Gerhart Hauptmann
Wanda
Gerhart Hauptmann

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Zweites Buch

Erstes Kapitel

Am ersten Oktober schritten zwei gutgekleidete Männer auf den Freiburger Bahnhof in Breslau zu, um über Berlin, Frankfurt, Basel, Mailand nach Florenz und Rom zu reisen. Es waren Paul Haake und Willi Maack.

Der Bildhauer hatte arbeitsreiche Monate hinter sich. In Atelierräumen, welche die Stadt seinen bisherigen hinzufügen mußte, standen große Tonfiguren, die augenblicklich in Gips abgeformt wurden. Auf Kosten der Stadt ging er nun nach Rom, wo ihm, ebenfalls auf Betreiben des Magistrats, staatliche Arbeitsräume zur Verfügung gestellt waren.

Die Reise des Architekten war nur auf etwa sechs Wochen geplant. Er gedachte viel zu zeichnen, noch mehr zu sehen von italienischer Architektur und Kunst, während in seinen Büros seine Pläne zu einigen umfangreichen öffentlichen Bauten, die man ihm anvertraut hatte, durch tüchtige Bauführer ausgearbeitet wurden. Mit dem Zustande seines Freundes durfte der Architekt wohl zufrieden sein. Es waren Werke entstanden, die ihn beglückten und zur Bewunderung hinrissen. Es sollten in Rom die Entwürfe und Modelle zu einem Monumentalbrunnen während des kommenden Winters ausgeführt werden, einem Werk, das man auf dem Platze hinter dem Breslauer Universitätsgebäude aufzustellen gedachte. Es ist natürlich, daß sich die beiden in Tatkraft blühenden Männer beim Antritt einer Künstlerfahrt, bei der sich Arbeit und Genuß unlöslich verbanden, in überschäumender Laune zeigten. Und wirklich kamen sie während der ersten Eisenbahnstunde aus dem Lachen nicht heraus.

Trotzdem war dem Bildhauer Haake nicht eben ganz so zumute, wie er sich nach außen den Anschein gab. Während des letzten Vierteljahres hatte er mit bewunderungswürdiger Zähigkeit hauptsächlich durch Arbeit gegen ein nagendes Etwas in seinem Innern gekämpft. Seine Angelegenheiten waren längst wiederum in Ordnung gekommen. Keine Rede davon, daß er sich in der Kleidung vernachlässigt oder im Trinken übernommen hätte.

Der vertierte Säufer Paul Haake hätte getrost zehn Schritt von dem heutigen auf dem Prellstein sitzen können, ohne daß man in dem einen und andern die gleiche Persönlichkeit erkannt haben würde. Im Anfang hatte er selbst gegen einen Rückfall den Riegel durch ein Ehrenwort vorgeschoben, das er dem treuen Freunde gab, obgleich es dieser nicht haben wollte. Trat wirklich ein Rückfall ein, dachte Maack, warum sollte das Bewußtsein eines gebrochenen Ehrenwortes den Schwachen vor sich selbst noch verächtlicher, seine abermalige Rehabilitierung fast unmöglich machen?! Aber an alles das dachte man schließlich nicht mehr. Es schien eben nur ein festes und ganz bestimmtes Gleis zu geben, auf dem sich das Leben des Bildhauers vorwärtsbewegte. Willi würde geschworen haben, der Bildhauer wisse beinah von den Ursachen, Umständen und Folgeerscheinungen seiner Entgleisung nichts mehr.

In Wahrheit hatte aber der ununterbrochene Kampf mit sich selbst weder das Bild Wandas noch die Erlebnisse mit dem Zirkus Flunkert abschwächen oder gar auslöschen können. Die Nächte, besonders im Anfang, ließen das alles mitunter mit der Wirkung völliger Schlaflosigkeit aufflackern. Auch gab die schweigsame Arbeit am nassen Ton leider viel Zeit zu Grübelei. Die Art, wie er dies alles vor Willi und jedermann zu verbergen verstand, grenzte an Verschlagenheit. Wenn der Architekt sich zu dem munteren, offenen und gesprächigen Wesen seines früher so zurückhaltenden Freundes innerlich gratulierte, wußte er nicht, daß er gerade hierin noch das hartnäckigste Symptom des alten Übels vor sich hatte. Und nun, als der Zug mit den beiden Freunden ins Rollen kam, steigerte sich das Wesen Haakes zu nie dagewesenen Ausbrüchen tollster Lustigkeit, die Willi zu gleichen Tollheiten hinrissen, ohne daß er auch nur im entferntesten die verzweifelte Stimmung ahnte, die ihnen zugrunde lag und die sie verhüllen sollten. Jede Minute, sagte sich Haake, reißt mich weiter und weiter von Wanda fort! Jetzt atme ich wenigstens die Luft der gleichen Provinz mit ihr – der Zirkus befand sich derzeit in Schlesien –, und wenn es nichts anderes sein kann, und ehe ich an gebrochenem Herzen zugrunde gehe, kann ich sie hier im Verlauf von wenigen Stunden erreichen. Bald aber bin ich aus der Provinz, aus Preußen, aus Deutschland heraus, und selbst wenn ich nicht wollte, muß ich die Kleine ihrem Schicksal überlassen. Überhaupt: warum spiele ich diese Komödie? Was ist mir dies alles als ein Scheinleben? Warum lasse ich mich durch meine Arbeit, durch die Erfolge meines Fleißes, meines Schuftens in Verpflichtungen verstricken, die mich von meinem wahren Dasein lostrennen, mich zum Beispiel jetzt ins Ausland reißen, um mich in Rom, in der Fremde, in der Ferne festzubinden? Ich werde in Italien an einen Marterpfahl festgebunden sein, und durch jede Schönheit, die ich empfinde, wird sich meine Marter vertausendfachen. Dies wird darum geschehen, weil ich jeden Eindruck mit dem vergleichen werde, der er sein würde, falls Wanda an meiner Seite wäre. Weshalb war sie denn nicht an meiner Seite? Warum konnte sie denn nicht an meiner Seite sein? Ich werde die Hochzeitspärchen, die Hochzeitsreisenden in Italien sehen. Alles war doch so nahe gerückt! Warum war es gerade mir nicht vergönnt, was hier jeder genießt und was im Grunde so billig ist wie Brombeeren? – Eigentlich war Paul Haake inmitten der Exaltation seines Übermuts nicht weit davon entfernt, aus dem Kupee zu springen. Er wollte diese verruchte und lügenhafte Art, zu sein, nicht mehr mitmachen. War man denn auf der Welt, damit man sich und andere betrog? Sich selbst noch mehr als die anderen betrog, nämlich betrog um das wahre Leben?

Diese Kleine ließ sich ja auch kein X für ein U machen. Sah ihr Leben auch äußerlich noch so armselig, noch so mühselig aus: weil sie es liebte, ließ sie sich irgendein anderes dafür nicht aufschwatzen. Und was mich, Paul Haake, betrifft, wenn ich nur ihren Rockzipfel schwenken sehe, so gebe ich die ganze hochgelobte Sonne und Kunst Italiens dafür hin! Sie betrügt mich, saugt mich aus, verrät mich an diese Bestie von einem Kunstreiter, stopft ihm die Taschen mit meinen Goldstücken voll, läßt sich von ihm prügeln, gibt sich ihm preis, würde sich auf seinen Befehl wem immer preisgeben. Aber schließlich, man hört sie sprechen, sieht sie schreiten, sieht mit zitterndem Herzen ihre rührende Ängstlichkeit auf dem Seil und kann sie doch hie und da einmal auch im Arm halten. Schade, daß einem ohne Arbeit das Geld immer so schnell knapp werden muß.

 


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