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Hamlet

Einige Worte zu meinem Ergänzungsversuche

Wer sich den heutigen Zustand des Hamlet-Dramas erklären will, darf zunächst weniger nach den Quellen des überlieferten Werkes Umschau halten als nach den Fehlerquellen oder Mächten der Zerstörung, die es zu dem Torso gemacht haben, der uns überliefert ist.

Nehmen wir an, der Dichter hat das fertige Werk auf die Probe seines eigenen Theaters gebracht. Er selbst schon hat dann das Manuskript den Erfordernissen seiner Bühne, seines Ensembles angepaßt, hat als Regisseur gestrichen oder hinzugedichtet. Hat er inzwischen nicht sein Urmanuskript in einer unzugänglichen Kassette verwahrt, so ist damit seine Anfangsform bereits dahin.

Die Rollen wurden ausgeschrieben. Höchstwahrscheinlich haben sehr bald nur noch diese Rollen bestanden. Niemand hat vielleicht bis 1603 an dem Gesamtmanuskript ein Interesse gehabt. Das Rollenmaterial, in Kisten verstaut, makulaturartig, begleitete reisende Schauspielgesellschaften. Es war mehr als natürlich, wenn hier ein Fetzen und da ein Fetzen verlorenging.

Wurden die Rollen abgeschrieben? Hat die Berechtigung, das Stück aufzuführen, ein Direktor an den anderen verkauft? Es ist selbstverständlich. Damit erscheint als Fehlerquelle der Abschreiber, der nicht mehr, wie sein erster Vorgänger, vom Dichter und Schauspieler Shakespeare kontrolliert werden konnte.

Die neue Truppe hat ein anders gewöhntes Publikum, andere Schauspieler, einen anderen Direktor. Er wird sich das ganze Werk aus den Rollen zusammenstellen und für seine Darsteller und sein Publikum zurechtschneidern. Die Szenenfolge wird vielleicht nicht mehr ganz klar zu erkennen sein. Auch sind vielfach vom Rollenschreiber die Namen verwechselt worden. Wer Schauspiele abschreiben, Rollen kopieren läßt, weiß, daß gerade das immer geschieht. Der Direktor, im Drange, schnell ein zugkräftiges Stück auf die Bretter zu werfen, merkt das nicht. Er merkt nicht, wo einmal statt Hamlet Laertes steht. Außerdem ist es ihm vollkommen gleichgültig. Irgendeine Rücksicht auf ein im Schoße der Zeiten versunkenes Meisterwerk kennt er nicht.

Die Rolle kommt in die Hand des Schauspielers. Die Psychologie des Schauspielers unterliegt, solange es ihn gibt, keiner wesentlichen Veränderung. Jeder Schauspieler improvisiert. Kein Gedächtnis ist so lückenlos, daß es nicht einen überlieferten Text mitunter durch eigene Erfindungen ergänzen müßte. Man denke, welches Gedächtnismaterial ein Schauspieler zu bewältigen hat! Er improvisiert aber auch bewußt und aus Lust, erstens, um einmal er selbst zu sein, und dann auch aus Eitelkeit und Effekthascherei. Improvisationen, die gefallen, trägt der Schauspieler, trägt der Direktor in die Rolle ein. Spätere Schauspieler lernen sie, als ob sie zum Originale gehörten. Überdies, der Schauspieler ändert, ganz besonders der Protagonist. Es gibt solche, bei denen das Ändern zur Krankheit wird, andere, die sich treu an den Text halten. Es würde nicht uninteressant sein, von dreißig Hamlet-Spielern der heutigen Bühne die Rollen daraufhin durchzusehen.

Gibt es auf der Bühne etwas wie Rollenneid? Da der Neid in der Welt überall mächtig ist, so besteht er natürlich auch im Theater. Selbst der Weber Zettel im »Sommernachtstraum« sagt: »Laßt mich den Löwen auch spielen!« Dieser Neid erstreckt sich sogar auf schöne Verse und Worte, die man dem Kollegen mißgönnt und womöglich wegschnappt. Jegliche Einstudierung zeigt diesen harmlosen Neid lebendig tätig. Wenn der Spielleiter sieht, daß eine Stelle, ein Satz, ein Passus des Textes im Munde des einen vielleicht weniger begabten Darstellers keinen Eindruck macht, legt er die Stelle, den Satz, den Passus einem Begabteren in den Mund, der ihn besser zur Wirkung bringt. Der beste, der gewissenhafteste Regisseur darf nicht pedantisch sein. Er setzt die Wortpartitur in Leben um. Und wenn dies geschehen ist, ist sie selbst völlig darin verschwunden und aufgesogen. Das auf der Bühne lebendig gewordene Werk lebt und bewegt sich nach anderen Gesetzen als das geschriebene.

Zur Zeit Shakespeares stahl man Stücke durch stenographische Aufnahme während der Vorstellung. Auf diese Weise, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, konnte man, selbst wenn es sich um die Aufführung des gewissenhaftesten aller Regisseure handelte und wenn die Nachschrift die allergenaueste war, das zugrunde liegende Wortoriginal nicht mehr rein und genau wiedererhalten, geschweige wenn ein gewissenloser Direktor Spielleiter gewesen war und der Nachschreiber ein Schluderer.

Durch all diese Umstände wird das Corpus des Stückes monströse Veränderungen erleiden, die sich auf seine innere Harmonie beziehen. Es werden Gleichgewichtsstörungen, innere Verschiebungen eintreten. Um es drastisch auszudrücken: dem Gliederschwund auf der einen Seite wird eine Beulenbildung auf der anderen entsprechen. Denn der Einfluß der Zeit, verbunden mit dem der geschilderten Mächte, ist nicht nur zerstörend und abtragend, sondern er bringt auch faule und tote Wucherungen hervor, und es ist leichter, Fehlendes zu ergänzen als solche Wucherungen zu erkennen und zu beseitigen.

Der Text des »Hamlet«, den die Welt besitzt, geht auf zwei Drucke, die Quarto von 1603 und die von 1604, zurück. Beide sind sogenannte Raubausgaben, während der Vorstellung des Stückes insgeheim nachstenographiert.

Von dieser Methode, Stücke zu erlangen, ist in einem Prolog des Thomas Heywood, der Shakespeares Zeitgenosse ist, die Rede. Das Stück, zu dem der Prolog gehörte, heißt: »If you know not me, you know no bodie« und die bezügliche Stelle:

(This) did throng the Seates, the Boxes and the Stage
so much, that some by Stenography drew
the plot: put it in print: scarce one word trew.

Was uns dabei interessiert, sind die Worte »scarce one word trew« oder »kaum ein Wort wahr«.

Also Thomas Heywood unterstellt, was sehr traurig stimmen muß, es käme bei dieser Art des Nachschreibens, der wir auch Shakespeares »Hamlet« verdanken, kaum ein wahres Wort heraus.

So heißt es denn auch von der ersten der beiden Ausgaben des »Hamlet«, der sogenannten ersten Quarto von 1603, daß sie eine »liederlich gedruckte, vielfach entstellte Raubausgabe« sei. Die Shakespeare-Forschung zögert nicht, das in ihr kopierte Stück »jämmerlich entstellt« zu nennen. Die zweite Quarto enthält es noch immer entstellt, aber in einigem korrigiert und vervollständigt. Diese Ausgabe ist dem Abdruck in der sogenannten Folio von 1623 zugrunde gelegt, die unseren heutigen »Hamlet« enthält. Aber auch hier wieder, wie es heißt, nicht ohne Zusätze, Kürzungen und viele verschiedene Lesarten. Überdies ist die Folio, wiederum nach dem Urteil der Forschung, »nachlässig herausgegeben und schlecht gedruckt«. Auch gestehen ihre Herausgeber, »ihren Text von vergilbten Papierfetzen zusammengeklaubt zu haben, die von Shakespeares Hand kaum mehr enthielten als einen Tintenklecks«.

Die Sachlage, der wir uns somit gegenübersehen, erscheint, wenn es sich darum handelt, den »Ur-Hamlet« kennenzulernen oder gar wiederherzustellen, fast hoffnungslos. Wenn man sich dennoch zu einem Versuch in dieser Richtung veranlaßt fühlt, so wird man ein solches Beginnen vielleicht allzu kühn, aber, in Anbetracht des kläglichen Zustandes, in dem sich der unsterbliche Hamlet-Torso noch immer befindet, nicht ungerechtfertigt oder gar frevelhaft nennen wollen.

Denn was ist ein solcher Versuch anders als ein Aufruf aller schöpferischen Kräfte gegen die zerstörenden?

Geben wir uns von der Art und Zahl schöpferischer Kräfte eine wenn auch nur oberflächliche Rechenschaft.

Die erste, ohne die nichts neu und nichts nachzuschaffen ist, heißt dichterische Intuition. Sie muß ihr Objekt ebenso genau und überdies lebendiger auffassen als eine photographische Platte das ihre. Sie ist nicht etwa eine anarchisch-phantastische Kraft, sondern sie ist Gestaltungskraft, so im Rezeptiven als Produktiven. Es kommt darauf an, diese Kraft zu besitzen, um sie in genügender Tiefe unter dem kranken Dichtwerk, in diesem Falle dem »Hamlet«, an- und einzusetzen, und zwar an dem Punkt, von dem aus das Werk von seinem Schöpfer, als es entstand, gesehen wurde, als Ganzes gesehen, nicht als Stückelung.

Auf diese Art ist von mir die Idee oder transzendente Gestalt des Hamlet-Werkes gesucht worden. Freilich sind auch der natürlichen Intuition Grenzen gesetzt. Das natürliche Seherauge, das die Idee hinter dem gestalteten Werk aufleuchten sieht, wird versagen, wenn es sich um Einzelheiten der Form und des Wortes handelt, in die sie eingekleidet ist. Nicht ohne weiteres wird die Intuition, wo sie Lücken, Widersinnigkeiten und Verstümmelungen sieht, diese ausfüllen, diese zurechtrücken und jene ergänzen können. Aber sie hat die transzendente Idee des Werkes, die Logik seiner Gestalt, sowohl was seine Statik als seine Dynamik betrifft, zum Vergleich, und diesen Maßstab wird sie an das zerrüttete und zerstörte Werk anlegen.

In meinem Versuch, den überlieferten Text dem ursprünglichen, verlorengegangenen anzunähern, fällt vor allem ins Gewicht, daß der Aufstand, den im überlieferten »Hamlet« Laertes, der Sohn des Polonius, entfacht, von Hamlet in die Wege geleitet und durchgeführt wird. Gründe für diese Änderung gibt es viele. Unter ihnen der hauptsächlichste ist, daß der korrekte Hofmann Laertes, der samt seiner ganzen Familie in vollster Gunst des Königshauses steht, außerdem keinerlei Thronanwartschaft besitzt, einen solchen Aufstand weder ausführen wird noch kann. Sagt nicht der König zu Laertes:

Kannst du bitten,
was ich nicht gern gewährt', eh du's verlangt?
Der Kopf ist nicht dem Herzen mehr verwandt,
die Hand dem Munde dienstgefäll'ger nicht,
als Dänmarks Thron es deinem Vater ist.

Ein so in vollem Glanz der Gnade stehender Edelmann stellt sich nicht an die Spitze eines Meutrerhaufens, weil seinem Vater das Unglück passiert ist, unabsichtlich ermordet zu werden. Er weiß, daß dies vom König nicht ausgehen kann, und wird in aller Ruhe und Korrektheit die Information über die Art des entstandenen Unglücks abwarten. Er stürmt nicht, bevor er den König gesprochen hat, an der Spitze einer aufständischen Masse mit den Worten in sein Zimmer: »Du schnöder König, gib mir meinen Vater!« Das alles ist unmöglich. Es würde auch gar nichts anderes dabei herausspringen als die Schlinge des Henkers oder das Beil für seinen eigenen Kopf. Laertes wird, sagte ich, einen solchen Aufstand nicht ausführen, und er kann es nicht. Er ist nicht so dumm, den Versuch zu machen, etwas dergleichen zu unternehmen. Der Versuch würde aussichtslos und darum unsinnig sein, schon darum, weil er eine Gefolgschaft nicht haben könnte. Anders bei Hamlet, von dem Claudius sagt:

Warum ich's nicht zur Sprache bringen durfte,
ist, daß der große Hauf' an ihm so hängt:
sie tauchen seine Fehl' in ihre Liebe,
die, wie der Quell, der Holz in Stein verwandelt,
aus Tadel Lob macht ...

Wäre Laertes indessen nicht der korrekte Hofmann, sondern der verwegene, tollkühne, dämonische Abenteurer und Rebell, der das Unmögliche möglich macht, und wäre es ihm gelungen, zum König ausgerufen zu werden, der Tod seines Vaters würde ihm höchstens ein Vorwand sein, dem regierenden Herrscher und seinem Hause ein blutiges Ende zu bereiten. Ein solcher verbrecherischer Wille aber wäre nicht in der Weise umzubiegen, wie es geschieht, der sieghafte Rebell nicht in ein kleines Werkzeug zur Abmeuchelung eines armen, »halbirren« Prinzen umzuwandeln. Claudius aber, der König: wäre es ihm gelungen, diesen Rebellen zu übertölpeln, so bliebe doch dieser, und nicht mehr Hamlet, fortan die größte Gefahr und müßte je eher, je lieber beiseite geschafft werden. Ihn lebend weiter am Hofe zu dulden, mit ihm zu verkehren, wie es geschieht, könnte durchaus nicht in Frage kommen.

Hamlet unternimmt den Aufstand. Es gibt auch ein Rudiment in der Laertes-Szene, das darauf hinweist. Laertes fordert bekanntlich vom König in der bisherigen Fassung seinen Vater zurück. Die Königin mahnt ihn zur Ruhe. Er antwortet:

Der Tropfen Bluts, der ruhig ist, erklärt
zum Bastard mich, schilt Hahnrei meinen Vater,
brandmarkt als Metze meine treue Mutter
hier zwischen ihren reinen, keuschen Brauen.

Das »hier zwischen ihren reinen, keuschen Brauen« ist zu beachten und besonders das »hier«. Die Königin ist ja keineswegs die Mutter des Laertes, und nur die Königin ist gegenwärtig, die Mutter des Laertes nicht. Von ihr ist überhaupt nie die Rede gewesen. Dieses »brandmarkt als Metze meine treue Mutter hier zwischen ihren reinen, keuschen Brauen« ist demnach ein Rudiment aus der echten Szene, wo Hamlet, nicht Laertes der Rebell ist; ist ja doch die Königin eben Hamlets Mutter. Und schließlich: wollte man annehmen, daß Laertes den Aufstand unternommen hätte, wäre es denkbar, daß ein Shakespearischer König Claudius, und nicht einer im Kasperletheater, zu einem jungen Menschen und Hofmann wie Laertes sagte:

Wählt die Verständigsten von Euren Freunden!
Wenn sie zunächst uns oder mittelbar
dabei betroffen finden,

– es handelt sich hier um den Tod des Polonius! –

wollen wir Reich, Krone, Leben, was nur unser heißt,
Euch zur Vergütung geben.

Gewiß nicht! Das würde für einen Claudius allzu freigebig sein.

Hamlet unternimmt den Aufstand: das liegt in seinem Wesen, liegt in der Fabel, liegt in der gesetzmäßigen Dynamik des Stückes. Hamlet will seinen Oheim entlarven. Zäh und willensstark verfolgt er dieses Ziel. Für diese Willensstärke gibt es zahllose Beweise: in seinem folgerichtigen Verhalten bis zur Entlarvung des Königs durch das gespielte Stück, in der Art, wie er den Mord am betenden König verschiebt, in seinem Sturmlauf gegen das Gewissen der Mutter, in seiner Erklärung, »tiefere Minen zu graben« als sein feindlicher Oheim, als er ihn mit dem bekannten Uriasbrief nach England verschickt. Er verhandelt mit Fortinbras. Er kehrt wieder, um dem König sein Verbrechen ins Gesicht zu schleudern. Mit den Worten: »Du schnöder König, gib mir meinen Vater!« stellt er ihn, an der Spitze einer bewaffneten Macht. Das hat Sinn und Verstand, ein Aufstand des Laertes nicht.

Goethe kam dieser Erkenntnis sehr nahe. Die Stelle im »Wilhelm Meister« lautet: »Sie sehen leicht, versetzte Wilhelm, wie ich nunmehr auch das übrige zusammenhalten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Missetat seines Stiefvaters entdeckt, so rät ihm dieser, mit nach Norwegen zu gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaffneter Hand zurückzukehren.« Aber Goethe sieht nicht, daß diese Szene, wirklich vorhanden, im Aufstand des Laertes unerkannt ein sinnloses Leben gefristet hat.

Wie aber konnte ein derartiger Irrtum so lange bestehen? Irrtum ist zählebig. Der Foliotext des »Hamlet«, »nachlässig herausgegeben und schlecht gedruckt, aus vergilbten Papierfetzen zusammengeklaubt, die von Shakespeares Hand kaum mehr enthielten als einen Tintenklecks«, ist gespickt mit großen und kleinen Irrtümern. Stellten doch diese Zettel selbst erst wieder das Residuum einer Schnellschrift dar, mit der man eine schon verstümmelte Aufführung hastig nachgeschrieben hatte. »Kaum ein Wort wahr« ist nach Thomas Heywood in einer so erlangten Kopie.

Aber: Hamlet ist willensschwach, sagt Schlegel, ohne Entschlossenheit. Er ist gleichgültig, sagt Flathe. Er hat keinen festen Glauben, glaubt an Gespenster und nicht an Gespenster (das läßt sich hören), sagt derselbe. Auch Tieck nennt Hamlet einen Zauderer, Gervinus und Kreißig ebenfalls. Gervinus erklärt die Willensschwäche als Folge geistiger Bildung ohne Willensbildung. Freiligrath, glaube ich, sagt, Hamlet sei Deutschland im Sinne der Unentschlossenheit. Und wiederum Gervinus: das nutzlose Blutbad am Schluß sei Bestrafung des Schwächlings. Alle sind sie durch den Bruch irregeführt, den die überlieferte Textfassung im Rückgrat hat, durch den Aufstand des Laertes, den Schreibfehlern, verbunden mit dem Rollenneide eines Schauspielers, seine Entstehung verdankt und der Hamlets folgerichtiges Handeln tödlich unterbricht. Kein Forscher hat diesen Bruch gesehen. Das Alter gab dem Text schließlich doch eine unantastbare Autorität. Aber der große englische Schauspieler Irving stellte trotzdem bei Hamlet ein durchaus zweckmäßiges Handeln fest, das nur mit der Ermordung des Polonius einen Fehlgriff begehe. Die Schwächlings- und Zauderertheorie wird aber auch von dem deutschen Gelehrten Klein bestritten, dessen gewaltige »Geschichte des Dramas« ihn legitimiert. Von Karl Werder ebenfalls, dessen beide Nachfolger an der Berliner Universität Scherer und Erich Schmidt gewesen sind. Er sagt mit Recht, der einzige Zeuge für die Mordtat des Königs sei für Hamlet der Geist. Genügen könne ein solches Zeugnis, auch wenn es sich mit der sicheren Ahnung des Prinzen verband, keineswegs, es bedürfe der Bestätigung; vor der Öffentlichkeit nun gar könne es nicht die geringste Geltung beanspruchen. Bevor Hamlet zur Rache, zur Bestrafung, zur Unschädlichmachung des Verbrechers schreiten könne, müsse er ihn zunächst überführen. Diesem Zwecke sei sein Verhalten gewidmet.

Und so ist es in der Tat. Dieselbe Auffassung liegt meiner Hamlet-Bearbeitung zugrunde und war damit selbständig festgelegt, ehe ich die Vorlesungen Karl Werders zu Gesicht bekam. So werden diese sowie die Auffassungen Kleins und Irvings zur Bestätigung. Aber auch in den Quellen des Shakespearischen Hamlet, dem Saxo Grammaticus und dem Belleforest, ist Hamlet ein Mann von starkem Willen. Es heißt bei Saxo Grammaticus:

»So handelte Amleth als ein Mann der Tat, ewigen Ruhmes wert. Klugerweise Dummheit erkünstelnd, verbarg er eine fast übermenschliche Weisheit hinter bewunderungswürdiger Erdichtung scheinbaren Blödsinns. Durch Geistesgewandtheit erwarb er nicht allein sich selbst Heil, sondern wurde durch sie auch dazu geführt, daß er volle Rache nehmen konnte für seinen Vater. Indem er so sich geschickt schützte und den Vater kräftig rächte, läßt er uns ungewiß, was wir höher an ihm schätzen sollen, seine Kraft oder seine Weisheit.«

In Belleforests »Histoires tragiques« verfolgt Hamlet und nimmt Hamlet ebenfalls seine Rache mit folgerichtiger Willenskraft. In beiden Quellen geschieht dies nach der Rückkehr aus England, jedesmal in Form einer großen Aktion. Solche Grundlagen geben einem Aufstand des Hamlet auch bei Shakespeare die größte Wahrscheinlichkeit.

Sie liegt auch im überlieferten Hamlet-Texte begründet. Sein sogenannter vierter Aufzug, eigentlich ein Trümmerfeld, bedeutet im Stück eine vollkommene Stagnation. Es wird viel Überflüssiges um die Leiche des Polonius herumgeredet. Dazu treten Salbadereien zwischen Hamlet, Rosenkranz und Güldenstern, auf der Suche nach ihr. Hamlet sagt etwa: »Die Leiche ist beim König, aber der König ist nicht bei der Leiche« und ähnliches. Dann wird Hamlet an Bord geschafft. Nun gut. Wenn wir aber denken, er befinde sich auf See, zeigt ihn die nächste Szene höchst unbegreiflicherweise auf einer Ebene in Dänemark. Fortinbras mit seinen Truppen ist gerade vorübergezogen. Den letzten Hauptmann seiner Truppe fragt Hamlet die allertörichtsten Dinge, die er längst wissen müßte. Es handelt sich um eine höchst gleichgültige und im Stücke gänzlich belanglose Polen-Frage. Er endet in einem großen Monolog, worin Hamlet seine eigene Willensschwäche geißelt. Mit keinem Wort nimmt Hamlet Bezug auf seine Verschickung, seine Seefahrt oder auf die Art und Weise, wie er plötzlich auf diese dänische Ebene gekommen ist, ebensowenig auf die Gefahr, die der Norweger Fortinbras auf einer Ebene in Dänemark für den Staat bedeutet. Wir haben dann die Ophelia-Szene. Wir haben den sinnlosen Aufstand des Laertes, der die Handlung auf keine Weise weiterführt. Am Schlusse trifft bei Horatio ein mysteriöser Brief von Hamlet ein, den wir zuletzt auf der Ebene in Dänemark gesehen haben. Es heißt:

»Wir waren noch nicht zwei Tage auf der See, als ein stark gerüsteter Korsar Jagd auf uns machte. Da wir uns im Segeln zu langsam fanden, legten wir eine notgedrungene Tapferkeit an, und während des Handgemenges enterte ich. In dem Augenblick machten sie sich von unserem Schiffe los und so ward ich allein ihr Gefangener. Sie haben mich wie barmherzige Diebe behandelt, aber sie wußten wohl, was sie taten. Ich muß einen guten Streich für sie tun ... Rosenkranz und Güldenstern setzen ihre Reise nach England fort. Über sie hab' ich dir viel zu sagen. Lebe wohl.

Der, den Du als den Deinigen kennst ...«

Um Lückenbüßer zu haben, hat man die Quellen herbeigezogen. Sie gucken hervor, wie aus der Puppe das Stroh; aber eine gute Art, Risse zu verstopfen, ist das nicht. Es wird dann dem König während eines Gespräches mit Laertes ein anderer Brief Hamlets übergeben. »Großmächtigster, wisset, daß ich nackt an Euer Reich ausgesetzt bin. Morgen werde ich um Erlaubnis bitten, vor Euer königliches Auge zu treten, und dann werde ich, wenn ich Euch erst um Vergünstigung dazu ersucht habe, die Veranlassung meiner plötzlichen und wunderbaren Rückkehr berichten.« Diese Rückkehr müßte ganz anders auf den König wirken, als es im überlieferten Texte der Fall ist. Statt dessen kommt eine unnatürliche Szene zwischen Laertes und dem König. Mit Weitschweifigkeit wird von Lamord gesprochen, einem Normannen und guten Reiter. Der Rebell Laertes wird nun in neuer Inkonsequenz zum kleinen, erbärmlichen Giftmischer. Er selbst hat die Idee, seinen Degen zu salben, dieser liebenswürdige, korrekte Sohn und Kavalier, dem sein Vater die gute Lehre gab:

Gib dem Gedanken, den du hegst, nicht Zunge,
noch einem ungebührlichen die Tat!

Ein Scharlatan hat ihm ein Mittel verkauft, »so tödlich, taucht man nur ein Messer drein, wo's Blut zieht, kann kein noch so köstlich Pflaster, von allen Kräutern unterm Mond mit Kraft gesegnet, das Geschöpf vom Tode retten, das nur damit geritzt ist«. Alles ist doppelt und dreifach gesagt: »wo's Blut zieht«, »nur damit geritzt«. Und nachdem er die Spitze seines Degens damit gesalbt hat, will er sie nochmals netzen, so daß sie, »streif ich ihn nur obenhin, den Tod ihm bringt«. Unbeholfene, durcheinandergeratene Ausdrucksweise!

Erscheint nun Hamlet vor dem König? Nein. Statt dessen begegnen wir ihm zunächst auf einem Kirchhof. Wer fühlt nicht, daß vor dieser Szene eine weite Lücke ist? Der Held des Stückes war ausgeschaltet, durch nebensächliche Dinge verdrängt. Kein Wunder: man hat ihm die Hauptaktion, seinen Aufstand, aus der Hand genommen, diesen Aufstand, auf den die rudimentäre Szene auf der Ebene in Dänemark und gewisse Äußerungen Hamlets hindeuten. So, wenn er mit Bezug auf seine Verschickung sagt:

Sei es drum.
Der Spaß ist, wenn mit seinem eignen Pulver
der Feuerwerker auffliegt. Und mich trügt
die Rechnung, wenn ich nicht ein Klafter tiefer
als ihre Minen grab' und sprenge sie
bis an den Mond.

Und so fernerhin in der Kernstelle des Briefes an Horatio, den ich unvollkommen zitiert habe: »Begib dich zu mir in solcher Eile, als du den Tod fliehen würdest! Ich habe dir Worte ins Ohr zu sagen, die dich stumm machen werden. Doch sind sie viel zu leicht für das Gewicht der Sache. Diese guten Leute werden dich hinbringen, wo ich bin.« Hinter diesen Worten steckt die Entdeckung des Uriasbriefes, der Tod Rosenkranz' und Güldensterns, die Landung mit dem Schiff und Schiffsvolk, das für Hamlet gewonnen ist – gute Dänen, Matrosen, bringen den Brief –, und die Verbindung mit Fortinbras zu dem Zwecke, den König zu stürzen und an seine Stelle zu treten.

Ohne andere kleinere Änderungen, die ich gemacht habe, zunächst zu verteidigen, will ich mich nun der großen Abbröckelung und Verwitterung zuwenden, die der »Ur-Hamlet« erlitten hat. Es ist alles das, was mit dem Geschützgießen, Schiffsbauen, Kriegsgerätkaufen, was mit dem geharnischten Geist, der Gesandtschaft des Cornelius und Voltimand, dem verflossenen Zweikampf des alten Hamlet und des Fortinbras und dem für Hamlet gewonnenen Landgebiet, dem jungen Fortinbras und seinem Kriegszug gegen Dänemark zusammenhängt. Alles dieses wurde sehr bald den Direktoren, den Schauspielern und dem Publikum nebensächlich und kam deshalb in Vergessenheit. Die Direktoren kannten ihr Publikum und wußten, daß es wenig Geduld hatte, diese Haupt- und Staatsaktion anzuhören. Man konnte ihm das vollkommene Werk nicht zumuten, wohl aber jede Art von Verstümmelung. Und was die Schauspieler anbelangt, so war ihr Interesse bei Hamlet und bei Ophelia, bei dem Brudermörder und seiner Geliebten, bei Laertes und seinem Vater Polonius. Der alte und junge Fortinbras aber, samt Cornelius und Voltimand, reizten sie nicht. Das auf diese Weise Vergessene und Verlorengegangene habe ich in meiner Bearbeitung einigermaßen wieder vor Augen zu stellen versucht, ohne einen anderen Anspruch als den, auf das ehemalige Ganze hinzuweisen.

Kleine, nicht unwichtige Änderungen habe ich in der Kirchhofszene vorgenommen. Nicht Laertes springt zuerst ins Grab, sondern Hamlet. Er erkennt Ophelia, erkennt, daß sie tot ist, und in der ersten Verzweiflung springt er ins Grab, ganz ähnlich wie Romeo in die Gruft der Julia eindringt. Dabei bricht er in Selbstanklagen aus und wünscht in gleicher Erde mit der Geliebten begraben zu werden.

O dreifach Wehe
treff zehnmal dreifach das verfluchte Haupt,
des Untat deiner sinnigen Vernunft
dich hat beraubt! – Laßt noch die Erde weg,
bis ich sie nochmals in die Arme fasse!
Springt in das Grab
Nun häuft den Staub auf Lebende und Tote ...

Eine solche Raserei ist dem zutiefst getroffenen in dieser Sache schuldbeladenen Hamlet zuzutrauen, dem Geliebten am Grabe der Geliebten, nicht aber dem wohlerzogenen, gesetzten Hofmann, der seine Schwester begräbt. Erst der Anblick Hamlets, der seinen Vater umgebracht und der auch die indirekte Ursache vom Tode Opheliens ist, bringt Laertes in Wallung. »Wer ist der, des Gram so voll Emphase tönt?« Die Antwort aus dem Grabe lautet: »Dies bin ich, Hamlet, der Däne!« Und mit den Worten: »Dem Teufel deine Seele!« stürzt ihm Laertes an den Hals. Dies scheint mir der gegebene Hergang, und die erste Quarto, die allerdings auch Laertes zuerst ins Grab springen läßt, gibt doch die Worte: »What's he, that conjures so?« an Laertes – der hier Leartes heißt –, was auf die rechte Fassung hindeutet. Laertes fällt Hamlet an, und so nur hat es einen Sinn, wenn Hamlet zu ihm sagt:

Hört doch, Herr!
Was ist der Grund, daß Ihr mir so begegnet?

Im überlieferten Text aber steht überdies folgender Unsinn, der Hamlet zugeschoben ist:

Wer ist der, des Gram
so voll Emphase tönt? des Spruch des Wehes
der Sterne Lauf beschwört und macht sie stillstehn,
wie schreckbefangene Hörer? – Dies bin ich,
Hamlet, der Däne!

Er ist es aber doch nicht, sondern Laertes ist es in dieser verstümmelten Fassung. Überdies ist eine solche Selbstbestätigung vollkommen ungereimt.

Muß ich mich entschuldigen, wenn ich den Anfang der zweiten Szene im sogenannten fünften Aufzug für unecht erkläre oder aber für arg verschlammt? Sie enthält die Fälschung des Uriasbriefes durch Hamlet, der die Namen Rosenkranz und Güldenstern für den eigenen Namen einsetzt. Diese Fälschung und ihr Drum und Dran wird weitschweifig erzählt, würde aber Rosenkranz und Güldenstern wohl kaum ans Messer liefern, da sie ja, wirklich nach England gelangt, ohne Hamlet ankämen und also den Brief kaum übermitteln würden. Überdies wird der ganze Vorfall von Horatio im Anblick des sterbenden Hamlet abgeleugnet. Ein englischer Gesandter meldet hier, Hamlets Befehl sei ausgeführt und Rosenkranz und Güldenstern seien tot. Er heftet noch die alberne Frage daran: »Wo wird uns Dank zuteil?« – »Aus Hamlets Munde nicht«, antwortet Horatio, »hätt' er dazu die Lebensregung auch: er gab zu ihrem Tode nie Befehl.« Dies ist nicht sophistisch gemeint, sondern es drückt aus, Hamlet habe keinen Anteil am Tode des Rosenkranz und Güldenstern, man dürfe ihm heimtückische Methoden nach der Art des Claudius nicht zutrauen.

Zu den Flüchtigkeiten des überlieferten Hamlet-Textes gehört es auch, wenn der junge Fortinbras bald der Sohn, bald der Neffe des alten ist. Aber es gibt unzählige andere Flüchtigkeiten, die im einzelnen aufzuführen den Rahmen dieser kurzen Darlegung überschreiten würde. Dabei sind die Namensverstellungen das Hauptübel. Zum Beispiel gleich in der ersten Szene. Francisco hat die Wache. Bernardo kommt und löst ihn ab. Gleich darauf erscheinen Horatio und Marcellus. Horatio fragt Bernardo: »Nun, ist das Ding heut wiederum erschienen?« – »Ich habe nichts gesehen«, antwortet Bernardo. Das konnte er natürlich auch nicht, da er im selben Augenblick die Wache erst angetreten hat. Francisco mußte gefragt werden.

Unter den Gestalten im »Hamlet« hat Horatio durch Zeit und Umstände die größte Einbuße erlitten. Von ihm ist beinahe nichts übriggeblieben. Obgleich diese Gestalt sicherlich eine der wichtigsten war, habe ich sie in meinem Wiederherstellungsversuch diesmal nicht hinreichend berücksichtigt. Ich hoffe das in einer späteren Bearbeitung nachzuholen. Die erste Quarto gibt dafür einen Fingerzeig. Da ist eine Szene zu finden zwischen der Königin und Horatio, in welcher der Busenfreund Hamlets ihr eröffnet, welcher Niedertracht der Prinz bei seiner Reise nach England zum Opfer gefallen sein würde, wenn nicht Umstände ihn gerettet hätten. Sie erfährt, daß Hamlet sich in der Nähe der Stadt aufhalte. Sie rät, er möge mit seiner Gegenwart vor dem König kargen und seine Pläne verfolgen. Die Siegelgeschichte wird erwähnt, und so weiter. Horatio empfiehlt der Königin, den König zu beobachten, und alles in allem wird hierdurch erwiesen, daß eine Verschwörung gegen den König besteht, in die auch Horatio eingeweiht ist und die von der Königin gefördert wird.

Damit sind wir nun bei der Königin, die im überlieferten Text leider auch zum größten Teil ihrer Sprache und ihrer Aktivität beraubt ist. Die große Szene im Schlafzimmer mit Hamlet selbst läßt nur Vermutungen zu über die Frage, inwieweit sie in die Schurkerei des Claudius eingeweiht ist oder nicht. Sie war dem König Hamlet untreu, das verrät der Geist. Wo bleiben ihre Gewissensbisse, ihre Gemütsschwankungen, ihre Verdächte, ihre Erwägungen, die sie schließlich den neuen Gatten verabscheuen lassen und sie auf die Seite seiner Feinde bringen?

Unmöglich ist in der überlieferten Hamlet-Fassung das Liebesverhältnis Hamlets und Opheliens geführt. Einmal werden die beiden künstlich in der Galerie zusammengebracht, das andere Mal in der Schauspielszene, wo Hamlets Zuneigung, in närrische Brutalitäten verkleidet, offenbar wird. Von Opheliens Wahnsinn erfährt Hamlet nichts. Er sieht das Mädchen dann nur noch im Sarge und im Grabe, in das er springt, um seine Liebe in die leere Luft hinauszuschreien. Ich habe versucht, im Anschluß an Hamlets Aufstand auch hier etwas von der Bestimmung anzudeuten, die Opheliens Wahnsinn in der Ökonomie des Stückes haben kann, und diesen Wahnsinn seine tragische Wirkung auf Hamlet selbst auswirken zu lassen. Wer sich zu einer freieren Bearbeitung, die gerade dadurch dem Originale näherkommen könnte als jede andere, entschlösse, dürfte getrost eine Romeo-und-Julia-Balkonszene zwischen Hamlet und Ophelia einschalten. Ein solcher nächtlicher Besuch Hamlets bei der Geliebten hat höchstwahrscheinlich stattgefunden. Anzeichen dafür liegen in den Äußerungen, die Ophelia im Wahnsinn tut, wovon Horatio sagt:

Doch leitet ihre ungestalte Art
die Hörenden auf Schlüsse. Man errät,
man stückt zusammen ihrer Worte Sinn,
so daß man wahrlich denken muß, man könnte
zwar nichts gewiß, jedoch viel Arges denken.

Und die Königin sagt:

Von so betörter Furcht ist Schuld erfüllt,
daß, sich verbergend, sie sich selbst enthüllt.

Zu den Wahnsinnsäußerungen der Ophelia gehört diese:

Wie erkenn' ich dein Treulieb
vor den andern nun?
An dem Muschelhut und Stab
und den Sandelschuhn.

Hamlet, ihr Treulieb, ist fort, in die Welt gestoßen, zum Pilgrim geworden. Und weiter:

Bitte laßt uns darüber nicht sprechen. Aber wenn sie
Euch fragen, was es bedeutet, so sagt nur:
Auf morgen ist Sankt Valentins Tag,
wohl an der Zeit noch früh.
Und ich, 'ne Maid am Fensterschlag,
will sein Eu'r Valentin.
Er war bereit, tät an sein Kleid,
tät auf die Kammertür.
Ließ ein die Maid, die als 'ne Maid
ging nimmermehr herfür.

Und fernerhin:

Bei unsrer Frau und Sankt Kathrin!
O pfui! Was soll das sein?
Ein junger Mann tut's, wenn er kann,
beim Himmel, 's ist nicht fein.
Sie sprach: Eh Ihr gescherzt mit mir,
gelobtet Ihr, mich zu frein.

Er antwortet:

Ich bräch's auch nicht beim Sonnenlicht!
wärst du nicht kommen herein.

Der berühmte Monolog »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage« steht bei Schlegel in der ersten Szene des sogenannten dritten Aufzugs. Die zweite Quarto bringt ihn an der gleichen Stelle, die erste Quarto dagegen viel früher, allerdings im Zusammenhang mit dem gleichen Vorgang. Dagegen erscheint er bei mir zu Beginn des sogenannten fünften Aktes. Die Berechtigung dazu möchte ich in einem kurzen Schlußwort darlegen.

In der großen Szene des Aufstandes, als Hamlet an der Spitze von Bewaffneten in die Gemächer des Königs tritt, gelingt es der Königin und dem König, seinen Willen zu brechen. Die Königin versichert ihrem Sohn, Claudius sei nicht schuld an König Hamlets Tod. Claudius selbst fragt ihn, ob er Freund und Feind verderben wolle, wenn er von seines Vaters Tod das Sichre wissen wolle. Das verneint Hamlet.

Daß ich an Eures Vaters Tode schuldlos
und am empfindlichsten dadurch gekränkt,
soll Eurem Urteil offen dar sich legen,
wie Tageslicht dem Aug'!

erklärt dann Claudius dem Rasenden. Ihm wird nun die von Irrsinn umnachtete Ophelia vorgeführt. Diesem Eindruck ist er nicht gewachsen. Er ist ihm ebensowenig gewachsen wie Ophelia der Tatsache, daß ihr Geliebter der Mörder ihres Vaters geworden ist. Der Zustand Opheliens fällt ja doch ihm zur Last, und nicht nur die Tragik der Tatsachen, sondern auch der geistige Tod Opheliens trennt ihn auf ewig von ihr. Als nun der König sagt:

Ich muß mit Eurem Grame, Hamlet, sprechen,
versagt mir nicht mein Recht! Entfernt Euch nur,
wählt die Verständigsten von Euren Freunden
und laßt sie richten zwischen Euch und mir!
Wenn sie zunächst uns oder mittelbar
dabei betroffen finden, wollen wir
Reich, Krone, Leben, was nur unser heißt,
Euch zur Vergütung geben ...

tritt bei Hamlet das ein, was er im Monolog mit den Worten ausdrückt:

So macht Gewissen Feige aus uns allen.
Der angebornen Farbe der Entschließung
wird des Gedankens Blässe angekränkelt,
und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck,
durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
verlieren so der Handlung Namen.

Geradezu ausgedrückt: Hamlet gerät wieder in Zweifel darüber, ob der König wirklich seines Vaters Mörder sei oder nicht. Er hat möglicherweise Grund, andere Schurkereien anzunehmen, aber Beweise für die Schuld des Königs am Mord des Vaters besitzt er immer noch nicht. Der Anblick Opheliens hat ihn gebrochen, und sein Gewissen hat ihm das Racheschwert aus der Hand genommen. Aber Claudius, das ist sein Verhängnis, merkt nicht, daß Hamlet nun gebrochen, daß er unschädlich geworden ist. Er sinnt, was Hamlet fühlt, auf seinen schnellen Tod um jeden Preis. Die Melancholie Hamlets nimmt zu. Er sucht Kirchhöfe auf, und hier erlebt er das Begräbnis Opheliens, in deren Grab er springt, schreiend, man möge Erde auf ihn schütten und ihn mit der Geliebten begraben. Danach wieder im Schloß, überall die Nähe des Verhängnisses, die Nähe des Grabes spürend, fragt er sich, ob es nicht besser sei, die Frist selbst abzukürzen, anstatt auf den Dolch des Meuchlers zu warten. Und nun drückt die ganze ungeheure Last seines Erlebnisses auf diesen Monolog:

Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.
Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern
des wütenden Geschicks erdulden oder,
sich waffnend gegen eine See von Plagen,
durch Widerstand sie enden. Sterben – schlafen –
nichts weiter! – und zu wissen, daß ein Schlaf
das Herzweh und die tausend Stöße endet,
die unsres Fleisches Erbteil – 's ist ein Ziel,
aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen –
schlafen! vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt's ...

In einem ehrlichen Kampf ist Hamlet jetzt unterlegen. Er ist gebrochen. Allein Claudius, wie gesagt, merkt es nicht. Und indem er nun, sinnlos vor Angst und Wut, seinen Tod unvorsichtig betreibt, fällt er in seine eigene Schlinge.

Und so wird Hamlet am Schluß doch noch der Rächer seines Vaters, in Konsequenz seines folgerichtigen Tuns und seiner Bestimmung, wobei er allerdings den Zusammenbruch seines Hauses nicht aufhalten kann, eine Tatsache, worin sich das Wesen des Tragischen offenbart.

Von Hamlets gesamter Dialektik und ihrem inneren Sinn ist zu sagen, was Macbeth von der seinen sagt:

Es kühlt das Wort des Handelns heiße Lohe.

Den unsterblichen Torso des überlieferten Hamlet-Textes so zu ergänzen, daß die Tragödie in ihrer ursprünglichen Vollkommenheit wiederum sichtbar wird, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Man glaube nicht, daß ich mich eines solchen Unterfangens schuldig gemacht habe! Die ergänzenden Stellen erheben keinen anderen Anspruch, als dem Werke etwas von seiner Symmetrie wiederzugeben und so seine wahre Gestalt ahnen zu lassen. Übrigens habe ich auch die Übersetzung, an die wir gewöhnt sind, unangetastet gelassen. Sie strotzt von sprachlichen Monstrositäten und Unsinnigkeiten. Diese zu entfernen und aufzulichten muß der nächste Schritt im Sinne einer Rettung des »Hamlet« sein.

Was die Aufführung meiner Hamlet-Bearbeitung angeht, so mußte ich diesmal den so beliebten Rotstift feiern lassen, da es sich ja gerade darum handelt, das zum größten Teil von ihm Vernichtete, wenn auch nur ahnungsweise, wieder aufleben zu lassen.

1927.


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