Gerhart Hauptmann
Wanda
Gerhart Hauptmann

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Zehntes Kapitel

Die Freunde frühstückten miteinander. Sie verbrachten lange Stunden in dem bekannten Hansenschen Restaurant. Vom Nachtisch an bis zum Abend wurde der Fall Wanda von allen Seiten erörtert und durchgesprochen.

Sie hatten durchaus nicht schlecht gespeist und in ihr Diner, nach der Suppe, einen großen Helgoländer Hummer eingefügt. Auch mehreren Flaschen eines französischen Sekts waren die Hälse gebrochen worden. Die Laune war deshalb, auch bei dem Künstler, gut, aber sie blieb von dunklen Mächten umlauert.

Willi Maack hatte sich insgeheim als seine wichtigste Aufgabe vorgesetzt, den Willen des willensgeschwächten Freundes zu stärken und ihn von seiner Versklavung durch Wanda zu lösen. Dieser Zustand hatte ja nun, seiner Ansicht nach, einen Grad erreicht, über den hinaus nur noch die Provinzialirrenanstalt in Frage kam. Durch jenen Zufall, der immer so unwahrscheinlich scheint und doch so gewöhnlich ist, war er von einem Augenzeugen über die Vorgänge im Umkreis des Zirkus Flunkert unterrichtet worden. Das Fehlende brachte er leicht im Gespräch mit Haake heraus.

»Reise mit mir nach Italien, Paulus! Lieber Kerle, ich halt' ja ungeheuer vül von dir. Aber dort wirst du schließlich noch Dinge erleben, daß dir die Augen übergehen. Über so einen Dreckspatz muß man hinauskommen. Paulus, du hast ein Leben vor dir! Wenn ich die Hälfte von deinem Talent hätte, dir fällt ja der Himmel in den Schoß! Du kannst deine Plastiken in Florenz ausführen, du kriegst Urlaub, wenn du Professor bist. In Florenz, Mensch, denke, ein Atelier! Wenn du willst, auf dem Monte Pincio in Rom. Du wirst dich doch nicht an dies Luderchen wegwerfen?!«

Nein, ganz gewiß nicht, das würde er nicht.

Der Bürgermeister, der zufällig da war, trat an den Tisch. Die Atmosphäre des üppigen Restaurants brachte die Herren einander näher. »Wir müssen über den Monumentalbrunnen reden, den die Stadt auf dem Platz hinter der Universität errichten will. Besuchen Sie mich doch baldmöglichst mal auf dem Rathause!«

»Eins nach dem andern, das hat Zeit!«

Diese Äußerung Haakes ärgerte Maack. Sie zeigte ihm an, daß mit einem folgerichtigen Ernst in der Wiederaufnahme seiner Anliegen bei dem Freunde noch nicht zu rechnen war.

»Ja, um Gottes willen, du kannst mich totschlagen: entweder ich hole Wanda zurück, oder ich gebe für die ganze Kunst, meine ganze Karriere, das ganze Deutschland, Italien und meinetwegen Griechenland, alle Orden und Ehrenzeichen der Welt, alle Goldstücke und Geldsäcke, ja, für das ganze Leben keinen Pfifferling!«

»Mensch«, sagte Willi, »was hast du für einen Zug in dir! Es tut sich doch jetzt wahrhaftig vor dir eine andere Gegend auf! In Gottes Namen, was zieht dich denn immer wieder auf die Landstraße?«

»Mein Junge, sage mir nichts gegen die Landstraße! Man muß sie kennen, ehe man von ihr sprechen kann. Vielleicht gehöre ich überhaupt dorthin.«

Und nun bemerkte Willi Maack im Auge seines Freundes jene an Schlafsucht grenzende, müde Melancholie, jenen Blick, der ihn vom Beginne ihrer Bekanntschaft an seltsam und anziehend berührt hatte.

»Sieh mal, ich habe irgendeinen kranken, irgendeinen wunden Punkt in mir, den mich nichts ganz vergessen machen kann. Und weiß der Teufel, er hat eine geradezu verfluchte Anziehungskraft für Stich, Hieb, Stoß, kurz: alles, was den Menschen irgend im Moralischen oder im Physischen treffen kann. Ich habe in mir diesen wunden Punkt, seit ich bei Bewußtsein bin. Nicht Pflaster, nicht Balsam konnte ihn zuheilen. Als ich einmal als Kind von einem Passanten fünfzig Pfennig geschenkt bekommen hatte, traf es sofort den wunden Punkt. Ich konnte mich nicht darüber freuen, unter der Bitterkeit darüber, daß ich sie angenommen hatte. Aber mein Hunger forderte das. Wenn meine Mutter das Essen verteilte und ich sah, daß meine Ration die der anderen noch kleiner machte, brannte und schmerzte während des Essens der wunde Punkt. Mitunter wurde mir dann so übel, als müßte ich alles wieder herausgeben. Wenn jemand die Arbeiter vaterlandsloses Gesindel nannte, so traf es wieder den wunden Punkt. Ich wußte ja, wie mein Vater sich im Leben für die übrige Menschheit abgerackert hatte. Da raste förmlich die Wunde in mir, weil er trotzdem so verachtet war und so beschimpft werden konnte. Der wunde Punkt, der wunde Punkt! Ich brauche nur an eine alte Waschfrau zu denken, die meine Mutter ist. Alles, was sie an Verachtung und moralischer Roheit von den höheren Ständen zu erfahren hatte, traf natürlich den wunden Punkt. Alles trifft ja eben den wunden Punkt. Später waren es dann wieder andere Sachen. Daß es Leute gibt, welche zweimalhunderttausend und mehr Morgen Wald besitzen und deren Förster armen Kindern, die Preiselbeeren und Blaubeeren suchen, mit Schrot um die Ohren knallen dürfen – ja, da treffen eben alle, aber auch alle Schrotkörner bei mir den wunden Punkt. Wenn ich sehe, daß es einen Adel gibt, was die Folge hat, daß ich mich ihm gegenüber als ein Halbtier empfinden soll, so trifft der Gedanke einer solchen Erniedrigung meinen wunden Punkt. Auch das trifft meinen wunden Punkt, wenn man die Masse des Volkes, wie täglich geschieht, mit Worten beleidigt. Man beleidigt da zwar höchstens einen Begriff, denn das Wort Volk und das Wort Masse ist ja gewiß von achtzig Millionen Menschen nicht der Inbegriff. Aber achtzig Millionen Menschen mit ihren Leiden, ihren Schicksalen, ihren hohen Verdiensten um das Ganze sind doch getroffen und empfinden die Mißhandlung. Daß wir hier tafeln und uns wohl sein lassen, ist sehr schön, aber es trifft auch meinen wunden Punkt. Wir haben bei dieser einen Sitzung mindestens das ausgegeben, was mein Vater und meine Mutter bei einer Arbeit von zehn Stunden täglich, ja von zwölf, von achtzehn Stunden täglich im Schweiße ihres Angesichts in einem Monat verdient haben. Und wenn ich nun ein großer Herr werde und mich von meinen Leuten dort unten loslöse, mich ihnen entfremde, von ihnen Abschied nehme und zu ihren Ausbeutern übergehe, so trifft das wiederum meinen wunden Punkt. Und nun, siehst du, komme ich auf die Landstraße. Ich bin durchaus keine starke Natur. Ich könnte einen Schuß Roheit brauchen. Ich weiß recht gut, daß mein Jähzorn nur Schwäche ist. Es zieht mich hinauf, es zieht mich hinunter. Ich sehe Tempel, ich sehe Statuen, und dann frage ich mich wieder: Wozu? Aber auch in die dumpfe Schichte, aus der ich komme, kann ich nicht mehr zurück. Da kommt nun das Morphium, der Absinth, das Kokain, das Bier und der Fusel der Zwischenschicht. Die Zwischenschicht aber lebt auf der Landstraße. Freilich, auch da trifft es immer noch meinen wunden Punkt, daß ich mit jedem Schlucke Schnaps die Agrarier reich mache. Die Landstraße ist eine Philosophie. Man trifft da die wahrhaften Philosophen. Gewiß, die Welt hat sie ausgespien. Aber mancher lebt lieber außerhalb als innerhalb einer Welt, deren Maschinerie ihn zum Rädchen oder sonst was versklavt und ihm die Seele im Leibe mordet. Man macht nicht mit. Und wird man gestoßen und eingesperrt, so läßt man sich eben stoßen und einsperren, friert, hungert, tut, was weiß ich, weil man weiß, daß man außerhalb der Gesellschaft ist, manchmal oberhalb, manchmal unterhalb, und in diesem Fall wird man natürlich immer wieder, wenn nicht zertreten, so doch getreten. Man weiß auch, daß man ein Feind der Gesellschaft ist und daß ihre Feindschaft, die Feindschaft der Welt, die man nun erfährt, eben auf ihren ausgesprochenen Gegner fällt und sich darum mit größerem Recht entladet.«

»Wenn du philosophierst«, sagte Willi Maack, »so habe ich nichts dagegen. Dann aber philosophiere ein bißchen gründlicher! Häuser müssen nämlich gebaut werden. Und wann ich eine Stadt bauen will, so muß i natürlich mit an oder zwaa Häuser anfangen. Also reiß erst amal dich aus'm Dreck und hernach die andern achtzig Millionen! Mach scheene Sachen, schaff große Kunstwerk, die Zeit wird scho kommen, wo alle Menschen daran ihre Freid haben werdn, verstehst du mich!«

 


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