Gerhart Hauptmann
Wanda
Gerhart Hauptmann

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Fünfzehntes Kapitel

Nach mehreren Wochen war Paul Haake immer noch nicht nach Breslau zurückgekehrt und immer noch an den Zirkus gefesselt. Er hatte sich mit dem Baron Dagobert von Römerscheid befreundet, der gemeinsam mit ihm hinter der kleinen Gauklerbande her- oder ihr vorausreiste. Der Bildhauer glaubte, sich überzeugen zu müssen, daß der Baron es nicht verschmähe, sich von der Witwe Flunkert durch heimlich zugesteckte Summen unterhalten zu lassen.

Haake kämpfte vergeblich gegen eine gewisse Lethargie, die ihn besonders lähmend befiel, wenn er den Gedanken der alleinigen Abreise neuerdings aufnehmen wollte. Was die Befreiung Wandas betraf, so schien sie ja immer in nächste Nähe gerückt, aber zuletzt gab es stets noch etwas, dessen Regelung abgewartet werden mußte. Im Reden über Flunkert junior, seine mit Rattengift angeblich so vertraute Frau, ja über sich selbst hatte sich Wanda wohl dessen schuldig gemacht, was in dem Namen der Vagantenfamilie lag, und hatte wahrscheinlich stark geflunkert. Üble Nachrede, oberflächlich dahergeplappert, war ja von jeher eine Unart von ihr. Es entging ihr vielleicht sogar, daß die Nachrede übel war, da sie ja selbst für Sittlichkeit keinen Sinn hatte. Und schließlich: Kehre jeder vor seiner Tür! Dies war ein kategorischer Imperativ, welchen Paul Haakes Vater bereits ihn gelehrt hatte. Die mildere Denkart des Bildhauers hatte mit dem Gespräch, das die Direktorin ihm gewährte, ihren Anfang genommen, hatte sich im Verkehre mit ihrem Sohne verstärkt und war in neuerlichen Begegnungen zu einem beinahe freundschaftlichen Umgangston verdichtet worden.

Dem Verkehr Wandas mit dem Bildhauer legte Flunkert nichts in den Weg. Er hatte auch nichts dagegen, wenn Haake zum Range eines erklärten Bräutigams seiner Drahtseilkünstlerin aufrückte. Er wußte den Bräutigam allmählich auch von den guten und besten Absichten halb und halb zu überzeugen, die er für Wanda hege, einen Racker, den man, wenn er nicht Dummheiten machen solle, zum Arbeiten anhalten müsse. Nun war vielleicht Balduin wirklich, wie der Baron behauptet hatte und immer wieder behauptete, eine Zuhälternatur. Aber bei diesen Leuten war das nichts Ungewöhnliches. Das mußte natürlich auch der Baron zugeben, der sich übrigens ohne jeden Adelsstolz gegen Haake betrug und es gern huldvollst geschehen ließ, wenn dieser ihn wieder und wieder regalierte. Er wußte viel, auch sogar aus dem Leben der fahrenden Leute, und Gespräche mit ihm waren selten langweilig. Die Welt der Landstraße war ja, da Haake eine Wanderburschenzeit hinter sich hatte, auch ihm nicht fremd. Aber der andere war weiter und kühner gereist, und wo der eine schließlich nur Erfahrungen sammelte, hatte er fast unglaubliche Dinge erlebt.

»Natürlich wäre es ganz verkehrt«, sagte eines Abends der Baron beim Wein, »wenn man annehmen wollte, daß einem Kunstreiter, selbst so niedrigen Ranges wie Balduin, jede menschliche Regung fernläge. Es mag wohl sein«, fuhr er fort, »er hat Ihre übrigens sehr leichtsinnig auf das Spiel gesetzten fünftausend Mark abgelehnt, weil er, wenn er Wanda solange wie möglich behält, die wirklich allmählich besser arbeitet, nicht nur für sich, sondern auch für sie den größten Vorteil sieht. Es ist auch möglich, er hat das neulich von Ihnen an Wanda gezahlte Honorar zum größeren Teil, wenn nicht ganz, für das Mädchen sicher angelegt.«

»Was meinen Sie für ein Honorar?« fragte Haake.

»Nun Gott, ganz einfach: das Honorar. Sie würdigten mich ja doch, Herr Professor, einer vertraulichen Mitteilung. Niemand kann das doch anders auffassen!«

Der Jähzorn stieg in Haake empor.

»Bitte, reden Sie nicht von Honorar! Es soll hier niemand von Honorar reden. Es handelt sich hier um meine Braut. Es handelt sich hier um ein Mädchen, mit dem ich mein Leben auf immer verbinden werde und das sich mit mir auf Lebenszeit verbinden wird. Der Zweck der Summe war ein ganz anderer. Sie will sich frei machen, und so müssen Vorschüsse aller Art beglichen werden. Das sind ja die Schlingen, mit denen solche Sklavenhalter hauptsächlich arbeiten. So steht die Sache, das merken sie sich!«

»Nichts für ungut, nein, Gott bewahre, Herr Haake! Ich gebe zu, daß der Ausdruck verfehlt ist. Schenken Sie mir eine Zigarette. Ich wollte sagen . . . was war es doch? . . . ich will die Sache zu Ende bringen. Ich hoffe, Herr Haake, es wird Sie nicht wieder aufregen, wenn ich an der Meinung festhalte, daß der Lange« – so nannten die Zirkusleute Flunkert – »Ihre Braut so lange wie möglich ausnützen will. Dabei braucht er auf irgendein Taschengeld, das sie sich macht, nicht zurückgreifen. Eine Provision, das wird alles sein. Es ist ja allmählich nicht mehr zu verheimlichen: die kleine Lausemanege hat augenblicklich in Wanda ihre größte Attraktion. Neulich wollte sie ja schon, wie mir die gnädige Frau verwitwete Flunkert im Vertrauen mitteilte, ein Agent von Renz den Flunkerts abhandeln.«

»Auch bei mir«, sagte Haake, »war der Agent. Ich habe ihn höllisch ablaufen lassen!«

»Warum haben Sie ihn denn ablaufen lassen? Meinen Sie nicht, daß Ihre Geliebte bei Renz in Berlin ganz andere Gagen erreichen und ganz anders vorwärtskommen kann?«

»Ich wünsche nicht, daß sie beim Zirkus bleibt! Ich wünsche nicht, daß sie sich tiefer in dieses Artistendasein verwickelt, sondern daß sie sich herauswickelt!«

»Sagen Sie: der Agent, war das der junge, hübsche Mensch, der vor einigen Tagen an Ihrem Tische saß, auf dem Sie eine ganze Anzahl leerer Pullen stehen hatten, und der schließlich so viele Taktlosigkeiten gegen Sie beging, bis ihn ein Faustschlag von Ihnen mitten ins Gesicht wie ein Stück Holz vom Stuhle warf?«

Dieser Vorfall, der sich tatsächlich zugetragen hatte, zeigte, bis zu welchem Grade sich Haake bereits wiederum gelegentlich gehen ließ, und gab Anlaß zu schlimmen Befürchtungen.

 


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