
Namgjals Rettung

Mitternacht war auf dem Weg nach Westen bereits am Delta des Stroms der Jakstiere angelangt, als der Häuptling seine Erzählung beendete. Das Feuer war niedergebrannt, aber die Sterne funkelten in glitzerndem Glanz, und der Mond leuchtete wie ein silberner Schild. Vergebens versuchte Tsangpo die Insel wieder zu entdecken. Nur bei Tageslicht war die gewölbte Linie ihres Umrisses in der Ferne zu erkennen.

Nachdem das Lagerfeuer wieder angefacht war, rief Tsangpo:

»Ob sie auf der Insel wohl die Flammen sehen?«

»Sie schlafen jetzt, wenn sie noch am Leben sind«, antwortete der Häuptling. »Im übrigen ist die Entfernung zu groß für ihre schwachen Augen.«

»Du hast deine Erzählung noch nicht zu Ende geführt, Häuptling. Wie ist es Namgjal weiter ergangen? Wie kam es, daß er am Ufer nicht erfror?«

So höre denn! Mein Zeltlager stand hier, an derselben Stelle wie jetzt. Meine Herden weideten im Delta. Niemand dachte an die Eremiten. Die letzten Nomaden waren bei ihnen gewesen. Nach dem Sturm, der bald darauf das Eis aufbrach, war jede Verbindung mit der Insel unterbrochen. Der nächste Besuch konnte den Einsiedlern erst im Winter darauf abgestattet werden – also in dem, der jetzt seinen Einzug hält.

Eines Tages streifte einer meiner Hirten den Strand entlang. Er suchte ein Schaf, das in der Herde fehlte, für die er verantwortlich war. Der heftigste Sturm, den wir seit langer Zeit erlebt hatten, raste auf dem See, und die Brandung donnerte. Der Boden zitterte unter ihrer Gewalt.

Plötzlich sah der Hirt zu seinem Schrecken aus dem Wogenschaum einen Mann auftauchen. Das Wasser rann von den Fetzen herab, die er am Leibe trug. Er taumelte zum nächsten Rasenfleck hinauf. Dort brach er zusammen und blieb liegen.

»Ein Mensch, der bei solchem Sturm aus dem See auftaucht! Ein Gespenst!« dachte der Hirt. Zum Glück war er ein tapferer Jüngling, der sich schon mit Wölfen und Wegelagerern herumgeschlagen hatte. Er untersuchte, ob sein Säbel locker in der Scheide saß, und schlich sich mit gesenktem Spieß an den Fremden heran. Dieser lag auf dem Gesicht und gab auf Anruf keine Antwort. Das Wasser in seinen Kleidern war in Wind und Kälte bereits zu Eis gefroren, und er lag da wie tot.

Nachdem sich der Hirt davon überzeugt hatte, daß der Verunglückte ein Mensch von Fleisch und Blut war, schleppte er ihn nach einem ausgetrockneten Flußarm an eine windgeschützte Stelle. Hier machte er ein Feuer an, an dem er den Mann trocknete. Dann eilte er in das nächste Lager, um Hilfe zu holen. Einige Männer trugen den Verunglückten in eins unserer Zelte. Dort wurde Namgjal Dortsche, der Eremit, der zwölf Jahre auf der Insel gelebt hatte, sofort erkannt. Bald erwachten auch seine Lebensgeister wieder, und das Bewußtsein kehrte zurück.

Aber mit dem, was er anfangs zu erzählen wußte, war nicht viel anzufangen. Er bemühte sich offenbar, über den Verlauf einer Handlung Klarheit zu gewinnen, die in seiner Erinnerung nur ein verwickelter Knäuel war. Niemand von uns hatte noch eine Ahnung von dem, was geschehen war. Daß es etwas Unheimliches war, konnte man dem Kranken anmerken, der zuweilen mit den Armen herumfuchtelte, als sähe er Gespenster. Die ihn zuletzt auf der Insel gesehen hatten, hatten ihn als einen kräftigen, jugendlichen Mann in der Erinnerung. Nun war er ein verbrauchter Greis mit zerfurchten Gesichtszügen.

Nach und nach kam er wieder zu Kräften. Eines Abends bat er mich um eine Unterredung und fragte:

»Wie viele Monate ist es her, daß ihr mich gefunden habt? Es ist kalt. Der neue Winter hat wohl begonnen?«

»Vor zehn Tagen haben wir dich am Ufer gefunden.«

»Gelobt sei Buddha! Ist der See wieder gefroren?«

»Nein, dieses Jahr gibt es kein Eis wieder. Die Frühjahrswinde wehen über das Hochgebirge. Die Wildgänse haben ihre Streifzüge begonnen. Erst in neun Monaten gibt es wieder Eis, und in zehn Monaten wird es vielleicht tragen.«

»Tsembe und Ngurbu Tanduk haben, wenn sie so knapp wie möglich leben, für acht Monate Lebensmittel. Sobald der Herbst kommt, müssen sie verhungern.«

»Wenn nächsten Winter, das Eis trägt, wollen wir mit Lebensmitteln zu ihnen hinübergehen.«

»Dann ist es zu spät!«

»Vielleicht auch nicht. Aber weshalb erwähnst du nur zwei Eremiten? Wo ist Angdu? Erzähle nun endlich, was geschehen ist.«

Mit betrübter Miene starrte Namgjal ins Feuer und berichtete alles, was ich über das Schicksal der Eremiten bereits mitgeteilt habe. Als er ans Ende kam, zu dem Augenblick, als ihn die Brandung ans Ufer geworfen hatte, wurde es draußen Tag. Namgjal sah das Licht durch den Rauchfang hereindringen und fragte: »Ihr habt also Angdus Leichnam nicht gefunden?«

»Nein. Aber aus deinem eignen Bericht geht ja hervor, daß du weit vom Lande entfernt warst, als du ihn aus dem Gesicht verlorst.«

»Als ich Angdu das letztemal sah, hatte er angefangen unterzusinken. Aber er kann später ans Land getrieben sein. Sucht ihn! Er verdient es, in Kumbum seine Grabpyramide zu erhalten. Er hat mehr gelitten als irgendeiner von uns. Ich möchte ihn auf dem Scheiterhaufen verbrennen sehen. Ich möchte sehen, wie das Seewasser in seinen Lumpen verdampft und sein ausgemergelter Körper zu Asche verwandelt wird. Ich möchte, eine Almosenschale in der einen Hand und eine Urne mit seiner Asche in der andern, zu Fuß den langen Weg nach Kumbum gehen und mich von Zelt zu Zelt weiterbetteln.«

Ich bot so viele Leute auf, als wir in der Nähe des Lagers hatten, und wir suchten den ganzen Tag am Strande. Aber Angdus Leichnam wurde nicht gefunden. Am Abend kehrte ich zu Namgjal zurück und sagte ihm, sein Kamerad sei und bleibe verschwunden.

»Dann ist es also doch vielleicht wahr,« antwortete Namgjal, »was ich neulich nachts träumte. Ich träumte, Angdus Geist käme in mein Zelt zu Besuch und sagte:

›Traure nicht um mein Geschick, Bruder! Ich hatte einen harten Kampf zu bestehen, bis ich endlich frei wurde. Als ich auf deine Eisscholle hinaufgeschleudert wurde, war meine Seele noch an meinen Leib gefesselt. Dann sank ich in die Tiefe. Ich sah dich über mir auf den Wellen schaukeln, als segeltest du auf einer Wolke, die der Wind entführte.

›Das grüne Wasser wurde um mich herum immer dunkler. Plötzlich kam ein Wunderwesen auf mich zugeschwommen. Ich begriff, daß es der Drache war. Sein Leib war mit grünen Schuppen bedeckt, er hatte gewaltige Klauen, und der Schlag seines Schwanzes wirbelte das Wasser auf. Sein Gesicht entsetzte mich. Er ergriff mich mit den Klauen und schleppte mich in seine Burg, da, wo der See am tiefsten ist. Die Türen standen offen, und blendendes Licht strömte aus ihren Sälen heraus. Der Drache schwamm mit seiner Beute hinein, und die Türen schlugen zu. Zu beiden Seilen standen Säulen aus Saphir und Türkis, der Boden aber und die Decke waren aus durchsichtigem Gold, von dem das Licht auszustrahlen schien.

›Der Drache stieß einen zischenden Laut aus, und eine Menge Seegeister mit Untierköpfen, menschlichen Oberkörpern und Delphinenschwänzen schwammen zwischen den Säulen hervor. Auf ein Zeichen des Drachens brachten sie mich an eine Felswand, an deren malachitfarbenen Abhang sie mich mit Klammern und Ketten aus Gold festschmiedeten, als wollten sie mein Elend und meine Armut verhöhnen.

›Die schiefen Augen des Drachens funkelten, er öffnete seinen blutroten Rachen und brüllte:

›Hab ich dich nun endlich, den Lumpen, der meine Macht verhöhnt hat! Der Tempel auf der Insel ärgert mich, aber an Felsen, die die Sonne bestrahlt, kann ich nicht heran. Nur unter dem Wasser ist mein Reich. Du hast meinen Werkzeugen, den Wellen, getrotzt, du hast meinen Tummelplatz, den See, verflucht. Nun sollst du den Lohn für deine Vermessenheit ernten. In alle Ewigkeit sollst du an den Felsen festgeschmiedet sein. Deine menschlichen Sinne sollst du behalten. Sie sollen dein Leiden verstärken. Eine ewige verzehrende Sehnsucht soll dich quälen. Du sollst fühlen, wie dich das Wasser umfließt, wenn die Tore sich auftun. Kein Sonnenstrahl soll dich erreichen, und vom Sternenschein hast du für immer Abschied genommen. Hier unten gibt es keinen Wechsel von Tag und Nacht, deine Augen aber sollen von dem ewigen Licht ermüden, und du sollst nicht einmal in der Blindheit Trost finden. Ich und mein Volk, die Seegeister, werden mit Freuden deine Qualen genießen.‹

›Darauf antwortete ich in dem Gefühl, daß für meine Seele die Trennungsstunde geschlagen hatte:

›Blähe dich in feigem Übermut, verfluchter Fürst des Abgrunds! Die Grenzen deines Pfuhls sind eng. In den lichten Gefilden außerhalb deiner Grenzen bist du machtlos. Ich gönne dir die Freude, Zeuge des Verfaulens meines elenden Körpers zu sein. Dieser Anblick ist deiner würdig. Über meine Seele aber vermagst du nichts.‹

›Das rasende Untier wand sich vor Zorn und nahte sich mir mit Schlangenbewegungen. Ich aber sah nichts mehr; denn jetzt befreite sich meine Seele und trat endlich ihre Wanderung an.

›Nun bin ich unterwegs nach dem nächsten, vielleicht dem letzten Glied in der Kette der Seelenwanderung. Traure daher nicht um mich, denn ich bin glücklicher als du.‹

* * *

Einige Tage darauf kam Namgjal an mein Zelt und sagte:

»Ich verlasse dich jetzt, Häuptling. Du hast mir eine Freistatt in deinem Lager gewährt. Die Götter mögen dich dafür belohnen. Möge auf deinen Wiesen das Gras üppig wachsen! Mögen deine Herden gedeihen und sich vermehren! Mögen keine Wölfe deine Schafe und Ziegen zerreißen, keine Wegelagerer deine Ruhe stören! Wenn der Herbst kommt, verschmachten meine Brüder auf der Insel. Denk an ihr einsames Leben an den langen Tagen mit den dunkeln Abenden, an ihre Sehnsucht in kalten Nächten! Wenn das erste Eis gefroren ist, gehe ich hinüber, ihnen zu helfen. Du kannst mich zu Anfang des Winters zurückerwarten.«

Hier schaltete der Häuptling für Tsangpo Lama die Bemerkung ein:

»Der Winter, von dem er sprach, steht nun vor der Tür. Er kann jeden Tag kommen – wenn er nicht gestorben ist.« Dann fuhr der Häuptling fort:

»Ich gehe nun nach Labrang«, erklärte Namgjal.

»Das übersteigt deine Kräfte«, antwortete ich. »Ich werde dir Begleiter und Pferde stellen.«

»Ein Büßer, ein Eremit, geht nur zu Fuß. Ich wandere einsam von Zelt zu Zelt. In dem Kloster von Labrang verbleibe ich die warme Jahreszeit. Wenn ich nicht hier bin, sobald der See zufriert, kannst du annehmen, daß ich tot bin. Dann ist meine Bitte, daß du schleunigst den armen Eremiten Hilfe bringst.«

»Du weißt, daß du uns nicht darum zu bitten brauchst.«

Er nahm von uns Abschied, ergriff Wanderstab und Almosenschale und verschwand auf dem Weg, der nach Labrang im südlichen Amdo führt.

Hier unterbrach Tsangpo Lama den Häuptling mit der Frage:

»Hast du nichts von Namgjal gehört, seit er vor acht Monaten von deinem Zelt aufbrach?«

»Kein Wort.«

»Und er kann jeden Tag hier erwartet werden?«

»Noch ist es zu früh. Es dauert mindestens noch einen Monat, bis das Eis trägt. Aber er kommt rechtzeitig.«

»In diesem Monat verhungern die beiden Eremiten. Jetzt muß ihnen Hilfe gebracht werden.«

»Auf dem Blauen See gibt es kein Boot und hat es nie eins gegeben. Aber der See kann eher zufrieren als sonst. Alles deutet auf einen kalten, frühen Winter. Hinter Dulan-kitt sind in diesem Herbst die Bären früher als sonst aus dem Gebirge herabgekommen, um Beeren zu fressen. Die Wildgänse sind nicht so lange geblieben wie sonst. Der See kann vielleicht in einer Woche zufrieren. Die Nomaden glauben jedoch allgemein, daß die Einsiedler bereits gestorben sind.«

»So wahr Buddha lebt, ich werde ihnen helfen!« rief Tsangpo Lama aufspringend.

»Das ist unmöglich«, erwiderte der Häuptling. »Du hörst die nächtliche Brandung gegen das Ufer rauschen.«

»Ich werde sie retten! Namgjal kann gestorben sein. Aber nun wollen wir erst einige Stunden schlafen. Die Nacht geht zu Ende.«


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