Gerhart Hauptmann
Wanda
Gerhart Hauptmann

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Nun hieß es für Haake, um jeden Preis von Wanda loszukommen. Daß er die Försterstochter heiraten würde, war für ihn ausgemacht. Dunkle Ahnungen hauchten ihn mit dem Gedanken an, es würde sogar vielleicht notwendig sein, wenn er nicht eines Tages vor Ronke als wirklicher Halunke dastehen wollte. Von dem im Grunde immer einsamen, innerlich scheuen Manne, der außer Willi Maack keinen Freund hatte, wurde dieser zuletzt ins Vertrauen gezogen. Nochmals fand alsdann eine Konferenz mit dem Anwalt statt, und er stimmte zu, daß der Architekt nach dem Städtchen Zobten abgeordnet wurde, wo augenblicklich der Zirkus Flunkert sein Wesen trieb, und den Versuch machte, Frau Wanda Haake, geborene Schiebelhut, für einen Vergleich umzustimmen. Er kam sehr schnell mit der seltsamen Nachricht zurück, sie sei zu einem Vergleiche bereit, Haake möge nur selber kommen und alles mündlich mit ihr verabreden. Auf diese Art ließe sich in zwei Minuten mehr erreichen als in einem Jahr durch die Anwälte, deren Vorteil es sei, die Sache nach Möglichkeit zu verschleppen.

Man überlegte lange, ob dies der einzige Ausweg wäre, da Haake ihn nicht betreten wollte und vor jeder Begegnung mit Wanda zurückschauderte. Ohne daß man darüber schlüssig geworden war, erhob sich Haake jedoch eines Morgens um zwei Uhr während einer schlaflosen Nacht und befand sich zwei Stunden darauf in dem einzigen Gasthof des Städtchens Zobten, in dessen Räumen ein Ball der Bürgerressource noch in vollem Gange war. Als Haake erschien, hob ihn sein Äußeres dermaßen ein, daß sich sehr bald der Vorstand dieser geschlossenen Gesellschaft auf ihn stürzte und ihn aufs herzlichste zur Beteiligung an dem Tanzvergnügen aufforderte. Die befrackten Dickbäuche führten den Bildhauer in den Saal, obgleich er nur straßenmäßig gekleidet war; er nahm an einem der Tische Platz, die hier und da an den Wänden standen, bestellte Kaffee und zündete seine Zigarre an.

Die Verfassung des Bildhauers war die seltsamste. Noch vor zwei Stunden wälzte er sich, von Sorgen gequält, hoffend, fürchtend, verzweifelnd, im Bett herum, die Haut wie von Ameisen überkrochen, dann kamen Nachtdroschken, erleuchtete Wartesäle mit schläfrigen Menschen, der Dampfpfeifenlärm der nächtlichen Bahnhöfe, das leere Kupee, der Dampf und die Drähte, die vor dem Fenster auf und ab stiegen, und schließlich eine Fahrt mit Bauernpferden durch schlafende Dörfer und einsame Landschaften, durch eine von Regengeriesel und Windstößen schwangere Finsternis. Nun saß er hier im erleuchteten Saal und nahm am Ausgang eines Vergnügens teil, das ihn hauptsächlich deshalb anzog und belustigte, weil es einen so trübseligen Eindruck machte.

Es lag ihm fern, sich über die bebänderten Schönen in weißen und farbigen Mullkleidchen – alte und junge, die alle indes noch zu haben waren – lustig zu machen. Sie schwitzten. Die Schärpen waren zerknüllt, die Frisuren hatten den Halt verloren. Es half nichts mehr, sie durch Greifen und Befingern zurechtzurücken. Das alles war eine Selbstverständlichkeit. Die jetzt noch tanzenden Paare waren die unersättlich Ausdauernden. Sie wurden rettungslos vom Geschmetter der Blechmusik, aber doch wie Nachtwandler, aufgescheucht und drehten sich wie mechanische Spielzeuge. Das Mädchen schlief an des Tänzers Brust. In den anstoßenden Gastzimmern war es lebhafter. Lärm und Gegröle von dorther verriet, daß das im Saale schon welke Vergnügen hier an vielen Tischen durch unentwegtes Begießen in feurigster Blüte erhalten wurde. Kein Wunder, wenn Haake, nüchtern und von eigenen Sorgen gequält und erregt, in diese Umgebung hineingeschneit, sie als fremd und phantastisch empfinden mußte.

Ich erlebe hier eine ganz gewöhnliche Sache, dachte er. Aber der außergewöhnliche Zustand, in dem ich bin, dazu die außergewöhnliche Stunde, die Nähe der ungeheuren Wahrscheinlichkeit, mit Wanda zu reden, Wanda wieder mit Augen zu sehen, diesen verdammten Zirkus Flunkert, von dem ich mit einer Art Drehkrankheit infiziert worden bin, das alles läßt diese Umgebung in einem magischen Lichte aufdunsten. Wäre ich nach Bombay verschlagen oder in den Keller eines Tempels des alten Mexiko, wohnte einer Witwenverbrennung oder einem rituellen Tanze bei, bei dem das Absurdeste vorginge, mir könnte nicht fremder, aufgepeitschter, traumhafter zumute sein.

Warum schwöre ich mir eigentlich in diesem Augenblick, denkt er weiter, mich von Wanda loszulösen? In drei Teufels Namen, ich habe mich ja doch längst von ihr losgelöst! Als ich eben über den Marktplatz fuhr, vermutete ich, infolge gewisser Geräusche, in nächster Nähe das Zirkuszelt. Es klang wie Regengeriesel auf Zeltbahnen. Oder habe ich nicht die ganze runde, oben spitze Masse deutlich erkannt? Es war ja auch Licht in den grünen Wagen. Meinethalben! Es mag auch sein, daß ich eines der kleinen Liliputanerhäuschen, die um den Marktplatz stehen, für einen Wagen genommen habe. Aber da waren die kleinen Laternen, die unter dem Langbaum befestigt sind. Er machte Gesten, wie wenn er etwas wegscheuchte. Er hörte ein Rascheln in der Brusttasche. Er griff hinein, zog einen Brief heraus, den er am Tage vorher von Marie Ronke erhalten hatte, und vergaß, in den Inhalt vertieft, wo er war. Welche kräftige Hand! Welche mutigen Grundstriche!

Haake sah auf. Er faßte ein tanzendes Paar ins Auge, das durch seine Gegensätzlichkeit merkwürdig wurde. Ein fadendünnes, kindhaftes Mädchen drehte sich mit einem kleinen Dickbauch von Stadtrat im Kreise herum. Die beiden beschäftigten seinen nach innen gekehrten Geist aber nur einen Augenblick, wenn er sie auch leeren Blickes noch lange anstarrte. Als die Tänzerin mitten im Saale innehielt und ihren verdutzten Tänzer verließ, wurde der Bildhauer aufmerksam. Dann kamen schnelle und grelle Erleuchtungen über ihn, als die Tänzerin ihn zum Ziele nahm und ihn scheinbar, wie etwa bei Damenwahl, zum Tanze abholen wollte. Endlich stand sie ihm dicht gegenüber, womit, in einem taghellen Blitz, Wanda selber wiedergeboren ward, seine durchgebrannte Geliebte und sein Weib, das in kindlicher Wiedersehensfreude schon an seinem Halse hing.

 


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