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6.
In der Wüste

Die letzte Nacht bei Wangjefu gewährte den Pilgern nur wenig Ruhe. Das Stimmengewirr wollte nicht verstummen. Die Rufe der Treiber, die ihre Tiere hereinbrachten, durchschnitten die Luft. Pferde, die sich nicht einfangen ließen, sprangen im Lager umher, stolperten über Stricke und rissen dies und jenes Zelt um zum großen Ärger derer, die in ihrem Morgenschlaf gestört wurden. Mürrisch brüllten Kamele ihre Hüter an, und alle Hunde bellten, als wären Diebe dabei, ihr Handwerk auszuüben.

Kaum hatte es angefangen zu dämmern, als auch schon der erste Kanonenschuß über die Einöde hallte. Die Schläfer fuhren empor, das Stimmengewirr nahm zu. Wie dunkle Schatten sah man die Kamele in langen Reihen zwischen den Zelten ziehen. Verdrießliche Laute quollen aus ihren Kehlen, wenn sie auf die Knie gezwungen und die Lasten auf ihre Rücken gehoben wurden.

Es wurde hell. Ein Zelt nach dem andern wurde abgebrochen, mit seinen Stangen und Seilen zusammengerollt und auf die Tiere geladen. Reisefertige Kamele erhoben sich in heftigen Rucken, wenn der Treiber die Halfter faßte und einen mahnenden Zischlaut ertönen liefe. Da gellten die Glocken am Halse. Häuptlinge und Lamas saßen bei einer Schale Tee wartend am offenen Feuer, während die Diener die Reitpferde heranführten.

Die Sonne ging auf. Die Häuptlinge erhoben sich. Ihre Teeschalen wurden in Ledersäcke gepackt, die den Lastkamelen aufgeladen wurden. Die Karawanenabteilungen der verschiedenen Stämme standen bereit, und die Kamele waren nach Süden gerichtet. Schagdur Lama half dem alten Prior in seinen Baschlik und war bereit, ihm den rechten Steigbügel zu halten, wenn er seinen achtzigjährigen Leib in den Sattel hob.

Nun erklang das Signal zum Aufbruch! Alle schwangen sich in die Sättel der Pferde. Die auf Kamelen ritten, kletterten auf die Spitze der Last hinauf. Greise und Frauen machten es sich zwischen den Höckern bequem, während die Tiere lagert. Reiter, die die Marschordnung überwachten, ritten umher, um aufzupassen, daß die einzelnen Stämme den richtigen Platz im Zuge einnahmen.

Die luftige Stadt, die noch eben die Steppe belebt hatte, war dem Erdboden gleichgemacht worden. Sie war eingepackt und sollte binnen kurzem an anderer Stelle wieder errichtet werden. Kleine Gruppen von Ala-schan-Nomaden mit ihren Frauen und Kindern sahen dem Aufbruch zu. Sobald der Lagerplatz geräumt war, wollten sie offenbar nach zurückgelassenen Gegenständen suchen.

Jetzt erklang in der Ferne regelmäßiger Glockenklang. Es waren die schwarzen Tibeter, die an der Spitze marschierten; sie waren begleitet von den Mandarinen, die große runde Brillen aus Bergkristall trugen und in bunte Gewänder und kostbare Pelze gekleidet warm. Dann folgten die Tsacharen, die ihr Häuptling anführte. Neben diesem ritt der Prior von Jehol, gefolgt von sechs Lamas und mehreren vornehmen Pilgern des Stammes. Hinter ihnen schritten ihre hohen, schweren Kamele mit den Führern und Reitern. Tsangpo Lama überwachte Aufbruch und Marschordnung und schwang sich schließlich selbst aufs Pferd. Hinter sich hörte er das Klingeln der Glocken, die verkündeten, daß auch die Chalchamongolen marschbereit waren.

Der langsame Gang der Kamele bestimmte das Marschtempo der wandernden Gemeinde. Für die Reiter zu Pferd bedeutete dieses Tempo eine Geduldsprobe. Sie kehrten sich auch nicht lange an die festgesetzte Reihenfolge. Man sah sie einzeln oder in Gruppen reiten, die sich beständig veränderten. Bald ritten sie voraus, bald hielten sie bei Freunden und Bekannten in den nachfolgenden Abteilungen. Einige sprangen neben der Straße ab, machten sich's auf dem Boden bequem und holten Fleisch und Brot hervor, das sie am Morgen nicht hatten verzehren können. Dann zündeten sie in aller Ruhe ihre Pfeifen an, streckten sich ins Gras und ließen eine Kamelreihe nach der andern vorüberziehen, bis sie sich wieder mit schlenkerndem Gewehr und rasselndem Gehäng in den Sattel schwangen, um im Galopp an ihren Platz zurückzukehren.

Die Tibeter waren schon eine gute Stunde unterwegs, als die Solonen erst aufbrachen. Die Straße verlief in einem sanft geschwungenen Bogen, und man konnte daher von jedem Punkte aus den gewaltigen Zug vom Anfang bis zum Ende überblicken. In der graugelben Wüste nahm er sich aus wie eine schwarze Schlange. Aus einiger Entfernung erschien die ganze schwarze gekrümmte Linie fast unbewegt, so langsam schritten die Kamele. Sie schaukelten Schritt für Schritt vorwärts, und die Luft erklang vom Glockenläuten.

Auch die Reihenfolge der Kamele konnte nicht unverändert eingehalten werden. Bald hier, bald da lockerte sich eine Last und mußte wieder festgebunden werden. Dann wurde ihr Träger beiseitegeführt und mit ihm alle Kamele, die zur selben Reihe gehörten. Wenn die ganze Ladung umgepackt werden mußte, konnten hundert Kamele vorüberziehen, bis das aufgehaltene wieder fertig war. Zurückgebliebene Abteilungen gab es an mehreren Stellen, und manchmal gingen drei Kamelreihen nebeneinander.

Auch Tsangpo Lama behagte es auf die Dauer nicht, in langsamem Schritt als Letzter seines Stamms zu reiten. Er hielt, bis die ganze Karawane vorübergezogen war, und ritt dann im Trab nach der Spitze, hier und da das Tempo verlangsamend, um dem Gespräch der Pilger zu lauschen oder daran teilzunehmen.

Er hörte die Solonen ein Lied singen von den Beschwörungskünsten der Schamanen gegen Hexen und Kobolde in den Wäldern am Argun; dabei schwangen sie unablässig ihre Gebetmühlen.

In einer Reitergruppe hörte er einen Lama von den beschwerlichen Wegen erzählen, die die Pilger in den Gebirgsgegenden von Tang-la erwarteten, wo Schneeberge von schwindelnder Höhe sich wie Wunderwerke über der Straße erhöben und wo kein Grashalm zu entdecken sei.

»Glaubt nicht, daß es den ganzen Weg so einfach ist wie hier«, sagte er. »Je weiter wir kommen, um so schlimmer wird es, besonders wenn wir den Koko-nor, den Blauen See, hinter uns haben. Während einiger Wochen Wegs hinter ihm treffen wir nur Räuber. Dann kommen wir durch ein Gebiet, in dem jede Spur von lebenden Wesen fehlt. Dort ist es öder als hier in der Wüste. Immer heult Sturm, und stiebender Schnee fliegt wie Staub in schneidender Kälte. Sind wir erst glücklich über den Tang-Ia hinüber, so treffen wir wieder Nomaden, und unsere Reise wird leichter.«

Tsangpo bemerkte, daß die Zuhörer, wenn der Erzähler von Räubern und ihren Überfällen sprach, immer eifriger ihr Om mani padme hum murmelten und ihre Gebetmühlen schwangen.

»Wie oft, Herr Lama, bist da diesen Weg gereist?« fragte ein Pilger.

»Dreimal habe ich die Wallfahrt ausgeführt, und dreimal bin ich in meinen Tempel an der Großen Mauer zurückgekehrt.«

»Hast du mit Tanguten zu tun gehabt?« warf ein anderer ein.

»Ich selber habe Glück gehabt. Aber ich bin bei Pilgerkarawanen gewesen, denen ihre Pferde gestohlen wurden. Indem wir unablässig unsere Gebetmühlen schwangen und die Kugeln unserer Rosenkränze drehten, kamen wir selber mit heiler Haut davon. Es ist gut, eine so starke Bedeckung zu haben wie wir.«

»Aha,« dachte Tsangpo, »also sind doch die Feuerwaffen die Hauptsache! Die Gebetformel reicht nicht zu, wenn es im Gebirge von schwarzen Tanguten wimmelt.«

Er ritt weiter nach der Spitze zu und belauschte andere Gespräche. In den meisten drehte es sich um die Wallfahrt und ihr Ziel; die Lamas traten immer als Sachverständige auf und waren Gegenstand besonderer Achtung. Andere unterhielten sich und ihre Kameraden von irdischen Dingen. Einige berichteten, wie viele Säcke Tsamba, wieviel Dörrfleisch, Tee oder Salz sie mitgenommen hatten; andere kamen in ihren Gedanken nicht weiter als bis zum Nachtlager und tischten in der Phantasie bereits ihre Mahlzeit am Feuer auf. Ein munterer Mongole aus dem Zeltlager der Chalcha erklärte, er wolle zu Ehren des ersten gemeinsamen Wallfahrtstages ein Schaf schlachten.

»Die Schafe werden doch mager vom Marsch, und die Weide ist schlecht. Ich habe zwanzig Schafe mit und außerdem Dörrfleisch für zwei Monate. Bei den Nomaden am Blauen See kann ich meine Vorräte erneuern. Heute abend aber spendiere ich eines der fettesten von meinen Schafen. Wenn das gekochte Fett der Nieren, gehörig gesalzen, mir auf der Zunge zergeht, werde ich leicht alle Beschwerden der Reise ebenso vergessen wie die Tangutengefahr.«

»Höre, Bruder,« warf ein anderer scherzend dazwischen, »wenn du mich heute abend zu Gaste lädst, werde ich dir zeigen, wie die Türken in Korla das fette Schaffleisch über glühender Kohle am Spieß braten.«

Tsangpo ritt an einem Stamm nach dem andern vorüber, überholte seine Leute, die Tsacharen, die Chinesen und schließlich die Tibeter. Er verlangsamte seinen Ritt erst, als er den Anführer des ganzen Zugs erreicht hatte, Terge Ritschen, einen Tibeter, an dessen gabelförmiger Gewehrstütze ein roter Wimpel angebracht war, und der neben zwei in der Tengeriwüste beheimateten Ölöten als Wegweiser und Lotse diente.

»Wo lagern wir heute abend?« fragte Tsangpo.

Der Tibeter zeigte nach Süden und sagte:

»Siehst du dort die dunkeln Tamarisken; bis zu ihnen dringt kaum der Knall eines hier abgefeuerten Büchsenschusses. Dort sprudeln reichliche Quellen, die einen Fluß bilden. An den Quellen schlagen die Chinesen ihre Zelte auf und den Bach entlang die andern, soweit das Wasser reicht.«

»Es reicht also nicht für alle?«

»Nein. Aber auch dein Volk hat vermutlich aus dem Lager bei Wangjefu in Ziegenhäuten Wasser mitgenommen. In der Nacht steht es allen frei, ihre Schläuche zu füllen.«

»Wie ist es mit der Weide?«

»Nicht schlecht. Die Kamele können vor Sonnenuntergang sich an Gras und Disteln satt fressen. Dann müssen sie bei den Lagern, zu denen sie. gehören, festgebunden werden. Die Pferde können die ganze Nacht draußen sein unter Aufsicht ihrer Wächter, damit sie nicht verwechselt werden oder zu weit vom Lager weglaufen.«

Jetzt kam ein von seinem Dolmetscher begleiteter Chinese zu Terge Ritschen und richtete an ihn einige Fragen. Dann begab er sich mit seinen Landsleuten im Galopp nach den Tamariskenquellen, wo sie von den Pferden sprangen. Die Tibeter zogen bis zu einem Punkt unterhalb des Lagers der Chinesen; noch ein Stück weiter unten schlugen die Tsacharen ihre Zelte auf. Ein Stamm nach dem andern kam an den Fluß heran. Die Kamele wurden von ihren Lasten befreit, die auf leichten, sägebockähnlichen Holzgestellen festgebunden waren. Nur Sachen, die man zum Nachtlager brauchte, wurden herausgenommen, wie Zelte, Decken, Pelze, Töpfe, Kannen, Proviant, Hausaltäre und dergleichen.

Die Pferde wurden sofort auf die Weide gelassen und wie gewöhnlich von ihren Wächtern begleitet, die die Nacht bei ihnen zubrachten. Die dunkeln Zeltkuppeln der Tsacharen und der andern Stämme erhoben sich zwischen den Tamarisken am Ufer des Baches. Kaum waren die verschiedenen Zeltdörfer fertig, so stieg auch schon eine Reihe Rauchsäulen zwischen ihnen empor. Nur alte Pilger und Frauen zogen es vor, ihre Feuer im Innern der Zelte zu haben. Sie wurden unmittelbar unter dem Rauchfang angezündet, und darüber wurde der Topf mit dem Wasser gestellt, der entweder auf drei Steinen ruhte oder auf der Tolga, einem eisernen Gestell. Daneben lag ein Blasebalg aus Ziegenhaut.

Die Einrichtung der Zelte war einfach – man wollte ja am nächsten Morgen wieder aufbrechen. Dem Eingang gerade gegenüber stand der Hausaltar mit seinen Burchanen und Öllampen. Vor dem Herde lagen Haufen von Tamariskenreisig. Das Küchengeschirr, Töpfe, Kupfertiegel mit Deckeln, Teekannen aus Messing, Löffel aus Eisen und Holz, mit Wasser gefüllte Ledereimer und Holzschalen für die Tsamba boten am Herd ein Bild malerischer Unordnung. An den Zeltwänden hingen Schafskeulen und -rücken. Zum Abendessen wurden mit Fett oder Butter gefüllte Schafsdärme in dünne Scheiben geschnitten, die mit Tee und geröstetem Gerstenmehl zu Tsamba zusammengerührt wurden. Zwischen dem Herd und den Zellwänden hatten die meisten Mongolen Filzteppiche ausgebreitet, auf denen sie nachts in Pelzen schliefen.

Lebhafte, abwechselnde Bilder sah das Auge, wohin es blickte. Man hätte sich auf einen wandernden Markt versetzt denken können. Hier wurde gefeilscht und getauscht, dort lieh man sich Äxte, Spaten und Sägen. Man hämmerte und tischlerte auf Sattelgestellen und Packsätteln, man besserte zerrissene Zelte aus und nähte Satteldecken. Hausierer, die selber Pilger waren, boten ihre Waren an. Vor offenen Schmieden beschlugen wettergebräunte Reiter ihre Pferde. Einige würfelten, andere lauschten den Geschichten der Märchenerzähler, wieder andere drehten Schnuren aus Schafwolle, während duftende Dämpfe kochenden Fleisches aus brodelnden Töpfen aufstiegen.

Bei seinem Stamm war Tsangpo Lama allgemein beliebt, und in dem gewaltigen Lager kannten alle seinen Namen. Er hielt Ordnung und Sitte aufrecht, er beschäftigte die Pilger und erzählte ihnen seine Erlebnisse, er veranstaltete Pferderennen und pflegte die Kranken im Verein mit den besten Medizinmännern der Karawane. Seine Fürsorge erstreckte sich auch auf die Tiere, und er duldete keine Härte oder Grausamkeit gegen sie.

Er hatte sein einundzwanzigstes Lebensjahr vollendet. Wohl wies er die charakteristischen Merkmale der mongolischen Rasse auf, aber er sah hübsch aus, hatte lebhafte, braune Augen und eine von der Sonne bronzebraun gebrannte Haut. Den Kopf trug er hoch wie seine Väter, die auf dem chinesischen Thron gesessen hatten. Sein Körper war ebenmäßig gebaut, gelenkig und kräftig. Beim Reiten pflegte er einen Lamamantel aus rotem Tuch zu tragen, einen breiten Ledergürtel mit silbernen Schnallen um den Leib und eine Zobelfellmütze, die sich nach oben zu einem roten Mützenkopf erweiterte.

Als er in der Dämmerung an einem Feuer saß und sich mit einigen Pilgern unterhielt, hörte er in der Nähe die tiefen Töne eines Schneckenhorns. Er stand auf und ging den Tönen nach. Es war Schagdur Lama, der vor dem Zelt des Priors zum Abendgottesdienst rief. Als er eben im Begriff war einzutreten, sah er zwei Gestalten hinter dem Zelt zwischen den Tamarisken verschwinden. Er eilte ihnen nach, holte sie aber nicht ein. Es streiften ja Pilger und Karawanentreiber überall umher; vermutlich waren es nur ein paar Neugierige.

Er kehrte daher nach dem Zelt des Priors zurück, wo er von dem Alten willkommen geheißen wurde. Auf den Ruf des Schneckenhorns hatten sich die vier Lamas der Tsacharen eingefunden. Alle sieben Mönche setzten sich auf den Teppich, das Gesicht dem Altar zugewandt, neben dem der Prior Platz nahm. Er hielt ein großes Buch aus losen Pergamentblättern auf den Knien und eine Klingel in der Hand. Tundup Lama nahm eine Trommel von der Wand und fing an, ihr gespanntes Fell mit dem schwanenhalsförmigen Trommelstock zu bearbeiten. Feierlich hallten die Schläge im Rund des Tempelzeltes wider, das von den vor den Burchanen stehenden brennenden Dochten matt erleuchtet wurde. In der Mitte saß Buddha Sakjamuni, der Einsiedler aus Sakjas Stamm, mit halb geschlossenen Augen, wie immer lächelnd und sinnend; es war ein Bildwerk aus gediegenem Gold von der Größe einer Faust.

Der Prior klingelte und las singend aus dem Buch vor. Als er schwieg, begannen die Mönche hastig ein Lied zu murmeln, das der Prior von Zeit zu Zeit durch die mystischen Rufe » om« und » hum« unterbrach, die sofort den Takt und die Klangfarbe des Gesanges der Brüder veränderten. Die beiden Lampen auf dem Altartisch leuchteten wie die Augen eines Raubtiers.

Der Prior erhob sich. Er ergriff ein viereckiges Stück Zeug, auf das er die heiligen Silben geschrieben hatte, und forderte alle sieben Lamas auf, mit ihm auf den Obo, den Opferhügel, hinaufzugehen, der sich etwa hundert Schritt vom Zelt entfernt erhob. Er bestand aus einigen in den Boden gesteckten, zusammengebundenen Stangen, an denen rote, weiße oder gelbe Wimpel angebracht waren, alle mit den üblichen Schriftzeichen. An einer der Stangen wurde die neue Opfergabe befestigt. Die Wimpel flatterten leise im Abendwind, der ihre Gebete weitertrug. Der Obo sah in der zunehmenden Dämmerung unheimlich aus – wie das Wrack eines Gespensterschiffs, das die Notflagge auf dem Meer der Wüste gehißt hatte. Den Mönchen war unbehaglich zumute. Sie waren darauf gefaßt, daß irgendein teuflisches Wesen aus diesem Stangenhaufen hervorkriechen werde, der sich zu bewegen und zu flüstern schien. Es waren aber nur die Wimpel, die im Wind flatterten und raschelten.

Gern folgten die Jüngeren dem Prior, als er umkehrte und nach dem Lager zurückging. Vor ihnen glühten die Lagerfeuer wie eine Perlenkette. Es sah aus, als seien in einer Stadt alle Lampen und Lichter angezündet. Rings um diese Stadt breitete sich die unermeßliche Wüste in ihrer geheimnisvollen Stille und Einsamkeit!

Die kleine Schar lenkte ihre Schritte nach dem Tempelzelt. Der Vorhang wurde beiseitegeschoben, der Alte trat ein, und die andern folgten. Auf dem Altartisch brannten noch die Raubtieraugen der beiden Lampen, aber das goldne Buddhabild war verschwunden!

Bestürzt sahen sich die Brüder an. Das war der Abschluß der ersten Tagereise der Wallfahrt! Ein schlimmes Vorzeichen! Bedeutete es, daß der Prior sterben und nicht das Reiseziel erreichen werde?

Der Alte selbst nahm die Sache ruhig.

»Wahrscheinlich ist Schagdur oder Tundup so vorsichtig gewesen, das Bild in einer der Kisten zu verwahren, während wir nach dem Obo gingen.«

Nein, es war nach beendigtem Gottesdienst auf seinem Platz stehengeblieben. Niemand hatte daran gedacht, es zu verwahren.

»In einer Pilgerkarawane gibt es keine Diebe«, meinte der alte Medizinlama der Tsacharen.

»Gibt es nicht?« rief Tsangpo Lama. »Weshalb nicht! Was wissen wir von allen diesen Kalmücken, Torguten und Solonen, was von den zerlumpten Kerlen, die ihre Kamele bewachen? Das Gold des Buddhabildes ist zwanzig Kamele wert. Als ich bei Eintritt der Dämmerung von den Tönen des Schneckenhorns ins Tempelzelt gerufen wurde, sah ich zwei Schatten hinter den Tamarisken verschwinden. Ich eilte ihnen vergebens nach. Jetzt bin ich über sie im reinen. Es wäre unklug, sofort eine Untersuchung im ganzen Lager anzuordnen. Diebesgut kann vergraben werden, bis der Dieb sich sicher fühlt. Es ist besser, ihn zu überraschen, wenn er es am wenigsten erwartet.«

Der Prior verlor seine Ruhe nicht. Lachend öffnete er eine seiner Kisten und entnahm ihr einen andern goldschimmernden Buddha, den er auf den leeren Platz stellte. Dieser Buddha aber war aus vergoldeter Bronze.


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