Gerhart Hauptmann
Wanda
Gerhart Hauptmann

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Fünftes Kapitel

Die Vorstellung wurde zu Ende geführt. Eine halbe Stunde darauf trafen sich die Parteien beim Amtsvorsteher. Paul Haake machte glaubhaft, wer er war. Er behauptete, daß Pipilada eine gewisse Wanda und so weiter sei, die er vom Tode des Verhungerns und Erfrierens gerettet habe, eine noch nicht Volljährige, mit der er verlobt gewesen sei, um sie in wenigen Wochen zu heiraten. Flunkert habe sie entführt und wahrscheinlich verführt und sein und des Mädchens Glück vernichtet, dem er eine angesehene bürgerliche Stellung als Frau eines Professors der Breslauer Kunstakademie zu verschaffen im Begriffe stand, denn seine Ernennung zum Professor stehe nahe bevor. Zum Belege konnte er Briefe vorlegen.

Flunkert leugnete alles das. Pipilada sei die Tochter der Schwester seiner Frau. Diese sei in Buenos Aires verheiratet. Kurz, er brachte eine lange Geschichte vor, die beweisen sollte, daß Pipilada mit jener Wanda durchaus nicht identisch sein könne.

Das Mädchen wurde herbeigerufen.

Schon auf dem Drahtseil war sie von dem Künstler erkannt worden. Als sie nun eintrat, ähnlich einem Schulmädchen in einem abgetragenen Paletot, war sie Wanda, konnte ebensowenig als auf dem Seil jemand anderes sein. Aber sie sagte, sie heiße Godoy, Catalina mit Vornamen, die verwitwete Flunkert sei ihre Tante. Sie bestritt, dem Herrn, den sie vor sich habe, also Paul Haake, jemals im Leben begegnet zu sein.

Dieser kam sich nun vor, als sei er in einen jener Träume versetzt, wo wir unsere nächsten Anverwandten, Vater, Mutter, sehen, ohne von ihnen erkannt zu werden, wo auf eine mystische Weise das Band, womit wir zutiefst verknüpft waren, zerrissen ist. Prüfend sah er die Kleine an. Unwillkürlich auf sie zutretend, konnte er sehen, wie sie errötete. Er prüfte den dunklen Haarschwall, der ihm so oft durch die Finger geglitten war. Er prüfte die schöne weiße Stirn. Er prüfte die seidig schwarzen Wimpern, das Näschen, dessen unendliche Feinheit er bisher vergebens in nassem Ton nachzubilden versucht hatte. Er prüfte den Mund, an dem er sich wieder und wieder festgesogen, ohne daß sein Nektar und sein eigener Durst sich vermindert hätten. Er kannte diesen feinen, zerbrechlichen Körper Glied für Glied, und es gab keine Stelle seiner blassen, duftenden Haut, die er nicht mit Lippen und Händen zärtlich berührt und gekost hatte. »Wanda, du willst mich nicht kennen?« fragte er. – »Ich kenne Sie nicht!« war die klare Antwort.

»Wer ist dieser Mann?« fragte der Amtsvorsteher das so seltsam umworbene Schulmädchen mit einem Hinweis auf Flunkert junior, der, in einem Ausmaß von beinahe zwei Metern, im dicken Jagdjackett, einen langen Wollschal um den Hals, ein wenig abseits stand. »Vetter Balduin!« klang es wie aus der Pistole geschossen. Der sagte heiser – er war erkältet und entschuldigte sich: »Der erste Sohn in unserer Familie heißt seit Jahrhunderten Balduin. Deshalb habe auch ich diesen Namen bekommen.« – Der Beamte meinte, das wäre hier gleichgültig, und schnitt ihm damit die Rede ab.

Auf alles war Haake gefaßt, doch er war nicht auf diese Wendung gefaßt. Er drohte darüber verrückt zu werden. Allein, das gerade durfte er nicht. Und so trat denn auch eine jedermann überraschende Ruhe bei ihm ein, eine Ruhe, welche die tückischen Blitze in Balduin Flunkerts Augen sowohl vermehrte als hastiger machte.

Haake wünschte zu Protokoll zu geben:

Dieses Mädchen sei Wanda Schiebelhut. Ihre Wiege habe in Oppeln gestanden. Der alte Schiebelhut sei dort Stellmacher gewesen, Wandas Mutter, die Witwe, als sie noch fortkonnte, Hebamme. Heut sei sie, völlig kontrakt, in einem Altersheim untergebracht. Sie habe einige Male mit der Polizei zu tun gehabt und Wanda, ihre Tochter, nicht minder. Trotzdem habe er, Paul Haake, demnächst Professor an der Kunstschule, sich die Rettung und Rehabilitierung des Mädchens in den Kopf gesetzt.

Es begann nun die Inquisition.

Sofern dieses Mädchen Wanda war, hatte man in ihr einen Ausbund von Gerissenheit, gleich groß im Erfinden wie im Ableugnen. Sie tat beides mit Lust, mit einem geradezu blendenden Übermut, als ob sie etwa am Trapez turne. Was ihr dabei aus den glimmenden Blicken sprühte, war Tollheit und Eulenspiegelei.

Flunkert meinte, er lasse es darauf ankommen. Diese Frau in Oppeln, diese Hebamme, deren Namen er nicht mehr wisse, möge getrost ihre Ansprüche geltend machen. Vor der Mutter weiche er gern zurück. Aber der Irrtum werde sich dann ganz klar herausstellen. »Im übrigen«, sagte er, »reiche ich morgen durch meinen Anwalt die Klage gegen diesen Menschen wegen Körperverletzung ein. Sein ungeschickter Fußtritt hätte mir einen Beckenbruch eintragen können. Einen Schaden – ich hinke stark – habe ich unbedingt wegbekommen. Ich kann mindestens acht Tage nicht auftreten, wenn die Sache damit überhaupt zu Ende ist. Das Gericht muß mir Schadenersatz, muß mir Schmerzensgeld zubilligen. Mein nächster Gang ist zum Arzt, der sich ja meinen blutunterlaufenen Hintern – es geht, wie meine Frau sagt, weit nach oben übers Gesäß – ansehen und die ganze Bescherung zu Papier bringen wird!«

Was Flunkert sagte, schien Haake gleichgültig. Er hatte Wanda oder Catalina angestarrt. Man sah, daß ein Gewitter sich sammelte.

»Wanda!« sagte er, »kennst du mich nicht? Hast du nicht in der Januarkälte Streichhölzer hinter den Buden am Schweidnitzer Keller feilgehalten? Immer in Angst vor der Polizei? Habe ich dir nicht dazumal Wiener Würstel gekauft und dich mit mir in einen warmen Keller genommen?« – Und so ging es weiter: Habe ich nicht . . .? und: Hast du nicht . . .? und: Habe ich nicht . . .? und: Hast du nicht . . .?, ohne daß Haake eine andere Antwort erzielt hätte als das gleiche befremdet verneinende Kopfschütteln.

Nun aber trat etwas Neues ein.

Der Mann für alles, Dummer August, Pferdeknecht, Kutscher, Wagenreiniger, Pudelko, erschien, augenscheinlich ein treuer Diener seines Herrn, der Flunkert junior etwas ins Ohr brummte, worauf dieser sich für eine Minute entschuldigte.

Das Verhör wurde fortgesetzt, aber plötzlich durch einen Wortwechsel unten im Hausflur unterbrochen. Als der Streit einer weiblichen und einer männlichen Stimme einen gewissen Grad erreicht hatte, mußte der Wachtmeister nach dem Rechten sehen. Jetzt hörte man Schläge und eine Haustür zukrachen, worauf Pipilada-Catalina-Wanda bis in die Wurzel des Näschens blaß wurde. Das laute Heulen einer weiblichen Stimme entfernte sich. Der Gendarm berichtete, wieder eintretend: »Er hat seine Frau durchgebleut und hinausgeschmissen. Die Sache scheint nicht ganz koscher zu sein.«

 


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